Читать книгу: «Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts», страница 3

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1.4.3 Forschung

Der Titel dieser Untersuchung wirft die Frage auf, ob neben den „philosemitischen Schwärmereien“ auch Texte mit „antisemitischen Verunglimpfungen“ publiziert wurden, die hier keine Erwähnung finden. Solche Texte existieren tatsächlich. Etliche von ihnen sind während der „literarischen Judenfehde“ erschienen und wurden in verschiedenen Arbeiten zusammengetragen und untersucht (vgl. z.B. Albertsen 1984: 36–57; Schwarz Lausten 2002: 205–375; Tudvad 2010: 17–54). Und auch in Søren KierkegaardsKierkegaard, Søren Schriften finden sich zahlreiche Anfeindungen gegenüber Juden und eine ausdrückliche Kritik am Judentum. Den zunehmenden Antisemitismus in Kierkegaards Denken hat Peter Tudvad 2010 in seiner umfangreichen Studie Stadier på antisemitismens vej. Søren Kierkegaard og jøderne [Stationen auf dem Weg des Antisemitismus. Søren Kierkegaard und die Juden] untersucht und erstmals in dieser Konsequenz benannt. Doch bei allen diesen Schriften handelt es sich um politische, philosophische und theologische, nicht um literarische Texte. Befasst man sich nur mit der Literatur im engeren Sinne, also mit Erzählliteratur, Lyrik und Dramatik, ist die Darstellung jüdischer Figuren zwar stets ambivalent, aber nicht ausschließlich oder überwiegend negativ oder diskreditierend, sondern im weitesten Sinne positiv angelegt. Auf einige lyrische Werke nehme ich im Verlauf der Arbeit am Rande Bezug. Eine Untersuchung norwegischer Lyrik aus den 1840er-Jahren habe ich bereits 2011 mit meiner Masterarbeit Blühende Dornenzweige. Henrik WergelandsWergeland, Henrik Gedichte und der „Judenparagraf“ in der norwegischen Verfassung vorgelegt und die Ergebnisse 2020 als Aufsatz mit dem Titel „Der Jude. Neun blühende Dornenzweige. Henrik Wergelands politische Dichtung gegen den ›Judenparagrafen‹ in der norwegischen Verfassung von 1814“ veröffentlicht. Auf die Studie von Räthel (2016) zu jüdischen Figuren im skandinavischen Theater habe ich in Kapitel 1.4.1 bereits hingewiesen. Ein gattungs- und epochenübergreifender Überblick über jüdische Figuren und Judentum in der dänischen Literatur findet sich bei Niels Birger Wamberg (1984) in seinem Beitrag über Dansk-jødisk digtning og dansk digtning om jødisk skæbne [Dänisch-jüdische Dichtung und dänische Dichtung über jüdisches Schicksal]. Tine Bach hat mit Exodus. Om den hjemløse erfaring i jødisk litteratur [Exodus: Über die Erfahrung von Heimatlosigkeit in jüdischer Literatur] 2004 eine Untersuchung von Erzählliteratur jüdischer Autoren vorgelegt. Bach setzt darin eine stabile, eindeutige und internationale jüdische Identität und mit ihr eine „jødiske identitetsproblematik [jüdische Identitätsproblematik]“ (2004: 12–13) als gegeben voraus, die sie mithilfe einer autobiografischen Lesart zu analysieren versucht. Mit diesen normativen Setzungen verkennt sie jedoch, dass Identität ein gesellschaftliches und wandelbares, durchlässiges Konstrukt ist und somit auch stets ein Produkt von Fremdzuschreibungen, um die es in meiner Arbeit gehen soll. 2007 hat Mogens Brøndsted mit seinem Buch Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur [Ahasverus. Jüdische Elemente in der dänischen Literatur] (2007a) eine Sammlung ausgewählter literarischer Texte über jüdische Figuren herausgegeben und so überhaupt erst einem breiteren Publikum die Möglichkeit gegeben, auf sie aufmerksam zu werden. Diese Sammlung umfasst Texte jüdischer und nicht-jüdischer Autor*innen vom späten 18. bis zum 20.Jahrhundert. Vorangestellt ist ihr eine umfangreiche und auf Vollständigkeit angelegte literaturhistorische Einführung in die Geschichte jüdischer Figuren in der dänischen Literatur. Sofern die von mir untersuchten Texte in dieser Sammlung enthalten sind, zitiere ich aus dieser Ausgabe. Nicht nur halte ich dieses Vorgehen für leserfreundlich, es stellt darüber hinaus auch eine Würdigung von Brøndsteds literaturwissenschaftlicher Editionsleistung dar. Zuletzt erschien der Sammelband Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandinavischen Literatur (Räthel/Schnurbein 2020a), hervorgegangen aus dem Arbeitskreis „Juden in Skandinavien“ am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, in den neben erstmalig publizierten Aufsätzen auch bereits zuvor erschienene Beiträge noch einmal aufgenommen wurden.1

Richtet man den Blick auf entsprechende Forschung zur Literatur der dänischen Nachbarländer Norwegen und Schweden, fällt das Ergebnis bescheiden aus. Für Norwegen ist vor allem die als Übersichtsarbeit angelegte Dissertation Vom Schtetl zum Polarkreis. Juden und Judentum in der norwegischen Literatur von Gertraud Rothlauf (2009) zu nennen. Von Madelen Marie Brovold, die sich in ihrer Masterarbeit mit jüdischen Figuren auf der Theaterbühne beschäftigt hat (2016, 2019), ist derzeit eine weitere Dissertation zu jüdischen Figuren in der norwegischen Literatur im Entstehen. Diese überschaubare Forschungssituation mag damit zu begründen sein, dass die literarische Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Norwegen im 19.Jahrhundert fast ausschließlich in lyrischer und dramatischer Form sowie in Reiseberichten und politischen Schriften vor allem eines Autors stattfand, nämlich Henrik WergelandWergeland, Henrik, sowie in deutlich geringerem Maße bei Andreas MunchMunch, Andreas, Adolph RosenkildeRosenkilde, Adolph und Christian Rasmus Hansson (vgl. hierzu Bock 2011, 2020; Brovold 2019; Mendelsohn 1969: 61–217; Räthel 2016: 267–289, 2020: 122–123; Rothlauf 2009: 69–90; Schnurbein 2014: 90–91; Skorgen 2010; Snildal 2012). Für Schweden bleibt nur die fast vollkommene Abwesenheit jeglicher Forschung zu jüdischen Figuren in der Literatur zu konstatieren und zu fragen, ob hier tatsächlich so wenige jüdische Figuren zu finden sind, dass sich dieser Mangel an wissenschaftlicher Forschung erklären ließe (vgl. Räthel 2020b: 119–122; Räthel/Schnurbein 2020b: 22; vgl. hierzu auch Heß 2020). Neben Räthels Arbeit zur Dramenliteratur (2016: 291–367) ist hier einzig Hilde Rohlén-Wohlgemuth hier mit ihrem schmalen Band Svensk-judisk litteratur 1775–1994: en litteraturhistorisk översikt [Schwedisch-jüdische Literatur 1775–1994: ein literaturgeschichtlicher Überblick] (1995), in dem sie auf Literatur jüdischer Autoren fokussiert, zu nennen. Abschließend sei noch auf den kürzlich erschienenen Band Antisemitism in the North hingewiesen (Adams/Heß 2020), der einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Antisemitismusforschung in Skandinavien und innerhalb der Skandinavistik gibt. In der vorliegenden Arbeit nun werden Erzähltexte aus der Zeit des dänischen „Goldenen Zeitalters“ untersucht und das bislang bestehende Forschungsdesiderat literaturwissenschaftlich bearbeitet.

1.5 Theoretisch-methodische Zugänge
1.5.1 Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung

Zweifellos wohnt der Literatur die Möglichkeit inne, Stimmen marginalisierter Personengruppen zu Gehör zu bringen und Identifikation mit ihnen zu stiften. So stellte beispielsweise Martin Sexl 1996 in seinem Aufsatz Was ist Literatur und warum brauchen wir sie? vor allem die Fähigkeit der Literatur heraus „die Bedeutung von Erfahrung(en) zugänglich zu machen“ (1996: 185). Literatur werde durch ihre „Eigenschaft als implizites Wissen […] zu einer Stellvertretererfahrung und dadurch auch zu einer Basis gesellschaftlichen Lebens (d.h. ethischen Könnens): Denn Kunst ist ein Sensibilisierungsprozeß für unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen in der ‚realen Welt‘“ (Sexl 1996: 192). Diese Perspektive steht auch für Ulrike Koch im Vordergrund, deren Beitrag 2017 in der Anthologie Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte (Bartl/Famula 2017) erschien. Sie betont besonders die Möglichkeit „der Darstellung von Ideen und Problemen aus der Perspektive von marginalisierten Positionen“ (Koch 2017: 282). Außerdem mache Literatur „durch das Ausloten von Grenzen […] den Konstruktionscharakter von Realitäten sichtbar“ (Koch 2017: 283). Außer Zweifel steht allerdings auch, dass Literatur ebenso das Gegenteil bewirken und Vorannahmen festigen kann. So hält Florian Krobb fest: „Die Literatur greift […] in die außerliterarische Realität ein, indem sie zum Beispiel Bewertungsmuster bereitstellt oder Klischeevorstellungen begründen und verfestigen hilft“ (Krobb 1993: 13). In letzter Konsequenz bedeutet dies, mit einer Formulierung der Literaturwissenschaftlerin Catherine Belsey, dass Literatur dazu beiträgt, „die Kultur, die sie hervorgebracht hat, erst einmal selbst zu bilden“ (Belsey 2000: 51–52). Im Schreiben über Juden und Jüdinnen zeigt sich dieses Spannungsfeld in beispielhafter Weise. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich diesen Texten widmen, signifikant gestiegen. Noch 2007 beklagten die Herausgeber der Anthologie Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz in ihrem Vorwort, dass die Literaturwissenschaft als Disziplin innerhalb der Antisemitismusforschung „bislang eher randständig blieb“ (Bogdal/Holz/Lorenz 2007: VII). Mit dieser Anthologie wurde also selbst ein wichtiger Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung geleistet, und sie beinhaltet, anders als der Titel suggeriert, auch einige Beiträge, die sich der Judenfeindschaft in der Literatur vor Auschwitz widmen. Seitdem sind etliche Arbeiten hinzugekommen, die aus unterschiedlichen Perspektiven literarische Texte auf ihre Darstellung von jüdischen Figuren befragen. Die Auswahl der untersuchten Texte erstreckt sich mittlerweile von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Nike Thurn (2015) untersucht in ihrer Monografie »Falsche Juden«. Performative Identitäten von LessingLessing, Gotthold Ephraim bis Walser Figuren, deren vermeintlich jüdische Identität sich im Handlungsverlauf als Irrtum oder Täuschung herausstellt. Victoria Gutsche richtet in ihrer Arbeit Zwischen Abgrenzung und Annäherung. Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17.Jahrhunderts den Blick auf die frühe Neuzeit und stellt dabei die Frage, ob „‚positive Juden‘ in der Literatur des Barock möglich“ waren (Gutsche 2014: 38). Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass jüdische Figuren zwar ganz unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können und eben nicht zwangsläufig der Diffamierung des Judentums dienen, die meisten der hier untersuchten Texte jedoch eine eindeutig antijüdische Stoßrichtung verfolgen“ (Gutsche 2014: 388). Paula Wojcik (2013) fokussiert in ihrer Dissertation Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur auf Metaphernkonzepte zum Entwurf von Selbst- und Fremdbildern. Mithilfe metapherntheoretischer Zugänge stellt sie dar, wie in deutsch-, polnisch-, und englischsprachigen literarischen Texten der Gegenwart die Dekonstruktion antisemitischer Stereotype gelingen kann. In allen drei, im Abstand von nur jeweils einem Jahr erschienenen Dissertationen geben die Autorinnen einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und die Schwerpunkte der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung (Wojcik 2013: 13–30; Gutsche 2014: 15–23; Thurn 2015: 61–68), so dass ich mich hier weitestgehend auf die Darstellung der jüngeren Entwicklung beschränke. Gutsche konstatiert zusammenfassend zwei Strömungen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung:

zum einen eine historisch-soziologisch argumentierende Stereotypforschung und zum anderen eine auf das System Literatur bezogene Motivforschung. Während erstere meist dazu neigt, Stereotype auf ihren Realitätsgehalt hin zu untersuchen, um so deren ‚fiktiven‘ Charakter zu konstatieren, beschränkt sich die Motivforschung häufig darauf, Figurendarstellungen als ‚stereotyp‘ auszuweisen. Damit wird zugleich ein unveränderlicher Charakter eines solchen Bildinventars suggeriert und durch die Literaturwissenschaft perpetuiert. (Gutsche 2014: 23)

Gutsche selbst betont die „spezifische Literarizität“ (2014: 23) von literarischen Texten und bemängelt an den bislang meist verfolgten Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung:

Literatur wird so zur bloßen Quelle, die jedem einzelnen Text spezifischen Codierungen und Eigengesetzlichkeiten sowie Gattungsdynamiken bleiben weitgehend unberücksichtigt. So kommt es meist zu einer Einebnung von Spannungen und Ambivalenzen, mögliche Gegenmodulationen zur Bildlichkeit werden kaum sichtbar. (Gutsche 2014: 25)

Sie schließt damit an eine Kritik an, wie sie bereits in ähnlicher Weise um die Jahrtausendwende von Franka Marquardt (2003: 23) und Mona Körte (1998: 148, 2007: 63) aufgeworfen wurde. Gutsche kritisiert außerdem, der Begriff ‚Literarischer Antisemitismus‘ sei zu eng gefasst. Untersuchungen, die unter diesem Oberbegriff durchgeführt werden, „konzentrieren sich vornehmlich auf die Literatur ab dem neunzehnten Jahrhundert, insbesondere aber nach 1945.“ Mit der Verwendung des Begriffs ‚Literarischer Antisemitismus‘ werde

für die Erforschung literarischer Judenfeindschaft eine systematische (Eingrenzung auf einen bestimmten Zeitraum) und eine qualitative (Antisemitismus als Forschungsgegenstand) Vorentscheidung getroffen, die den Untersuchungsgegenstand erheblich begrenzen und so entscheidende Facetten ausblenden. (Gutsche 2014: 27)

Erfreulicherweise hat sich, nicht erst mit diesen jüngeren Publikationen, der Blick auf das Forschungsfeld geweitet, sowohl hinsichtlich des erforschten Zeitraums als auch des Forschungsgegenstands. Es geht inzwischen zunehmend darum, die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten literarischer Darstellungen von jüdischen Figuren sichtbar zu machen. 2013 erschien Eva Lezzis Habilitationsschrift „Liebe ist meine Religion!“ Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19.Jahrhunderts. Lezzi untersucht in ihrer Studie, „inwiefern die prägenden zeitgenössischen Diskurse zu Liebe, Ehe, Familie und Sexualität eine Alterität zwischen Juden und Christen konstruieren – gerade auch dann, wenn diese Alterität im Begehren zugleich überwunden werden soll“ (Lezzi 2013: 8). Mona Körte stellte bereits im Jahr 2000 in ihrer Monografie Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik anhand der Untersuchung des Ahasverus-Topos die Flexibilität und Ambivalenz einer um 1600 entstandenen und bis in die Gegenwart vitalen literarischen Figur dar. Auf die Sichtbarmachung von Mehrdeutigkeiten und scheinbaren Widersprüchen legt es auch Franziska Schößler in ihrer 2009 erschienenen Untersuchung Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola an, denn gerade „[d]iese Ambivalenzen, die jegliche Projektionsstruktur prägen, ermöglichen die flexible Adaption an historische Zustände sowie diskursive Vernetzungen“ (Schößler 2009: 34). Die Herausforderung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Analyse besteht also gerade darin, dem Impuls zu widerstehen, diese Ambivalenzen in der Analyse zu vereindeutigen und zu glätten. Hierzu, so Körte, „bedarf es des genauen Lesers und der genauen Leserin, die nicht finden, was sie suchen, sondern sich auf die Bewegung und die Widersprüchlichkeit von Sinnangeboten einlassen“ (Körte 2007: 66). Doch wie kann eine solche genaue Lesart vonstattengehen, ohne von den eigenen Erwartungen und Vorannahmen korrumpiert zu werden?

1.5.2 Kulturpoetik und Zirkulation

Eine Anregung zur aufmerksamen und neugierigen Annäherung an Literatur bietet Stephen Greenblatt mit seinem freimütigen Geständnis, seine eigene Forschung zur Renaissance sei vor allem von dem Wunsch angetrieben, „mit den Toten zu sprechen“, ein Wunsch, der, „obzwar unausgesprochen, vielen literaturwissenschaftlichen Studien zugrunde liegt“ (Greenblatt 1988: 7). Greenblatt begründete mit diesem Einstieg in seine Verhandlungen mit ShakespeareShakespeare, William. Innenansichten der englischen Renaissance den New Historicism, einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, der literarische und nicht-literarische Texte gleichberechtigt zu einander in Beziehung setzt. So wird der literarische Text nicht nur in seinem historischen Kontext berücksichtigt. Vielmehr kann nun aufgezeigt werden, wie bestimmte Ideen und Vorstellungen zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten zirkulieren. Aufgrund dieser Wechselseitigkeit wird neben dem Begriff New Historicism auch der Begriff Kulturpoetik verwendet. Der literarische Text nimmt in diesem Modell zwar als Kunstwerk eine herausragende Position ein. Grundsätzlich steht er jedoch nicht wie ein Monolith in seinem historischen Kontext, sondern wirkt am Erschaffen dieses Kontextes seinerseits mit (vgl. Belsey 2000: 51–52). Dabei sei es Greenblatt, so resümiert der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler (2005) in seiner literaturtheoretischen Monografie Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, nicht daran gelegen zu zeigen, was die historische Person Shakespeare dachte und meinte, und ob diese Person bestimmte persönliche Ansichten in seinen Dramen zu vermitteln oder populär zu machen hoffte. Vielmehr stelle Greenblatt heraus, weshalb und wozu Shakespeare so schrieb, wie er schrieb:

[D]er Dramatiker [ShakespeareShakespeare, William] benutzt das diskursive Material eben nicht, um religionskritische Aussagen zu machen, sondern um dramatische Effekte zu erzeugen. Dabei und dafür aktiviert er auch und gerade die Widersprüche, Absurditäten und dunklen Seiten, die den diskursiven Konstellationen anhaften. (Baßler 2005: 15)

Es geht Greenblatt und Baßler nicht darum, Widersprüche aufzulösen und Ambivalenzen zu glätten, sondern sie sichtbar zu machen und als dramatische Mittel anzuerkennen. Übertragen auf meine Fragestellung bedeutet dies, die durchweg ambivalenten und bisweilen absurd anmutenden Darstellungen jüdischer Figuren und des Judentums als dramatisches, beziehungsweise literarisches Mittel anzuerkennen und sie nicht allein auf ihren politischen, gesellschafts- oder religionskritischen Gehalt zu reduzieren.

In seiner Einführung in den New Historicism fragt Baßler: „Wer braucht überhaupt den New Historicism?“ Die Antwort gibt er umgehend: „Es braucht ihn, wer die theoretischen Prämissen des Poststrukturalismus teilt und nach wie vor mit historischem Interesse in einer kultur- oder textwissenschaftlichen Disziplin arbeiten will“ (Baßler 2001: 7). In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die vorliegende Arbeit. Das Vorgehen orientiert sich prinzipiell an der foucault’schen Diskursanalyse; es wird betrachtet, wie in einer bestimmten Region (Dänemark), Epoche (Dänemarks „Goldenes Zeitalter“) und in einer bestimmten Textgattung (Erzählliteratur) über Juden und Jüdinnen geschrieben wurde, geschrieben werden konnte. Der Aufbau der Arbeit ist zwar chronologisch nach den untersuchten Werken unterschiedlicher Autor*innen gegliedert, aber die Texte werden trotz dieses traditionell anmutenden Aufbaus immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt und die Chronologie so gestört, um die Zirkulation von Ideen und Vorstellungen zwischen den Werken aufzuzeigen. Dem von der Diskursanalyse beeinflussten Ansatz dieser Arbeit scheinen allerdings die Kriterien für die Textauswahl zu widersprechen, denn für diese ist die nicht-jüdische Herkunft der Autoren und der Autorin zentral, da mich der nicht-jüdische Blick auf die Juden und Jüdinnen als die Anderen interessiert. Somit wird dem Autor, den Roland BarthesBarthes, Roland 1968 (2000) für tot erklärt hatte in dieser Analyse eine entscheidende Bedeutung beigemessen, die ihm in einer klassischen Diskursanalyse nicht zugekommen worden wäre. Der kulturpoetische Ansatz erlaubt es jedoch, das Material diskursanalytisch zu untersuchen und zugleich auch den Autor als Teil des Kontextes eines Textes zu begreifen. Die Biografie samt Herkunft, Religion und Geschlecht der Autor*innen ist ein Aspekt unter vielen, die das Zustandekommen eines Textes möglich (oder auch unmöglich) machen. Diesen Kontext werde ich folglich in jedem Kapitel in kurzer Form skizzieren, jedoch auf die Punkte beschränken, die für das Textverständnis relevant erscheinen.

Greenblatt hat den Begriff der „Zirkulation sozialer Energie“ geprägt (1988: 7–24) und damit die Überzeugung formuliert, dass Literatur nicht oder nicht vornehmlich als Abbildung oder künstlerische Verarbeitung einer außerliterarischen Wirklichkeit verstanden wird, sondern im vitalen Austausch mit der außerliterarischen Welt steht. Dieser Austausch verläuft in beide Richtungen, in die Literatur hinein und aus ihr heraus, und ist dabei höchst lebendig und fruchtbar. So wird auch der Begriff der ‚Intertextualität‘ nicht als Einbahnstraße verstanden, in der ein Autor seinen Text mit Verweisen auf andere Texte spickt. Vielmehr ist der literarische Text Teil des texte général1 und hat an der Zirkulation von Wissen, Konnotationen, Annahmen oder eben: sozialer Energie ebenso Teil, wie jede andere Produktion von Kultur und Sinn auch. Roland BarthesBarthes, Roland nutzt ebenfalls die Metapher der Zirkulation, wenn er in seinem Essay Junge Forscher fordert, dass

endlich eine freie Lektüre zur Norm des ‚literaturwissenschaftlichen Studiums‘ wird. Die Freiheit, um die es sich handelt, ist natürlich keine x-beliebige Freiheit (die Freiheit steht im Gegensatz zum Beliebigen): Hinter der Forderung nach einer unschuldigen Freiheit würde die eingelernte, stereotypisierte Kultur wiederkehren (das Spontane ist das unmittelbare Feld des Bereits-Gesagten): […] Diese Freiheit muß eine Virtuosität sein: diejenige, die gestattet, im Leit-Text, mag er auch noch so alt sein, die Devise jeglichen Schreibens herauszulesen: es zirkuliert. (BarthesBarthes, Roland 2006: 95)

Um diese Zirkulation fassbar zu machen oder vielmehr: in den Texten aufzuspüren und zu reaktivieren, bedarf es einer akribischen und genauen Lesart, eines close reading, das Verallgemeinerungen zu vermeiden versucht (vgl. Baßler 2005: 10, 14, 19–21). Dies wiederum erfordert einen Textbegriff, der nicht jede beliebige kulturelle Äußerung als Text begreift, sondern sich auf physisch (oder digital) archivierbares und mit textwissenschaftlichen Werkzeugen lesbares Material stützt. Eine solche Text-Kontext-Theorie entwickelt Baßler, denn, so bemängelt er, es „geht mit dem Abrücken vom Textualitäts-Theorem regelmäßig eine Tendenz zurück zu abstrakter Beschreibungssprache, zu historischen Metanarrationen und Generalaussagen einher, in der ich keinen Fortschritt erkennen kann“ (Baßler 2005: 10). Durch ein Textverständnis, das sich zwar nicht allein auf literarische, jedoch auf archivierbare und archivierte Kulturproduktion beschränkt,2 soll der Rückgriff auf Verallgemeinerungen vermieden werden. Auf diese Weise bleibt das Forschungsfeld fassbar und benennbar und verallgemeinernde Aussagen können ebenso vermieden werden, wie eine abstrakte und schwer zugängliche Sprache. So fallen denn auch tatsächlich die Arbeiten derjenigen, die einen solchen kulturpoetischen Ansatz verfolgen, wie Greenblatt, Svetlana Alpers (2001), Schößler (2009) und Baßler selbst, durch ihre „Anschaulichkeit und Lesbarkeit“ (Baßler 2005: 10) auf. Diesen Aspekt als methodische Prämisse zu betonen mag ungewöhnlich erscheinen. Doch so wenig wissenschaftlich relevant ein anschaulicher und leserlicher Stil für die Bestimmung eines theoretisch-methodischen Rahmens auf den ersten Blick wirken mag, so sehr ist eine spürbare und für den Leser nachzuvollziehende Freude am Forschungsgegenstand vonnöten, um zu ungewohnten Lesarten und neuen Forschungsergebnissen zu gelangen.

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9783772001352
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