Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 4

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1.5.3 Widerstände und die Lust am Text

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Markus Spöhrer plädiert in seinen Überlegungen Zum Eigen- und Stellenwert geisteswissenschaftlicher Literaturproduktion. Schreiben als Experimentalsystem für eine „‚Offenheit‘ experimenteller Forschung“ um so „durch die Anordnung und Rekombination von ‚Altem‘ etwas ‚Neues‘ zu generieren“ (2017: 200). Oftmals werde in der Forschung durch „bestimmte konventionalisierte Theorien, Konzepte oder standardisierte Analysemodelle der Kultur- oder Literaturwissenschaft, aber auch ‚stabilisiertes Wissen‘, etwa Thesen, Argumente oder historische ‚Fakten‘“ tatsächlicher Erkenntnisgewinn verhindert (Spöhrer 2017: 201). Spöhrer begreift den Schreibprozess als das Experimentierfeld der Geisteswissenschaften. Im Experiment des Schreibens werde, im besten Fall, nicht allein Ordnung „beobachtet, analysiert und schlichtweg übertragen […], sondern diese Ordnung [wird] zuallererst im Zuge des Prozesses der Beobachtung, Analyse oder allgemein: der Forschung hergestellt“ (Spöhrer 2017: 203). Wie aber den Zufall als wissenschaftlich relevanten Faktor anerkennen, ohne ihn mit Beliebigkeit zu verwechseln? Wo beginnen mit der Ordnungsstiftung, was weglassen, wie auswählen, wenn doch ein Text niemals erschöpfend erfasst und immer auch anders verstanden werden kann? Und wie den Rückfall in vertraute Ordnungssysteme und Schemata verhindern? Hier helfen Roland BarthesBarthes, Roland’ Metaphern von den Rissen und Klüften des Texts und der Wollust des Lesers. In seinem Essay Die Lust am Text schreibt Barthes:

Wenn man einen Nagel ins Holz schlägt, so bietet das Holz unterschiedlich Widerstand, je nachdem, an welcher Stelle man ihn ansetzt: man sagt, das Holz ist nicht isotrop: die Ränder, die Kluft sind unvorhersehbar. Ebenso wie sich die (gegenwärtige) Physik dem nicht-isotropen Charakter bestimmter Milieus, bestimmter Universa anpassen muss, ebenso muß die strukturale Analyse (die Semiologie) die geringsten Widerstände des Textes, die unregelmäßigen Zeichnungen seiner Venen erkennen. (BarthesBarthes, Roland 1974: 55)

BarthesBarthes, Roland verwendet unterschiedliche Metaphern, um diese Widerstände im Text zu beschreiben. Er nennt sie Hindernisse (1974: 43), Unregelmäßigkeiten (1974: 55), Widersprüche (1974: 8), Schatten (1974: 49), Klüfte, Brüche und Risse (1974: 13–14), Zwischenräume (1974: 20) und identifiziert sie als Quellen der Lust beziehungsweise der Wollust beim Lesen.1 Wollust und Begehren sind zentrale Kategorien im Denken Barthes’, er versteht sie als Grundlage des Forschens überhaupt und fordert: „Die Arbeit (Forschungsarbeit) muss dem Begehren abgewonnen werden“ (Barthes 2006: 92). Das Begehren wiederum stellt sich überall dort ein, wo sich Widerstände in einem Text zeigen und wo die Freiheit besteht, diesen Widerständen nachzugehen. Dieses ausdrückliche Begehren nach ihren Forschungsgegenständen – oder vielleicht mehr noch ihr ausdrückliches Bekenntnis zu diesem Begehren – verbindet Greenblatt und Barthes, ebenso wie die Akzeptanz der Zufälligkeit, mit der sich im geisteswissenschaftlichen Arbeiten Dinge anordnen und so neues Wissen generiert werden kann. In Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe (2014) finden sich am seitlichen Rand neben den einzelnen Fragmenten Verweise auf andere Werke, auf Musik, Literatur, Autoren und weitere Quellen. In seiner Einleitung erklärt er diese Verweise:

Die Quellen, die damit bezeichnet werden, sind nicht die der Autorität, sondern die der Freundschaft: ich berufe mich nicht auf Garantien, ich gedenke, mit einer Art im Vorbeigehen erstatteten Grußes, lediglich dessen, was verführt, was überzeugt, was einen Augenblick lang die Wollust des Verstehens (die des Verstandenwerdens?) geschenkt hat. (BarthesBarthes, Roland 2014: 22)

In meinen Textanalysen begebe ich mich auf die Suche nach Rissen und Unebenheiten, nach Textstellen, Passagen, Zitaten, einzelnen Wörtern, auch nach Figuren, die mit eben jenen Metaphern der Widerstände und Zwischenräume beschrieben werden können: Schatten und Hindernisse, Rauheit und Knirschen. Dabei verfolge ich stets die Frage, was diese Widerstände mit den jüdischen Figuren im Text zu tun haben. Sofern sie bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage hilfreich sind, werden neben den Quellen der Autorität hin und wieder auch, um mit BarthesBarthes, Roland zu sprechen, „Quellen der Freundschaft“ aufgeführt, die nicht unerwähnt sein sollen, da sie mir für einen Moment beim Stolpern über die Widerstände des Textes diese „Wollust des Verstehens“ geschenkt haben. Denn wenn ich zum Beispiel im 21.Jahrhundert in einem Museum in Berlin niederländische Landschaftsbilder aus dem 17.Jahrhundert betrachte und sich dabei ganz plötzlich das Verständnis für eine dänische Novelle aus dem 19.Jahrhundert einstellt, muss ein solcher Faden unbedingt aufgenommen und als Beteiligter am Erkenntnisprozess sichtbar gemacht werden (vgl. Kapitel 3.8).

1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs

Im Begriff ‚Philosemitismus‘ schwingt viel Ambivalenz mit. Gibt es so etwas wie Philosemitismus überhaupt, und wenn ja, was ist damit gemeint? Ist er nicht immer an Bedingungen und Erwartungen geknüpft, wie Juden und Jüdinnen zu sein, sich zu verhalten und sich zu entwickeln haben? Und ist Philosemitismus nicht immer mit Fremdzuschreibungen verbunden und stellt somit auch eine Form der Diskriminierung und Ausgrenzung dar? Zumindest die letzten beiden Fragen sind leicht zu beantworten: Ja. In der Tat kommt bereits DohmsDohm, Christian Wilhelm von emanzipationsbefürwortende und mithin als philosemitisch zu bezeichnende Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden nicht ohne die explizit formulierte Erwartung aus, dass die Juden sich, sofern sie erst einmal bürgerlich bessergestellt wären, auch moralisch verbessern würden. Der Begriff der Verbesserung bezieht sich also gleichermaßen auf die rechtliche Situation der Juden wie auf ihren vermeintlichen moralischen Zustand, der ganz selbstverständlich als verbesserungswürdig behauptet wird (vgl. Detering 2002b). Wie sehr Philo- und Antisemitismus Hand in Hand gehen und wie leicht sie von einem ins andere Extrem umschlagen können, hat erstmals Frank Stern in seiner Studie Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg gezeigt. Stern stellt dar, dass der Wechsel zwischen anti- und philosemitischer Haltung nicht nur leicht und in beide Richtungen vollzogen werden kann, sondern in der Regel aus pragmatischen Gründen erfolgt:

Antisemitismus oder Philosemitismus […] sind keine Verarbeitung der Vergangenheit im Sinne einer geistig-kulturellen Bewältigung, sondern eine pragmatisch Bearbeitung von Vorurteilen und sozialen Erfahrungen. […] Die vorhandenen Haltungen zu Juden sind nicht alternativ „Anti“ oder „Philo“, sondern können in der jeweiligen zeitbedingten Entwicklung in einem dieser Syndrome kulminieren. (Stern 1991: 343)

Darüber hinaus diente in der (west-)deutschen Nachkriegszeit eine philosemitische Haltung auch stets der eigenen Selbstvergewisserung. Zur Illustration zieht Stern die Spielpläne der Theaterbühnen heran, auf denen

„Jud Süß“ 1945 zeitgemäß von „NathanLessing, Gotthold Ephraim“ abgelöst wurde. Alle guten Eigenschaften, die ein Deutscher jetzt haben sollte, blickten wie aus einem Spiegel als das freundlich-nachdenkliche und doch so unverbindliche Gesicht Nathans den Nachkriegsdeutschen an. Im Stereotyp vom guten und weisen Juden konnte jeder Deutsche, so er ideell die Überreste des Tausendjährigen Reiches verlassen wollte, sich selbst wiederfinden, oder zumindest das, was als deutsches Wesen, aller politischen Bezüge entkleidet, aus der „deutschen Katastrophe“ in die deutsche Zukunft hinüberragen sollte: Glauben, Bildung und Besitz. (Stern 1991: 356–357)

Dieses Beispiel veranschaulicht einen Aspekt, der auch die viel älteren, von der Shoah noch nichts ahnenden Autor*innen und Texte betrifft. Niemals geht es in den Texten vornehmlich um Juden, immer geht es vor allem um eine dänisch-protestantische Selbstvergewisserung und eine geistige und politische Positionierung der Nicht-Juden. Die jüdischen Figuren dienen, wenn nicht ausschließlich, so doch auch dieser Selbstvergewisserung und -verortung. Als aufgeklärter, toleranter Christ und Philosemit steht man hier auf der richtigen Seite und zeigt sich als ebenso gebildet und weltgewandt wie der weise NathanLessing, Gotthold Ephraim.

Die Begriffsgeschichte des Wortes ‚Philosemitismus‘ zeigt, dass diese Perspektive nicht immer so eindeutig war. Zunächst nämlich verwendeten es bekennende Antisemiten, namentlich der Kreis um den Historiker Heinrich von TreitschkeTreitschke, Heinrich von (1834–1896), um ihre politischen Gegner zu diskreditieren und ihnen den Vorwurf „eine[r] ‚blinde[n]‘ Verehrung alles Jüdischen, eine[r] Anbiederung bei den Juden“ zu machen (Kinzig 2009: 27). Bereits kurz nach der Etablierung des Begriffs wurde er allerdings auch positiv besetzt, so dass beide Konnotationen nebeneinander bestehen blieben und er also von Anfang an mit Ambivalenz verbunden war (vgl. Kinzig 2009: 27; Grimm, M. 2013). Verschiedene Autorinnen und Autoren haben versucht, sich dem Begriff und dem Phänomen ‚Philosemitismus‘ anzunähern. Im englischsprachigen Sammelband Philosemitism in History (Karp/Sutcliffe 2011a) wird aus vornehmlich historischer Perspektive eine Annäherung an das Phänomen vorgenommen, wobei die Herausgeber Jonathan Karp und Adam Sutcliffe bereits in der Einleitung erklären, dass eine befriedigende und allgemeine Definition des Begriffs zu erreichen unmöglich scheint (2011b: 6). Dennoch wurden solche Versuche immer wieder unternommen. Wolfram Kinzig (2009), Moshe Zuckermann (2009) sowie Lars Rensmann und Klaus Faber (2009) haben den Begriff ‚Philosemitismus‘ aus unterschiedlichen Perspektiven zu fassen und zu beschreiben versucht. Ihre Beiträge eröffnen den Tagungsband Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart (Diekmann/Kotowski 2009) und stellen verschiedene Ansätze dar, ‚Philosemitismus‘ als Arbeitsbegriff zu definieren beziehungsweise ihn zu hinterfragen und ihn unter Umständen auch zu verwerfen. Dabei fehlt es jedoch an einem systematischen Zugang, so dass Kinzig am Ende seiner Reflexion über die Forschungslage feststellt: „Die Frage, ob es so etwas wie Philosemitismus gibt und wie er genau zu fassen wäre, ist also unverändert offen“ (Kinzig 2009: 42). In jedem Fall, so konstatiert Zuckermann in seinem Beitrag, sei Philosemitismus niemals ohne Antisemitismus zu betrachten,

[d]enn so, wie das Wahre des Antisemitismus sich einzig aus dem Ressentimentzusammenhang erklären lässt […], lässt sich das Genuine des Philosemitismus einzig aus seiner Wesensverwandtschaft mit dem Antisemitismus begreifen – worin sich letztlich das Bedrohliche seines vermeintlichen Wohlwollens erweist. (Zuckermann 2009: 71)

Als Konsequenz solcher Beobachtungen legt Nike Thurn in ihrer Monografie einen wissenschaftlichen Zugang nahe, der sich weder allein auf die Kategorie ‚Antisemitismus‘ beschränkt noch eine Unterteilung in ‚Anti‘- und ‚Philosemitismus‘ vornimmt. Ihre differenzierte und ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Diskussionen beider Begriffe führt sie zu der Überzeugung, von der Verwendung des Begriffspaars mit seinen beiden Extremen abzurücken (Thurn 2015: 38–47). Philo- und Antisemitismus seien, so schließt sich Thurn den Kritiker*innen vor allem des Philosemitismusbegriffs an, „zwei Seiten ein und derselben Medaille.“ Immer gehe es darum, „‚die Juden‘ als ‚Andere‘“ zu setzen (Thurn 2015: 45). Thurn greift daher den vom polnischen Literaturwissenschaftler und Essayisten Artur Sandauer 1985 erstmals formulierten1 und durch Zygmunt Bauman etablierten Begriff des ‚Allosemitismus‘ auf,2 denn, so Bauman, „‚Allosemitismus‘ ist vor allem uneindeutig […]; er determiniert nicht widerspruchslos entweder Haß oder Freundschaft gegenüber Juden, sondern beinhaltet die Keime beider Phänomene“ (Bauman 1995: 44). An dieses Konzept knüpft auch Brian Cheyette mit dem von ihm vorgeschlagenen Begriff ‚semitischer Diskurs‘ an (1993: 8), den wiederum der dänische Historiker Kristoffer Kaae Kjærgaard in seiner 2013 vorgelegten Dissertation Opfindelsen af jødiskhed, 1813–1849. Semitisk diskurs og produktionen af jødiskhed som andethed [Die Erfindung der Jüdischkeit, 1813–1849. Semitischer Diskurs und die Produktion von Jüdischkeit als Andersheit] übernimmt. Dabei betont Kjærgaard, dass die Vorstellung eines allosemitischen beziehungsweise semitischen Diskurses gegenüber einem anti- und einem philosemitischen Diskurs mehr als nur einen kosmetischen Effekt auf das Denken hat:

Pludselig fremstår det som om, at det ikke udelukkende var antisemitter, der bidrog til andetgørelsen; det gjorde enhver, der tog ordet jøde i sin mund eller lod det trykke på skrift. Historien om Vestens syn på jødiskhed mister ved et enkelt trylleslag alle sine helte. (Kjærgaard 2013: 7)

Plötzlich scheint es, als seien es nicht ausschließlich Antisemiten, die zur Anderung [zum Othering] beigetragen haben; das tat ein jeder, der das Wort Jude in den Mund nahm oder es drucken ließ. Die Geschichte der westlichen Sicht auf das Jüdischsein verliert auf einen Schlag wie durch Zauberhand alle seine Helden.

Die Argumente von Thurn und Baumann, Cheyette und Kjærgaard sind überzeugend und stellen die Verwendung des so äußerst ambivalenten Begriffs ‚Philosemitismus‘ einmal mehr in Frage. Zumal bislang kaum befriedigende Gründe vorgebracht wurden, am Philosemitismusbegriff festzuhalten. Dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Irving Massey (2000) kommt das Verdienst zu, die erste – und bislang einzige – systematische literaturwissenschaftliche Untersuchung zu Philo-Semitism in Nineteenth-Century German Literature verfasst zu haben. Neben bekannten Texten von Gustav FreytagFreytag, Gustav, Wilhelm RaabeRaabe, Wilhelm, Wilhelm HauffHauff, Wilhelm und Annette von Droste-Hülshoff untersucht er eine Vielzahl weniger bekannter Texte verschiedener Autor*innen. Dabei nimmt er allerdings bereits einleitend eine Einschränkung vor:

First, I must make it plain that if we are looking for absolutely unqualified philo-Semitism we will find very little, if any. There is scarcely a German writer in the nineteenth century who did not, at one time or another, give voice to some anti-Semitic feelings. (Massey 2000: 11)

Dieser so eindeutig vorgetragene und ernüchternde Befund hindert Massey nicht daran, sich auf die Suche nach Philosemitismus in der deutschsprachigen Literatur des 19.Jahrhunderts zu begeben. Masseys Bestimmung des Philosemitismusbegriffs deckt sich dann auch weitestgehend mit den von mir für meine Literaturauswahl angewendeten Kriterien. Als philosemitisch definiert er Literatur „by Gentile Authors, in which Jews and/or Judaism are presented in a favorable, or at least not unfavorable, light“ (Massey 2000: 9). Zu dieser Literatur zählt er eben auch Erzähltexte von Wilhelm RaabeRaabe, Wilhelm und Gustav FreytagFreytag, Gustav – Werke von Autoren, auf die in der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung oftmals, trotz aller Ambivalenzen, als unbestreitbar antisemitisch referiert wird (vgl. hierzu Gubser 1998; Klüger 2007). Massey hingegen räsoniert nach der Analyse der jüdischen Figuren über den „somewhat anti-Semitic“ (2000: 93) Roman Soll und Haben [1855] (1926): „It would be wrong simply to reverse a cliché and say that Soll und Haben is philo-Semitic.“ Allerdings „Freytag must be granted to have recognized the highest value embodied in a Jew.“ Dieser Jude, die Figur Bernhard Ehrenthal, repräsentiere „a genuine philo-Semitic moment in the book, and not just a counter-stereotype“ (2000: 96). Massey deckt in seinen recht kurz gefassten Erzähltextanalysen solche philosemitischen Momente auf und legt ihre Bedeutung für den Text offen. Folgt man allerdings dem Konzept ‚Allosemitismus‘, sind diese Beobachtungen gleichzeitiger Anwesenheit anti- wie philosemitischer Aspekte innerhalb eines Werkes weder überraschend noch erstaunlich, sondern im Gegenteil zu erwarten. Um den Philosemitismusbegriff als literaturwissenschaftliche Kategorie fruchtbar zu machen, bedarf es also einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Begriff und mit den Bedingungen des Philosemitismus. Warum lohnt es sich, an diesem Begriff festzuhalten und ihn zum heuristischen Werkzeug einer ganzen Untersuchung zu machen? Zunächst einmal ist er genau dies: ein Werkzeug, mit dessen Hilfe eine Gemeinsamkeit zwischen den untersuchten Texten erfasst und benannt werden soll. Man kann sich ihr über ein Ausschlusskriterium annähern: Die Texte stellen jüdische Figuren nicht oder nicht überwiegend auf diffamierende Weise dar,3 und wo sie es teilweise doch tun, begründen sie dies als Folge von Misshandlungen durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. Was die Texte aber verbindet und vor allem, was sie literaturwissenschaftlich interessant macht, ist ihr Irritationsmoment. Dies ergibt sich daraus, in den Texten positiv beziehungsweise „positiv“ – in Anführungszeichen – dargestellte jüdische Figuren zu finden und gleichzeitig zu bemerken, dass diese Figuren zum großen Teil auf holzschnittartige Weise gestaltet sind. Es ergibt sich aus den Bedingungen und Erwartungen, die die Texte an die jüdischen Figuren stellen, und die somit auch an die jüdische und nicht-jüdische Leserschaft übermittelt werden. Und aus der literarischen Überzeugungskraft, die diese jüdischen Figuren entfalten, sobald sie diese Bedingungen und Erwartungen erfüllen. Es ergibt sich aus dem Wissen um die spielend leichte Umkehrbarkeit stereotyp philosemitischer Judenbilder in ihr judenfeindliches Gegenbild einerseits. Und aus der starken ästhetischen Wirkung, die von den jüdischen Figuren aufgrund der vielfältig mit ihnen verbundenen Assoziationen beim Lesen hervorgerufen wird anderseits. Meine Annahme ist, dass es genau diese Assoziationsdichte ist, die die jüdischen Figuren literarisch interessant und höchst produktiv macht, sie also zu be- und geliebten Topoi der Literatur werden ließ, und die somit das Festhalten am Begriff ‚Philosemitismus‘ rechtfertigt.

Als aktuellster und äußerst fruchtbarer Beitrag für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Philosemitismus ist 2017 der Tagungsband Philosemitismus. Rhetorik, Poetik, Diskursgeschichte erschienen, herausgegeben von Philipp Theisohn und Georg Braungart (2017a), der auf der ersten Veröffentlichung einiger der Tagungsbeiträge 2012 in der Zeitschrift Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft basiert (Zeller 2012). Theisohn und Braungart arbeiten in ihren Einführungstexten zu beiden Bänden erstmals heraus, dass Philosemitismus zuvorderst ein philologisch erfassbares und zu untersuchendes Phänomen ist, denn es gehört „zum Wesen des Philosemitismus, mit sprachlichen Mitteln einen geistigen Raum zu erzeugen, in dem es zu einer Vereinigung des – wie auch immer Vorgestellten [sic!] – jüdischen Objekts mit dem es begehrenden Subjekt kommen kann“ (Theisohn/Braungart 2012: 15). Theisohn und Braungart konstatieren – und soweit ich es überblicken kann, geschieht dies hier zum ersten Mal überhaupt – die Existenz einer spezifischen „philosemitische[n] Literarizität“:

Im Zentrum stehen dabei nicht ‚Gesinnungen‘, stehen nicht die Vorurteile von Autorinnen und Autoren, sondern eine Denkfigur, die das Judentum benutzt, um über die Sehnsüchte derer sprechen zu können, die keine Juden sind. (Theisohn/Braungart 2017b: 12)

Dabei geht es weder um eine möglichst realistische Darstellung des Judentums und der jüdischen Figuren,4 noch um einen tatsächlichen Wunsch danach, Juden und Jüdinnen zur Konversion zum Christentum und damit zum Verschwinden zu bringen. Im Gegenteil: „Das Judentum, wie es der philosemitische Diskurs imaginiert und inszeniert, ist ein Phantasma.“ Und in diesem Phantasma muss „[d]er Jude […] ein Jude bleiben, weil er nur als solcher die Liebenswürdigkeit, den Wert des Nichtjuden bezeugen kann“ (Theisohn/Braungart 2017b: 11). Nach Theisohn und Braungart ist Philosemitismus also nicht allein als „polemische Klassifizierung, sondern darüber hinaus als ein diskursives Phänomen“ zu verstehen (2017b: 13). Diese Auffassung des Begriffs rechtfertigt die Verwendung des Begriffs ‚Philosemitismus‘ als Bezugsgröße gegenüber seiner Ausdehnung auf das Konzept ‚Allosemitismus‘. Dabei sei keineswegs die Behauptung aufgestellt, dass die Einteilung in Philo- und Antisemitismus in jedem Fall eine sinnvolle ist. Es hängt vielmehr von der Fragestellung ab, ob an der Begriffsdualität aus ‚philo‘ und ‚anti‘ festgehalten werden sollte, oder ob eine Untersuchung des gesamten allosemitischen Diskurses, wie bei Thurn und Kjærgaard, sinnvoller ist. Im Falle der vorliegenden Arbeit sind es dezidiert die Eigenschaften des philosemitischen Diskurses, welche die Ähnlichkeit zwischen den untersuchten Texten herstellen. Denn untersucht werden nicht nur sämtliche dänische Erzähltexte nicht-jüdischer Autor*innen, die in den 1820er- bis 1850er-Jahren erschienen sind. Diese Texte sind auch ohne Ausnahme Teil eines ausdrücklich philosemitischen Diskurses, nicht eines weiter gefassten, allosemitischen. Sie unterscheiden sich darin deutlich von den nicht-literarischen Texten derselben Epoche, die sich viel stärker als die literarischen Texte neben einer philosemitischen auch einer ausdrücklich judenfeindlichen, diffamierenden Semantik bedienen, und die so tatsächlich als Teile eines allosemitischen Diskurses begriffen werden müssen. Durch diese Differenzierung der Diskurse kann Philosemitismus als spezifisch literarisches Phänomen sichtbar gemacht werden. Der Titel der Untersuchung, Philosemitische Schwärmereien, markiert gleichwohl meine eigene Distanziertheit gegenüber einer unreflektierten Verwendung des Begriffs und unterstreicht darüber hinaus den phantasmatischen Objektcharakter,5 den die jüdischen Figuren in allen Erzähltexten dieser Untersuchung haben. Der Philosemitismusbegriff, der mich durch diese Arbeit leitet, ist stets zusammen mit der Schwärmerei gedacht, mehr noch, er ist per definitionem schwärmerisch. Überdies scheint der Gebrauch des Philosemitismusbegriffs nicht nur trotz, sondern gerade wegen der begriffsgeschichtlich bereits angelegten Ambivalenz geeignet, um ein Phänomen zu erfassen, das seinerseits durch Ambivalenz und unscharfe Grenzverläufe gekennzeichnet ist.

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9783772001352
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