Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 9

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2.7 Ewiges Wandern – Ahasverus

Die Novelle Den gamle Rabbin wird strukturiert durch Aus- und Einschlussprozesse einerseits, erzählt anhand der drei Haushalte, in denen Benjamine und Philip Moses Zuflucht suchen, und durch das Motiv der Mobilität und Rastlosigkeit andererseits, wenn die beiden Figuren sich von einem Haus zum nächsten und damit jeweils in eine ungewisse Zukunft aufmachen. Damit schreiben sich die Figuren Benjamine und Philip Moses in einen weiteren Topos ein: den des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. 1602 tauchte dieser erstmals in der pseudonym verfassten Ahasveruslegende Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden/mit Namen Ahaßverus auf (vgl. Körte 2006: 43). Die Figur steht, obwohl selbst eben gerade kein Heiliger, durch ihren legendenhaften Charakter in einem heilsgeschichtlichen, christlichen Kontext (vgl. Körte 2000: 11 [Fußnote 1]; Rosenfeld 1982: 1–2, 15–19).1 Dabei ist Ahasverus nicht als Individuum gestaltet, sondern fungiert als „Protagonist einer L.[egende] v.a. als exemplarische Projektionsfläche bestimmter Ideen“ (Burdorf/Fasbender/Moennighoff/Schweikle, G./Schweikle, I. 2007: 425; vgl hierzu Körte 2006: 44–46). Als geistiges Kind der Reformation verbreitete er sich in den folgenden zwei Jahrhunderten soweit in der Literatur Europas, dass er schließlich zur literarischen Topos wurde. André Jolles bezeichnet Ahasverus als einen „unheiligen Gegenfüßler“ (1968: 52) zu den Heiligenfiguren der christlichen Legenden. Dennoch trägt auch er zum Heilsgeschehen bei, ist also selbst Legende, wenn auch eine „Antilegende“ (Jolles 1968: 51). Ahasverus soll ein Schuhmacher in Jerusalem zur Zeit Jesu gewesen sein, der dem Heiland auf seinem Weg nach Golgatha die Rast vor seinem Haus verweigert hat. Zur Strafe soll er dazu verdammt worden sein, bis in alle Ewigkeit auf Erden umherzuwandern, ohne sterben zu können oder jemals zur Ruhe zu kommen (vgl. Körte 2000: 27–48; für den dänischen Kontext vgl. Dal 1965; Edelmann 1965). Gesehen zu werden ist sein einziger Zweck. „Kein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Mann wie andere Sünder, wie sogar Judas selbst, für sein Unrecht in der Hölle hätte büßen müssen; Wunder ist, daß er nicht stirbt, daß er ewig lebend, allen sichtbar umherwandelt“ (Jolles 1968: 52). Auf diesen Topos spielt die Novelle nicht nur mit ihrer Struktur und der Rastlosigkeit ihrer Figuren an. Auch die Figurenrede verweist auf Ahasverus, wenn Philip Moses, als er das Haus seines zweiten Sohnes Isaak verlässt, zu Benjamine sagt: „Lad mig gaae, mit Barn! og græd ikke fordi jeg vandrer saa ene! jeg vil heller gaae huusvild paa Jorden, end laane Tag i Forargelsens Bolig [Lass mich gehen, mein Kind! und weine nicht, weil ich so einsam wandere! ich will lieber heimatlos auf Erden wandern, als Schutz in der Wohnstätte des Ärgernisses zu suchen]“ und Benjamine ihm antwortet: „Nu vel, saa bliver jeg hos dig [Nun gut, dann bleibe ich bei dir]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 108). Benjamine und ihr Großvater sind ebenfalls rastlos, heimatlos, selbst innerhalb ihrer eigenen Familie und Gemeinde sind sie Fremde und Nicht-Zugehörige. Für alle sind sie sichtbar: für Christ*innen und Jüd*innen, für die Figuren und die Leser*innen. Erst mit der Hinwendung zum Christentum werden beide jüdischen Figuren von ihrer ewigen erzwungenen Wanderschaft erlöst. Damit deutet sich ein weiteres Mal die Nähe zu Ahasverus an, denn in der Literatur ist er stets dadurch gekennzeichnet, dass entweder „der Ewige Jude […] keine Entwicklung hat“ (Körte 2006: 47) oder die einzig mögliche Entwicklung ihn direkt ins Christentum führt. Philip Moses repräsentiert durch seine Sprache, seinen greisen Körper und schließlich seinen todesähnlichen Krankheitszustand eben jene Entwicklungslosigkeit, die auch Ahasverus verkörpert. In seinem Bann ist Benjamine ebenfalls dem Schicksal des Ahasverus ausgeliefert. Für Philip Moses fällt die Entwicklung zum Christentum mit dem Moment des Todes zusammen, seine Geschichte ist hier also auserzählt. In der Figur der Benjamine findet ebenfalls allein durch ihre Bekehrung zum Christentum eine Entwicklung statt, denn in diesem Schritt kann Benjamine sich aus der starren Perspektivlosigkeit, an der ihr Großvater festhält, lösen. Sie erlebt also als junge Frau ihre Erlösung noch zu Lebzeiten. Doch damit ist auch ihre Geschichte als Jüdin auserzählt und die Novelle endet.

Der ‚ewige Jude‘ Ahasverus wird IngemannIngemann, Bernhard Severin noch einmal beschäftigen. 1833 erscheint sein umfangreicher (immerhin 237 Seiten umfassender) Gedichtzyklus Blade af Jerusalems Skomagers Lommebog [Seiten aus dem Notizbuch des Schuhmachers von Jerusalem] als eine Art lyrisches Reisetagebuch des ‚ewigen Juden‘. Als Unzugehöriger, der durch alle Länder und die Jahrhunderte wandert, wird er in der Rezeption des Zyklus als Verkörperung des autoreigenen „Fremmedfølelsen [Fremdheitsgefühls]“ (Akhøj Nielsen 2001–2017) in seiner Gegenwart begriffen. „Et karakteristisk udtryk for denne stemning […] er hans identifikation med Ahasverus i digtkredsen [Ein charakteristischer Ausdruck dieser Stimmung ist seine Identifikation mit Ahasverus im Gedichtzyklus]“ (Minke 2008). Wie Ahasverus als Identifikationsfigur nicht nur für Ingemann, sondern für den suchenden Dichter generell literarisch fruchtbar gemacht werden konnte, soll im folgenden Exkurs anhand eines weiteren Textes von AndersenAndersen, Hans Christian dargestellt werden (vgl. auch Thing 2001: 123–162).

2.8 Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829)

Nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung von IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle erschien Hans Christian AndersensAndersen, Hans Christian (1986) Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [Fußreise vom Holmenkanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829], kurz Fodreise. Der junge Dichter, aus dessen Perspektive der Roman erzählt ist, begibt sich auf einer „Fußreise“ auf die Suche nach literarischem Stoff. Voller Witz und Ironie verwebt Andersen eine schier unüberschaubare Zahl literarischer Motive zu einem Spaziergang durch die Silvesternacht 1828 auf 1829.1 Dabei promeniert der Erzähler nicht nur vom Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager – was ein durchaus überschaubarer und unspektakulärer Fußmarsch von nur knapp 3km Länge ist (vgl. Kramer 2013: 39) –, sondern er spaziert vielmehr durch die gesamte „deutsche Literatur um 1800, sei sie stürmerisch und drängerisch, klassisch oder romantisch – oder trivial“ (Øhrgaard 2010: 92).2 Als eine von vielen bekannten Figuren der Literaturgeschichte begegnet dem Erzähler auf seinem Spaziergang durch eine Silvesternacht auch Ahasverus. Dieser ist mit seinen Hundertmeilenstiefeln unterwegs durch die Welt und überlässt dem Erzähler für einen kleinen Kurztrip durch Europa seine Wunderschuhe. In der Begegnung mit Ahasverus und dessen Schuhwerk lässt sich als literarisches Vorbild unverhüllt Adelbert von ChamissosChamisso, Adelbert Peter Schlehmils wundersame Geschichte [1814] (2010) erkennen, denn, so erzählt Ahasverus seinem jungen Zuhörer, als er die alten Stiefel einmal zu Reparatur gegeben habe, „blev de forbyttede og før jeg mærkede Feiltagelsen var de allerede solgt til en Peter Schlemil [sic!], hvis ‚vundersame Geschichte‘ Chamisso har meddeelt Læseverdenen [wurden sie vertauscht, und ehe ich den Fehler bemerkte, waren sie bereits an Peter Schlehmil verkauft, dessen ‚wundersame Geschichte‘ Chamisso der Lesewelt mitgeteilt hat]“ (Andersen 1986: 69). Erst kürzlich habe er sie zurückerhalten. Damit zeigt sich die Verwandtschaft des Ahasverus auch mit phantastischen Motiven. Die Schuhe, die, ob nun sieben oder 100 Meilen, jedenfalls eine enorme Stecke mit einem einzigen Schritt überbrücken können, sind beispielsweise auch in Wilhelm HauffsHauff, Wilhelm Märchen Die Geschichte vom kleinen Muck [1826] (2011) ein Motiv.3 GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Mephisto nutzt einige Jahre später in Faust II [1832] (2008) ebenfalls die magischen Stiefel zur schnellen Fortbewegung. So fügt die Ahasverus-Episode in Andersens Fodreise dem ohnehin schon legendären Motiv des ewig umherwandernden Juden durch die Hundertmeilenstiefel noch eine zusätzliche magische Komponente hinzu, die außerdem eine Verbindung zum Teufel andeutet und daher auch die Gefahr von Fluch und Verdammnis in sich birgt. Der junge Dichter seufzt, dass der literarische Stoff ihm ausgehe und freut sich über die unverhoffte Begegnung mit Ahasverus und dessen reichen Vorrat an Erzählungen, denn

Satan, som nu er saadan en allerkjæreste person i et Eventyr, har været meer end nok i Verden, selv hans Papirer ere udkomne. Faust har baade GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, LessingLessing, Gotthold Ephraim, Mahler Müller og Klinger havt Fingre paa, saa jeg veed ingen heldigere Person end Dem. Ak! hvo der dog havde Deres Erfaring […].“ (AndersenAndersen, Hans Christian 1986: 68)

Satan, der nun so eine allerliebste Person in einem Märchen ist, war mehr als genug in der Welt, selbst seine Schriften sind erschienen: GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, LessingLessing, Gotthold Ephraim, Mahler Müller und Klinger hatten alle ihre Finger am Faust, ich kenne also keine besser geeignete Person als Euch. Ach! wer doch Eure Erfahrung hätte.“

Ahasverus jedoch hat keine Freude an seinem Erfahrungsschatz, denn er hat keine Aussicht auf Erlösung, und somit hat seine Rastlosigkeit auch kein Ziel. Er muss, so Körte, „wandern, muss passiv seine Mission erfüllen und ist durch sein wahllos bewahrendes Gedächtnis allwissend und daher ohne Neugier“ (Körte 2006: 45). Nun jedoch, in AndersensAndersen, Hans Christian phantastischem Roman über die literarische Suche eines jungen Dichters, bilden der alte Ahasverus und der junge Dichter für einen Moment eine Gemeinschaft der Ruhelosen.4 Ahasverus, der so viel schon gesehen hat, wird für den Moment zum literarischen Vorbild, zur Identifikationsfigur des suchenden Poeten und stellt dabei einen „Stimulus im Sinne einer (die Vorstellung von Entwicklung) beunruhigenden und gleichzeitig anregenden Instanz“ dar (Körte 2000: 321). Seine Stiefel will der junge Dichter leihen, „blot een Time vilde jeg laane dem for i denne med store Skridt at vandre gjennem Verden og samle Stof til det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [nur eine Stunde wollte ich sie leihen, um in ihnen mit großen Schritten durch die Welt zu wandern und Stoff für das interessanteste Kapitel in meiner ganzen Fußreise zu sammeln]“ (Andersen 1986: 69). Und da nicht nur Ahasverus für den Dichter interessant ist, sondern auch umgekehrt der Dichter für Ahasverus, gesteht dieser: „Deres Person interesserer mig [Eure Person interessiert mich]“ und leiht ihm für eine halbe Stunde seine Stiefel. Dafür fordert er jedoch „Deres Skygge som Pandt [Euren Schatten zum Pfand].“ Zwar fährt es dem Dichter „iiskoldt gjennem Marv og Been“ [eiskalt durch Mark und Bein]“, doch geht er den Handel ein, denn „hvad gjør ikke en Forfatter for sin Læsers Skyld [was tut ein Autor nicht alles für seine Leser]“ (Andersen 1986: 70). Obwohl Ahasverus also eigentlich sehr entgegenkommend ist und lediglich sicherstellen will, dass er seine Stiefel nicht noch einmal verliert, wird er nicht etwa mit Peter Schlemihl assoziiert, sondern vielmehr mit dem Teufel, dem Peter Schlemihl einst seinen Schatten verkauft hatte. Als „Antipode zu Christus“ (Körte 2006: 46) schillert in der Figur des Ahasverus das Böse, wenngleich Andersens ‚ewiger Jude‘ nichts Böses an sich hat.

Zwar tritt die Figur des Ahasverus nur in einem Kapitel des Romans auf, stellt eine Begegnung unter vielen dar, doch soll dieses Kapitel „det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [das interessanteste Kapitel meiner ganzen Fußreise]“ sein (AndersenAndersen, Hans Christian 1986: 69). Die Figur des Ahasverus eröffnet literarische Assoziationsräume, welche die Figur des Dichters durchschreitet – was ihm deutlich besser gelingt als seine halbstündige Europareise, während der er jeweils nur ein Bein aus Amager wegbewegt und mit dem anderen stets ungünstig irgendwo auftritt. So glückt zwar weder die Identifikation des Dichters mit Ahasverus noch mit „min store Forgjænger i Fodvandring [meinem großen Vorgänger im Wandern zu Fuße]“ (Andersen 1986: 70) Peter Schlemihl. Geglückt ist jedoch ein weiteres komisches Kapitel in einem Büchlein über die Bemühungen des Dichters auf der Suche nach neuem literarischem Stoff. Der Dichter nimmt die Inspiration in der Länge eines halben Kapitels auf und zieht weiter, zur nächsten Begegnung. Der Jude hingegen setzt seine ereignislose Wanderung fort. Auf die Frage des Dichters, ob sie einander wohl wiedersehen werden, antwortet Ahasverus: „[V]i mødes nok, om ikke før, saa naar De gjør den sidste store Reise med Dødens Extra-Post. Hver nat møde vi hinanden, thi hans Heste er raskere tilbeens end jeg [Wir treffen uns noch, wenn nicht früher, so doch wenn Sie die letzte große Reise mit des Todes Extra-Post machen. Jede Nacht treffen wir einander, denn seine Pferde sind schneller zu Fuß als ich]“ (Andersen 1986: 71). Der untote Wanderer, der selbst keine Aussicht auf den Tod hat, wird zum Vorboten des Todes, dem der Dichter im 13. und (fast) letzten Kapitel5 selbst begegnet, in dessen Wagen er jedoch einstweilen noch nicht einsteigt.

Mona Körte stellt die Entwicklungslosigkeit der Figur heraus, wenn sie schreibt, Ahasverus „scheint Raum nur zu gewähren für ein unendliches Durchspielen einer endlichen Variation von Vergehen, Fluch und Wanderschaft.“ Daraus sei auch der Kunstgriff zu erklären, „dass Ahasver sich kurz nach Beginn seiner literarischen Karriere selbst mitunter als mehr oder weniger gelungenes Geschöpf seiner Dichter thematisiert“ (Körte 2006: 49). AndersensAndersen, Hans Christian Roman Fodreise steht exemplarisch für diesen Kunstgriff. 1847 taucht die Figur erneut in Andersens Dichtung auf, nämlich in seinem umfangreichen (und zunächst auf Deutsch erschienenen) Versdrama Ahasverus. Die Leichtigkeit und der Humor der ersten Begegnung mit der Figur des Ahasverus sind nun zwar verschwunden, aber Johan de Mylius versteht auch diesen Ahasverus als eine Allegorie auf den Dichter (vgl. de Mylius 2005a: 722). Doch ist dies nicht die einzig mögliche Lesart der Figur. Stefanie von Schnurbein zufolge stellt Andersen in seinem Versdrama „an der Figur des ‚wandernden Juden‘ eine allegorisierte Darstellung der Wahrheit des christlichen Glaubens auf ihrem Weg durch die Geschichte der Menschheit“ dar (Schnurbein 2007: 139). Dieser Wahrheit beugt sich schließlich auch IngemannsIngemann, Bernhard Severin Rabbiner Philip Moses, und so ist auch seine Enkelin vom Fluch des Ahasverus befreit.

2.9 Jüdische Figuren als Türöffner und Alleskönner

Mit diesem Arsenal an Figuren, Topoi, Assoziationen und literarischen Querverbindungen haben jüdische Figuren die dänische Erzählliteratur betreten: eine ‚schöne Jüdin‘ und ein ‚edler Jude‘, dazu ein christlicher Retter und künstlerischer Schöpfer; Ahasverus als literarischer Alleskönner und Allesverbinder, als unerschöpflicher Ideengeber für die Gestaltung literarischer Judenfiguren und als Bindeglied zwischen christlichem Heilsgeschehen und dem sich neu erfindenden Dichter als kunstreligiösem Erlöser; literarische Juden und Jüdinnen als Türöffner für unwahrscheinliche, bisweilen märchenhafte Erzählmöglichkeiten; jüdische Gegenfiguren zur Kontrastierung der „guten“ mit den „schlechten“ Juden aber auch christliche Gegenfiguren zur Kontrastierung des „wahren“ mit dem „falschen“ Christentum; nicht zuletzt ist die Verbindung zwischen Geschlecht und Religion augenfällig in diesem Fadenspiel aus Aktivität und Passivität, Sehen und Gesehenwerden, Erlösen und Erlöstwerden, Vergehen und Werden, Alt und Neu.

In diesem ersten, einleitenden Analysekapitel habe ich gezeigt, auf welche Weise literarische Texte untereinander und mit anderen Kunstformen über Epochen, Genres und Landesgrenzen hinweg in Kontakt treten und welche Vielfalt an mitunter unerwarteten Verknüpfungen und Querverbindungen die jüdischen Figuren hierbei ermöglichen. Anhand von IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin wurden, ergänzt durch den Vergleich mit zwei sehr unterschiedlichen Texten von AndersenAndersen, Hans Christian, literarische Topoi und Motive vorgestellt, die in den untersuchten Texten der folgenden Kapitel immer wieder aufgenommen, variiert, modifiziert und teilweise gebrochen werden. Unwahrscheinliches und Phantastisches wird in den Romanen und Novellen erzählt, immer wieder geht es um die Suche nach Gott und der Wahrheit, aber auch um eine nationale Selbstfindung, um eine gesellschaftspolitische Positionierung, um Geschlechterbilder und nicht zuletzt immer wieder um die Kunst selbst. Wenngleich Ingemanns jüdische Figuren nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern sich bereits in eine literarische Tradition einschreiben, legt Den gamle Rabbin doch eine Grundlage für die Vielzahl der dänischen Erzähltexte, die in den folgenden Jahren erscheinen.

3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828)

Ein Spukschloss, zwei holländische Juden, drei geheimnisvolle Porträts. Ein altes Tagebuch, das von der Liebesgeschichte zwischen einer Jüdin und einem Christen erzählt, eingemauert im Keller des Schlosses, entdeckt und exklusiv präsentiert vom Autor der Novelle selbst. So lassen sich die Eckdaten der Novelle Jøderne paa Hald [Die Juden auf Hald; 1828] von Steen Steensen BlicherBlicher, Steen Steensen (1782–1848) umreißen. Der Text ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und verdient eine eingehende Betrachtung, die er in der Blicherforschung bisher nicht erhalten hat.1 Zum einen gehört er zu den ersten dänischen Erzähltexten, in denen jüdische Figuren überhaupt auftauchen, zum anderen erscheint er bisweilen irritierend unlogisch, was, wie ich zeigen möchte, weniger auf einen Mangel an Qualität zurückzuführen ist2 – Blicher gilt heute gerade aufgrund seiner literarischen Virtuosität und seines kunstvollen, bisweilen unzuverlässigen Erzählstils als herausragender Autor seiner Zeit (vgl. Müller-Wille 2016: 163–164).3 Vielmehr sind die vermeintlichen Schwächen in der Logik des Textes im Zusammenhang mit den jüdischen Figuren zu verstehen. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie sich die Novelle mit dem zeitgenössischen Diskurs über Juden und Jüdinnen auseinandersetzt, Stereotype aufgreift und modifiziert und dadurch ihrerseits den Diskurs mitgestaltet. Zunächst jedoch soll der Entstehungskontext der Novelle skizziert werden.

3.1 Blichers Juden in Jütland

BlicherBlicher, Steen Steensen gilt als derjenige dänische Autor, der die Landschaften Jütlands und deren Bewohner auf die literarische Agenda des kulturellen Zentrums Kopenhagen gesetzt hat. Der Blick der Intellektuellen, Gebildeten und Kulturschaffenden der Hauptstadt richtete sich bis dato kaum auf Orte und Landschaften außerhalb Kopenhagens und dessen unmittelbarer Umgebung, und eine literarische Darstellung von dänischen Handlungsorten oder Figuren außerhalb Kopenhagens war äußerst selten (vgl. hierzu Behschnitt 2006). Insbesondere Jütland galt als wild und öde, unzivilisiert und sowohl kulturell als auch landschaftlich uninteressant. Blicher wurde in Jütland geboren und entschied sich als Sohn eines Pfarrers für das Theologiestudium in Kopenhagen. Nach dem Studium kehrte er nach Jütland zurück, wurde schließlich selbst Pfarrer, was ihm ein geregeltes Einkommen sicherte, und verbrachte dort sein gesamtes Leben. Er prägte durch seine Literatur die Vorstellung von Jütland als einem exotischen Ort, der vielfach symbolisch aufgeladen werden konnte und an dem imaginiertes Eigenes und Anderes, Dänisches und Fremdes zusammentreffen und changieren konnten. In seinem literarischen Schaffen verband Blicher, so formuliert es Wolfgang Behschnitt in seinen Buch Wanderungen mit der Wünschelrute, „[d]die Identifikation mit Jütland, das Schwergewicht des Topographischen und die realistische Darstellungsweise“ miteinander. Er sah in seinem Schreiben ein „Mittel der literarischen Selbstdarstellung“ (Behschnitt 2006: 342) und der Selbstinszenierung als „der einsame, verkannte und unerhörte Poet auf der Heide“ (Behschnitt 2006: 343).

An diesem literarisch noch unbeschriebenen und autobiografisch aufgeladenen Ort, der jütländischen Heide, platziert BlicherBlicher, Steen Steensen in seiner Novelle Jøderne paa Hald eine jüdische Familie aus Amsterdam. Die Novelle erschien 1828, doch es ist nicht das erste Mal, dass Blicher über Juden schreibt. Bereits 1813 hatte er sich an der „literarischen Judenfehde“ beteiligt (vgl. Kapitel 1.3). Als Befürworter der Gleichstellung der Juden hatte er in zwei Schriften (Blicher 1983a, 1983b) aktiv Stellung gegen das judenfeindliche Pamphlet Moses und Jesus von BuchholzBuchholz, Friedrich und dessen Übersetzer ThaarupThaarup, Thomas (Buchholz/Thaarup 1813) bezogen. Blichers Novelle Jøderne paa Hald, die 15 Jahre später erschien, wird in der Forschung meist lediglich als literarisierte Version seines politischen Standpunktes interpretiert (vgl. z.B. Kjærgaard 2011, 2013: 49–65; Törne 1980: 13–15; Tudvad 2010: 338–339), der allerdings keineswegs so eindeutig ist, wie die vereinfachende Einteilung in „Gegner“ und „Befürworter“ der Judenemanzipation suggeriert. Die Frage nach Blichers Haltung stellt sich insbesondere im Hinblick auf zwei Artikel, die 1838 und 1839 unter dem Pseudonym „Ø“ erschienen, und in denen der Verfasser sich deutlich gegen das passive Wahlrecht von Juden und somit gegen die weitere und endgültige Gleichstellung ausspricht (Blicher 1928, 1929). Die Verfasserschaft Blichers ist zwar nicht belegt, schien den Herausgebern der gesammelten Werke Blichers 1928/1929 jedoch wahrscheinlich genug, um die Texte in die Gesamtausgabe aufzunehmen (vgl. Albøge 1987: 27). Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen den emanzipationsbefürwortenden Blicher-Schriften von 1813 und der ablehnenden Haltung, die in den beiden Artikeln von 1838 und 1839 zu Ausdruck kommt, war einer der Gründe für den Literaturwissenschaftler Björn von Törne, die Autorschaft Blichers bei den Ø-Texten anzuzweifeln (Törne 1980: 27). Gordon Albøge, Mitglied der dänischen Blicher-Selskab, reagierte 1987 mit einer akribischen Darlegung, warum Blichers Autorschaft im Falle der Ø-Texte keineswegs unwahrscheinlich sei. Peter Tudvad, der in seiner Monografie zu KierkegaardsKierkegaard, Søren Antisemitismus auch ausführlich Bezug auf das gesellschaftliche und politische Umfeld Kierkegaards nimmt, sieht sich wie Törne „fristet til at identificere [Ø] med biskop (Nicolai Esmark) Øllgaard [versucht, Ø als Bischof (Nicolai Esmark) Øllgaard zu identifizieren]“ (Tudvad 2010: 167), wobei Tudvad nicht mit dem vermeintlichen Widerspruch zu Blichers früheren Texten argumentiert, sondern die Verfasserschaft, da sie sich nicht eindeutig klären lässt, schlicht offen lässt. Kristoffer Kjærgaard wiederum zeigt sich von der Verfasserschaft Blichers überzeugt und sieht wie Albøge keinen Widerspruch zwischen den früheren, emanzipationsfreundlichen Pamphleten Blichers und den späteren Polemiken von „Ø“. Kjærgaard argumentiert, dass eine widersprüchliche oder sich verändernde Haltung genuiner Teil des semitischen Diskurses sei. Damit benennt Kjærgaard den Punkt, der auch bei der Lektüre der Blicher-Novelle, aber auch aller anderen Texte dieser Untersuchung augenfällig ist: die Ambivalenz und das Changieren der ‚philosemitisch‘ zu nennenden Texte, in denen immer auch die Möglichkeit zur Judenfeindschaft und zur Inakzeptanz gegenüber Juden und Jüdinnen mitschwingt. So bezieht Kjærgaard, wie vor ihm bereits Törne und Albøge, auch die Novelle Jøderne paa Hald in seine Arbeit zur politischen Verfasserschaft Blichers ein und liest sie als literarisierte Version von Blichers politischem Standpunkt: „,Jøderne paa Hald‘ har et klart didaktisk sigte og en politisk pointe at formidle, en pointe der først og fremmest åbenbarer sig, når den betragtes i relation til Blichers tekster om den jødiske tilstedeværelse [‚Jøderne paa Hald‘ hat eine klare didaktische Ansicht und eine politische Pointe zu vermitteln, eine Pointe, die sich vor allem dann offenbart, wenn man sie in Relation zu Blichers Texten über die Gegenwärtigkeit der Juden betrachtet]“ (Kjærgaard 2013: 116). Die Literarizität der Novelle wird aus dieser Perspektive jedoch explizit nicht berücksichtigt, der Komplexität und Ambivalenz des literarischen Textes kann so nicht Rechnung getragen werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text und seinen verschiedenen Ebenen steht bisher noch aus. Dieses Forschungsdesiderat soll nun geschlossen werden.

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