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Читать книгу: «Lowlife», страница 4

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Bevor ich meine Ausbildung beginnen durfte, stand für mich noch einiges an Bürokratie auf dem Programm… Damit verbunden war eine Untersuchung bei meiner Hausärztin. Sie zählte zu der Sorte grobschlächtige, alternative und intellektuelle Ärztin, die ihren wuchtigen Leib am liebsten in hippieesken Leinenfummel hüllte. Ein Relikt der 68er Bewegung, das mit eiserner Überzeugung homöopathische Heilmethoden praktizierte… Sie trug die Haare kurz geschnitten und in einem Ton gefärbt, den man am besten als Altweiberviolett bezeichnen konnte… Die Praxis befand sich in dem selbstverständlich originalgetreu restaurierten Fachwerk eines ehemaligen Bauernhauses, im Kern des von der Vorstadt umwachsenen, langsam unkenntlich werdenden Dorfes. Das Wartezimmer war vollgestopft mit sebstbemaltem Holzspielzeug und allerlei wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Magazinen und bildender Lektüre in den hölzernen Bücherregalen… Geschichte, Kultur, Soziologie, Kinderbücher mit Ökomärchencharakter… An den Wänden hingen vergrößerte Urlaubsfotos von weiß der Teufel wo, die die Natur in all ihrer unberührten Pracht zeigten und sichtbar machen sollten, wie gut man doch als Ärztin leben konnte. Ich erinnere mich, wie es dazu kam, dass ich zum ersten Mal in die Praxis geschleppt wurde.

Ich war etwa sieben oder acht und gerade aus dem Schulbus ausgestiegen und befand mich auf dem Weg nach Hause. Die Praxis lag gegenüber der Bushaltestelle, auf der anderen Straßenseite. Ein paar Schritte hatte ich vom Heimweg hinter mich gebracht, als mich entsetzliche Magenkrämpfe überkamen und ich in einer Seitenstraße zusammenbrach. Etwa fünf Minuten vergingen auf dem Asphalt liegend, während ich mich in Schmerzen wand. Eine ältere Dame kam vorbei, nahm sich meiner an und schleppte mich in die Praxis… Unter einem Arm mich, unter dem anderen ihre Einkaufstasche… Die Hippieärztin führte Untersuchungen durch und zitierte meine Großmutter herbei, damals noch fit und quicklebendig… Und dann?… Lücken der Kindheit… Weiß kaum noch was, außer dass ihre Heilmethoden tatsächlich bei mir anschlugen… Nach Abschluss der Behandlung bekam ich nie wieder diese spontanen Magenkrämpfe, die mich über zwei Jahre lang verfolgt hatten und bei denen andere Ärzte den ersten Verdacht auf Blinddarm gelegt, nach den Untersuchungen aber konturlose Diagnosen abgegeben und ratlos Medikamente verschrieben hatten.

Von da an ging ich, wenn sich der Umstand ergab, dass ich ärztliche Hilfe benötigte, nur noch in diese Praxis… Es war mir wirklich fremd und unbehaglich, sogar noch diesem eigentlich warmen, erdig und freundlich gestaltetem Wartezimmer. Arztpraxen sind meist kalt und haben diese klinische Distanziertheit. Man muss ständig warten, wird kurz und kratzig aufgerufen, lässt trockene Formalitäten über sich ergehen und setzt sich wieder hin, um noch länger warten zu dürfen… Bis man endlich das bekommt, weswegen man sich überhaupt in die Praxis gewagt hat, ist man schon völlig fickrig und zerknautscht, der Hintern ganz platt vom vielen herumsitzen und übergeschnappt, wegen den vielen keuchenden Kranken und hypochondrischen Privatpatienten um einen herum, die anlässlich jedes quer sitzenden Furzes zum Doktor rennen… Während man selbst sich nur in allergrößter Not schon halbtot in die Praxis schleppt, eher noch aus Demut und mit größtem Pflichtbewusstsein an der Arbeit erscheint, weil einem schließlich das Wohl der Firma so sehr am Herzen liegt, dass man auf eine saubere Genesung verzichtet… Lieber Tabletten fressen… Wird schon laufen… Da wird einem ganz Schwindlig vor Elend und Untertanengeist.

Die Untersuchung, die meine Gesundheitliche Tauglichkeit zur Ausübung der erwählten Pflicht bescheinigen sollte, bestand aus wiegen, messen, atmen, husten, vielerlei Befragungen bezüglich meiner körperlichen Stärken und Schwächen und einer Urinprobe, welche mir am meisten Sorgen bereitete… Etwas verschüchtert fragte ich, auf was denn genau mein Urin untersucht werden würde… Und dachte dabei an das Marihuana, das ich bisher verqualmt hatte… Fast schon spöttisch und wissend prüfendem Blick schaute mich die Ärztin an und redete mir freundlich schmunzelnd zu, ich solle mir keine Sorgen darum machen, sie wolle nicht herausfinden ob ich gekifft hätte.

Erleichterung für mich, alles andere war mir sowieso egal. Der Test ergab, dass ich ohne weiteres für den Beruf geeignet wäre und man gab mir die Formulare zum Unterschreiben und Einreichen beim Arbeitgeber mit… Halleluja!

Nachdem ich meine Papiere weitergegeben hatte, arbeitete ich noch für ein paar Wochen. Bald darauf war die Berufsvorbereitung vorbei, das schändliche Praktikantendreieck wurde von meiner Arbeitskleidung entfernt, ich bekam endlich meinen Namen auf den Latz genäht und besiegelte mein Schicksal, indem ich meine ungeübte Unterschrift auf den Ausbildungsvertrag zeichnete. Mir bleib sogar noch etwas Urlaub übrig, der mir noch restlich von meiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ausstand. Es sollte der letzte Urlaub werden, für den ich nicht mehr erbittert kämpfen musste.

Es lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, was ich mit der Zeit angestellt habe. Ähnlich meiner flüchtigen Gedanken, der kurzweiligen Eindrücke, ähnlich meiner Launen und aus der Leistengegend aufwallenden Gelüste, sprengten die Wochen im Veitstanz an mir vorbei… Wie ging das hinterher noch weiter?… Ich habs gleich.

Die folgenden Arbeitswochen waren schrecklich öde, nicht mehr unterbrochen von den zwei Urlaubstagen, die ich zuvor bei meinem Bildungsträger und in der Schule verbracht hatte… Schnell hatte der baumelnde Tagesverlauf meines Urlaubs zur Gewöhnung geführt… Lange dauerte es, bis ich mich wieder an das frühe Aufstehen gewöhnte… Oh die süße Trägheit… Montagmorgens fiel es mir so schwer wie noch nie zuvor, meinen müden Kadaver endlich mal aus dem Bett zu werfen. Es war lächerlich! Ich wartete bis zur letzten Minute mit dem Aufstehen… So als könne mein Bett mich vor dem kalten grauen Alltag bewahren… Wälzte mich im Bett herum, wobei ich argwöhnisch schielend die Uhr im Blick behielt und dabei zusah, wie die letzten Minuten gnadenlos und unaufhaltsam abliefen… Kurz wieder eingeschlafen… Scheiße! Panik! Schon so spät?!… Mit flauen Gefühl im Magen warf ich die Decke beiseite und musste das Frühstück entbehren… Teufel auch!… Dermaßen schwer war mir das noch nie gefallen.

Man muss jedoch sagen, immerhin hatte ich Glück, was meinen Arbeitsweg anging… Zehn Minuten Fußmarsch von zu Hause aus und ich war dort. Nicht anders als mein Arbeitskollege Christoph, der in der Gegend wohnte, jedoch jeden Morgen die Strecke von gerade mal fünfhundert Meter mit seinem geliebten zweier Golf zurücklegte… Warum nicht zeigen, dass es einem gut ging?

Um kurz vor acht kam ich die Straße entlang und sah die Kollegen an mir vorbeifahren und auf den Hof abbiegen. Aus einiger Entfernung versuchte ich die Lage auszumachen, beobachtete die Aktivitäten auf dem Hof, erspähte aus der Ferne, ob das Licht an war (im Winter) oder, ob die Tore offen standen (im Sommer) und hoffte somit eine innere Vorbereitung auf das, was da kommen würde, erzielen zu können… Meine Strategie funktionierte mehr schlecht als recht… Die Füße trugen mich immer näher und obwohl ich eigentlich hätte umdrehen wollen, überquerte ich letztendlich die Straße, ging schnell zum Umkleideraum Schrägstrich Lager Schrägstrich Müllhalde und legte die muffige Kluft an den sauberen Leib. So begann jeder verdammte Wochentag.

Im ersten Lehrjahr dachte ich es könne nicht viel dröger werden. Ich wusch Autos, gerne auch bei ein paar Grad unter Null, machte jeden Winkel der Werkstatt eine Million Mal sauber, mähte den Rasen, zupfte Unkraut aus, säuberte die Toilette, sortierte unzählige versiffte und verrostete Schrauben und Muttern, half bei allen Projekten, die meinen Vorgesetzten in den Sinn kamen, aber rein gar nichts mit meinem Beruf zu tun hatten, räumte Lager ein und aus und wusch Regale sauber… Gelegentlich wurde ich im Affekt angekläfft, wenn ich eine Lakaienarbeit fertig hatte und die Dreistigkeit besaß, das garstige Fuhrwerken des Wiesels zu unterbrechen, indem ich eine neue Beschäftigung erbat… Wie im Praktikum… Ich war tatsächlich überrascht.

Sobald es sich aber dünne machte, sah ich meinen Kollegen bei den Reparaturen zu, war immer um Hilfeleistung bemüht und stellte Fragen wo ich nur konnte, ließ mir von ihnen ihr Handwerk erklären, prägte mir ihre Handgriffe und Fachausdrücke ein und träumte davon irgendwann, vielleicht im dritten Lehrjahr, mal selbst Hand an einen Motor oder ein Getriebe legen zu dürfen… Dabei gingen scheinbar die Stunden am schnellsten vorüber.

Langsam, aber sicher entwickelte ich ein Gespür für aufkommendes Unheil, konnte mit einiger Zuverlässigkeit wittern, dass sich Ärger anbahnte. Die Ausgangssituationen waren nahezu immer die gleichen. Gab es Schwierigkeiten, egal welcher Art, bei einer Reparatur, so stieß unser aller Freund und Wohltäter das Wiesel hinzu. Nicht etwa, um uns gutmütig zu helfen, als vielmehr uns bei der Arbeit zu behindern… Uns die Nerven mit einem Winkelschleifer zu zerreiben. Mit seiner Unfähigkeit, wie ein gesunder und besonnener Mensch zu denken und zu handeln, machte er uns nicht selten ganze Arbeitswochen zur Hölle. Seltsamerweise gingen die Reparaturen der Kollegen mit seiner Hilfe öfter in die Hose, als ohne sein Beisein… Man konnte sich nicht sicher darüber sein, ob er es bemerkte… Am Anfang meiner Zeit in dieser Anstalt war ich jedoch zum Glück nur derjenige der allenfalls danebengestanden hatte, wenn es um die Schuldfrage für eines der Fabrizierten Malheure ging… Man konnte mir nicht viel anhängen.

Das Wiesel hielt regelmäßig Kontrollgänge durch die Werkstatt ab und mit den geschulten Augen eines Aasgeiers sah es sofort, wenn etwas nicht ganz rund lief. Doch anstatt sich die Problematik erklären zu lassen und gemeinsam nach Lösungsvorschlägen zu suchen, riss er uns mit Nachdruck das Werkzeug aus der Hand, fest davon überzeugt jegliche Problematik auf Anhieb zu verstehen. Und so nahm das Elend dann seinen Lauf.

Weitere Beobachtungen stellte ich an, während ich unschuldig Werkzeug herbei reichte und meinem Chef zusah, wie er gleich einem verlausten Marder im Motorraum oder unterm Auto wühlte. Der Rest der Belegschaft mühte sich verzweifelt ab, ihm irgendwie zur Hand zu gehen… Vorsichtig taktierend und auf den unausweichlichen Wutanfall gefasst, der alle einlenkenden Argumentationen und Versuche zur Beruhigung der Situation unmöglich machen würde… Nein, wenn man halbwegs für voll genommen werden wollte, musste man Feuer mit Feuer bekämpfen… Man musste das Wiesel anschreien. Eine Tatsache, die mir erst später bewusst wurde, und die ich mir erst noch viel später zu Nutzen machen konnte. Aber auch dieses Vorgehen hatte seinen Preis.

Die Verhältnisse zu den Kollegen änderten sich vorerst nicht. Ich favorisierte weiterhin Alex, den älteren Leidensgenossen. Er blieb es, an dessen Seite ich mich stellte, wenn er einen Wagen reparierte. Er ließ mich anpacken, erteilte mir Aufgaben und gab sich Mühe mir etwas beizubringen… Der Andere verstand es, sein Handwerk auf seine Weise zu tun, und zwar sehr gut. Manchmal bildete ich mir ein, er habe Fehler vermeiden wolle, die durch mein Mitwirken hätten entstehen können. Aber das sollte sich mit der Zeit ändern… Jedenfalls sah man mich meist an der Seite von Alex. Meine lieben Arbeitgeber bemerkten das und bestellten mich zu einem Gespräch ins Büro.

Die Worte meiner Chefin waren… »Halt dich bei der Arbeit lieber an Christoph, der Alex ist ne Schlampe.«

Eine Überraschung wäre diese offen ausgesprochene Denunzierung gewesen, wäre sie tatsächlich um meiner positiven Entwicklung willen ausgesprochen worden. Viel näher lag mir die Vermutung, dass diese Empfehlung an mich den niederen Hintergrund hatte, dass die beiden Macker Alex' Art nicht ausstehen konnten. Im Fall, dass ihm Fehler bei der Arbeit unterliefen, reagierte er auf ihren Tadel wohl nicht so wie sie es sich erhofften. Er war zu der Zeit immerhin der einzige, der dem ausgemachten Wahnsinn, dem ganzen Terror, diplomatisch gegenüberstand und dem ebenso gerne mal die Stirn bot. Somit war er ihnen ein Dorn im Auge, obwohl er doch für sie arbeitete und dabei wesentlich mehr Geld reinbrachte als er verdiente, ich von ihm nie einen Ausfall wegen Krankheit erlebt hatte und er viele Fertigkeiten mit sich brachte… Ein Dorn im Auge einfach nur, weil er nicht auf der ganzen Linie nach ihrer Pfeife tanzte.

Aus der Sicht der Mehrheit der Vorgesetzten, hätte der ideale Arbeitnehmer wohl so ausgesehen… Der/die ideale Arbeitnehmer/in erledigt seine/ihre Arbeit stets in Perfektion. Der/die ideale Arbeitnehmer/in verfügt über keinerlei Privatleben; er oder sie hält sich Tag und Nacht für die betrieblichen Belange bereit. Er/Sie lässt sich jede erdenkliche Schikane gefallen und erledigt jede Arbeit, die ihr/ihm aufgetragen wird und auch solche, die mit seinem/ihrem erlernten Beruf nicht das geringste zu schaffen haben, stets zur vollsten Zufriedenheit. Der/die ideale Arbeitnehmer/in hat keinen Gehaltsanspruch. Er/Sie schläft in oder, sofern es die räumlich-betrieblichen Gegebenheiten verlangen, vor der Firma… Ach was! Er/Sie schläft überhaupt gar nicht! Lebenszweck des/der idealen Arbeitnehmers/in ist einzig und allein das Wohl und Gedeihen der Firma. Etwaige Verschwendung der Kapazitäten des/der idealen Arbeitnehmers/in, die sich im Ermessensversuch betreffend der betrieblichen Zweckdienlichkeit der ihm/ihr aufgetragenen Arbeiten durch den/die ideale/n Arbeitnehmers/in veräußern sind nicht zulässig. Alleinige Ermessensgewalt hat der Arbeitgeber. Der/die ideale Arbeitnehmer/in braucht keine Pausen, spricht niemals Wiederworte und ist gehorsam bis auf den Tod. Am besten sieht er oder sie noch perfekt aus und stellt sich genauso sexuell zur Verfügung wie jeden Funken seiner/ihrer körperlichen und geistigen Ressourcen. Der/die ideale Arbeitnehmer/in isst und trinkt nichts und geht folglich niemals seine/ihre Notdurft verrichten, einzig Geld fällt aus seinem/ihrem wohlriechenden Arschloch.

Kurzum, der ideale Arbeitnehmer durfte kein Mensch sein. So wurde man schließlich auch betitelt, nämlich als »Arbeitskraft«… Und genau so kam man sich in dieser Firma auch vor… Unter diesen Hundsfotzen… Wie eine menschliche Ware… Selbst wenn unsere Vorgesetzten zwischendurch immer wieder versuchten ihre menschliche Maske feilzubieten, indem sie uns mit minimalen Gefälligkeiten und kleinen Versprechungen bei der Stange hielten, ließ sich später nicht mehr darüber hinwegsehen… Die Masken trugen Anfangs dazu bei, mich zu täuschen… Für Zeit zu Zeit gelang es meinen verehrten Vorgesetzten, dass ich mir ein wenig Wertschätzung ihrerseits einbildete. Doch in ihrer waren Natur waren sie wie fleischfressende Pflanzen, die ihre Opfer erst durch betörenden Duft anlockten, dann jedoch ihr hässliches Maul aufrissen, sie verschlangen, aussaugten und die Überreste wegwarfen, um sich hinterher über ihre Wertlosigkeit und den faden Nachgeschmack auszulassen.

Als kleiner Lichtblick in dieser Tristesse traten die Wochen hervor, in denen ich Berufsschule hatte. Das war einmal im Monat, wenn nicht gerade Ferien waren. Die Berufsschule war beinah wie Urlaub für mich, daher meine Freude über diese Gelegenheiten. Erst da merkte ich wie angenehm es sein konnte, zur Schule zu gehen, anstatt arbeiten zu müssen.

Es war eine andere Welt als auf der Gesamtschule. Eine Welt fast ohne Mädchen. Die wenigen Menschen weiblichen Geschlechts waren kaum als solche erkennbar. An meinem ersten Tag pilgerte ich über das Gelände, suchte das Gebäude, in dem die Einteilung der neuen Klassen stattfinden sollte, und hatte schon so viel Verspätung, dass keiner mehr auf dem Hof anzutreffen war, den ich nach dem Weg hätte fragen können. Mithilfe meines Vorwissens um die Architektur, den räumlichen Aufbau des Komplexes, welches ich mir bei meiner Zeit bei der Berufsvorbereitung angeeignet hatte, fand ich mit einiger Verspätung das Klassenzimmer und platzte herein… Berstende Schwüle körperlicher Ausdünstungen… Überall Leiber… Köpfe drehten sich zur Tür und sahen mich fragend an… Die Vorstellung hatte begonnen… Angenervt stellte ich mich den beiden instruierenden Lehrkörpern, nahm mir einen freien Stuhl und setzte mich in den ungeschützten Raum neben einen Einzeltisch, auf dem sich bereits zwei paar Ellenbogen stützten. Die Einteilung lief reibungslos und strukturiert ab, genau wie man es von einem routinierten Bildungsinstitut erwartete. Sobald der Organisationsprozess vorbei war, wurde die Gruppe zweigeteilt. Meine Klasse umfasste mehr als fünfundzwanzig Lehrlinge… Ein wirr zusammengewürfelter Haufen unbekannter Gesichter, von welchen ich nicht wusste wie ich es mit ihnen zu halten hatte. Nervös mit dem Hosenboden scharrend, saßen sie auf ihren Stühlen und bemühten sich um einen konstanten Lautstärkepegel. Auch für die Lehrer mussten sie anfangs nicht mehr als eine ungeformte Masse dargestellt haben, an die sie sich erst einmal zu gewöhnen hätten… Über den Gedanken hinweg erschrak ich vor mir selbst… Hatte ich mich ernsthaft in einen Lehrer hineinversetzt?… Mir fiel das große Glück zu, den Sitzplatz neben ein paar Gesellen gefunden zu haben, die sich schon kannten… Ihr heiterdoofes Gesabbel attackierte unablässig von der Seite meine Ohren… Lass dich davon nicht stören… Ignoriere es… Ich hielt sie von vornherein allesamt für Idioten… Die erste Woche verging und änderte nichts daran… Dann die zweite Woche… Keine Veränderung meiner Ansichten… In der dritten und vierten Blockwoche begann ich meine Einstellung zu hinterfragen. War diese Neigung zur fast pauschalen Verurteilung nicht neu? Hatte ich mich schon immer schwer mit der Eingliederung in eine neue Gemeinschaft getan?… Wohl ja… Zumindest was größere Gruppen betraf. Dort stellte ich mich erst einmal an den Rand, um die Dynamiken zu beobachten und wenn ich zweifelhafte Geselligkeit meiden konnte, dann mied ich sie auch… Diese Art erschwerte einem vielleicht das Finden von Freundschaften… Erleichterte aber im Grunde das Meiden von menschlichem Bodensatz… Eine Vorgehensweise, die mir an der Arbeit unmöglich war… Man konnte sich nicht immer die Menschen aussuchen, mit denen man sich zu umgeben hatte.

Immer mehr drängte sich mir die Frage auf, ob es jemand aus der Klasse es wert sei, von mir näher kennen gelernt zu werden… War ich ein Narzisst?… Nein!… Es war noch zu chaotisch. Ich musste noch abwarten, warten, dass sich eine Struktur abzeichnete. Irgendwann würden sie alle kleine Grüppchen bilden und es würde sich eine Art der Hierarchie bilden, wie man sie in allen Klassenverbänden wiederfand. Ich würde einfach beobachten und sehen wie die Leute so tickten.

Blockunterricht… Das System hatte seine Vorzüge. Schon am Freitagabend vor der Berufsschulwoche freute ich mich darauf, dachte jedes Mal auf dem Heimweg… »So! Geschafft! Jetzt könnt ihr mich erst mal eine Woche lang nicht mehr trietzen. Höhöhö!… Sauhaufen! Am Arsch lecken könnt ihr mich!… Höhö!«

Das frühe Aufstehen machte mir plötzlich nichts mehr aus. Es fiel mir sogar leichter, mich aus dem Bett zu werfen, mich fertig zu machen und mich in die kühle, junge Luft des neuen Tages zu begeben. Ich nahm mir wieder Zeit zum Duschen, verbrachte das Frühstück in Ruhe und zog mich mit Sorgfalt und Gemach an und die Spuren des Schlafes beseitigte ich wie ein Mensch, wissend, dass ich in den befleckten Aufzug der Unterdrückten, gleich den Kleidern von Sklaven, die keine anderes Leinen besaßen, da sie ohnehin nur für die Bewältigung ihres täglichen, unsäglichen Dienst lebten, nicht sehr bald wieder einzusteigen hatte.

Gegen sieben Uhr verließ ich das Haus und begab mich zur Haltestelle, wo ich, auf den Bus wartend meine erste Zigarette rauchte. Man brauchte circa eine Stunde, einschließlich des Fußweges, zur im innersten Schlund der Stadt gelegenen Schule. An Jeder der vielen Haltestellen auf dem Weg stiegen mehr und mehr müde Gesichter zu… Schüler, Studierende, Arbeiter… All die Menschen, die das Leben und der Erwerb in den frühen Morgenstunden auf die kaugummiverklebten Bürgersteige spülten. All die immergleichen Gestalten, noch im Halbschlaf, deren erste bittere Melodie am Morgen das Klingeln des Weckers war. All die Namenlosen die gelangweilt dasaßen im überfüllten Bus. Das sonore Dröhnen des Dieselmotors ließ Hämmer und Ambosse und Steigbügel in ihren Gehörgängen, sofern sie nicht von Kopfhörern verstopft waren, taktlos aufeinander dengeln, bis sie ausstiegen und hastig an die Orte ihrer Pflichten eilten… Es baute richtig auf, mich eine ganze Woche lang zumindest nicht zu den Arbeitern zählen müssen… Und dann eines Tages, wenn sie alt geworden wären und sich geschafft hätten… Was würdem sie sagen? Wenn sie zurückblickten, würden dies bestimmt nicht die Momente sein, an die sie sich erinnern würden, nicht die Geschichten, die sie erzählen würden… Nein, es würden völlig andere, rar gesäte Augenblicke sein… Würde ich vielleicht einmal so wie sie werden?… War ich es nicht schon?… Stieg ich doch, genau wie sie alle, an meiner Haltestelle aus und verschwand zwischen den Häuserzeilen, auf den Schultern den Rucksack mit meinen Büchern.

In den Parkbuchten, auf den Bürgersteigen vorm Schulgelände, hauptsächlich aber in der Auffahrt machte ich die Klassenkameraden aus, stellte mich nahe an den Rand ihrer Ansammlungen und rauchte die zweite Zigarette, bevor man in das Klassenzimmer ging… Dort blieb für den Rest des Tages… Für das, was man uns beibrachte, musste man nicht extra den Raum wechseln. Man hatte seine Arbeitshefte und die Sachbücher, die als Nachschlagewerk dienten, mit allerlei Fachtheorie und obendrein jeder Menge ergänzender Aufgaben… Aufgaben, die man nie löste. Zeit war knapp und dennoch wurde oft nahezu verschwenderisch damit umgegangen. Fing der Unterricht endlich einmal an, blieb gerade einmal die Zeit ein paar Aufgaben im Arbeitsheft zu lösen, die sich an den gängigen Lernfeldern orientierten… Im Laufe der Ausbildung vierzehn Lernfelder… Mit Aufgaben lösen war nicht gemeint, dass man sich die Antworten auf die vielen Fragen hätte selber erarbeiten müssen. Nein! Der gängige Habitus gestaltete sich folgendermaßen… Der jeweilige Fachpauker projizierte die Lösungen für die Aufgaben mittels Overhead-Projektor an die Wand, einige davon ließen sich kurz und zügig besprechen, bevor die Lösungen aufgedeckt wurden… Je nachdem, wie gnädig die Uhr gegenüber der Schülerschaft war… Dann hieß es Augen auf und abgeschrieben… Und vielleicht nie wieder draufgeschaut… Man könnte sagen, es ging recht locker zu. Wesentlich lockerer als ich es von der Gesamtschule gewohnt war. Doch wer nicht hinterherkam, oder nicht hinterherkommen wollte, der hatte gelitten. Man erwartete jetzt von uns, dass wir plötzlich erwachsen genug waren, uns selbst um unser Wohl zu kümmern. Nicht alle waren so weit, mit dieser Freiheit umzugehen, und blieben auf der Strecke. Einige verließen die Schule und verloren ihren Ausbildungsplatz. Andere brauchten wesentlich länger als nötig, um ihre Ausbildung, letztendlich auf einer halben Arschbacke abgesessen, zu bestehen. Man hätte aber nicht allen von ihnen Vorwürfe machen können.

Da war zum Beispiel einer, der stets dann zur Schule erschien, wenn der Akku seines Handys tiefentleert war und er das Stromnetz der Schule für sein Ladegerät benötigte… Etwa ein Mal in einer Blockwoche, wenn überhaupt, geschah das. Während sein Telefon an der Steckdose hing schlief er meistens, spielte auf einem seiner zahlreichen anderen Handys herum oder hing regungslos auf dem Stuhl, das Gesicht so schlaff und leer, dass daneben noch jedes ausgestopfte Tier quicklebendig wirkte… Seine Gelassenheit war fast zu beneiden, wäre sie nicht um den Preis des Hirntodes zustandegekommen… Nach vielen, stets nutzlosen und mit immer weniger Enthusiasmus vorgetragenen Ermahnungen flog er raus. Ich fragte mich was er wohl anfangen wollte?… Auf einem Baum leben und Ameisen fressen? Vielleicht würde er ja Versicherungsfachangestellter werden… Irgendeine Art Büroangestellter… Kassierer bei Aldi oder Lidl… Reinigungskraft… Oder Gemeindepolitiker.

Einige der Schüler waren schlicht überfordert. Sie schafften es nicht, hatten Zeit ihres Lebens nicht einmal gelernt wie man lernt. Da saßen Leute, die sich, um Sackhaaresbreite und mit mehr Glück als Verstand, zu ihrem Hauptschulabschluss durchgewrungen hatten. In der Werkstatt stießen diese Kandidaten in der Regel auf keine großen Schwierigkeiten… Jeder der die entsprechenden motorischen Fähigkeiten besaß, mit Werkzeug umzugehen und bei sich behalten konnte, wo welches Teil am Auto saß, vermochte es, alte gegen neue Teile zu tauschen… Doch wenn es darum ging, systematisch in einem vieladrig verstrickten System Fehlerquellen auszuschließen, oder ein elektrisches oder mechanisches Funktionsprinzip zu durchschauen, sah man sich die Spreu vom Weizen trennen… Die Mehrheit von ihnen schaltete dann ab, tat so, als wäre es scheißegal. Reparieren konnten sie ohnehin fast alles, sofern man ihnen sagte, was genau defekt war… Reparaturleitfäden konnte man überall finden… In den Archiven der Werkstätten… Im Netz… In der einschlägigen Literatur… Bei den Gesellen erfragt… Und so weiter.

Vereinzelt gab es noch ein paar arme Tropfe, die zwar begreifen wollten, es aber schlicht und ergreifend nicht konnten. Das war ihnen schrecklich peinlich und kränkte sie in ihrem Stolz. Der Lehrer frage sie aus, versuchte sie auf den Weg zu bringen, bemühte sich um Erklärung… Verzog das Gesicht… Nach einer Weile wendete er seine Blicke zur Uhr, selbst peinlich berührt… Nur selten blieb genug Zeit, es allen wirklich begreiflich zu machen und so gab sich der Lehrer spätestens dann zufrieden, wenn sie ihn aus Scham oder Desinteresse anlogen, indem sie behaupteten, begriffen zu haben.

Gedanklich widmete ich mich denen, die wollten, aber nicht konnten… Wie gingen sie wohl damit um, wie und wieso machten sie dennoch weiter? Erwachten sie jeden Morgen mit dem Gefühl, dass ihnen weniger Zeit gegeben war, reif zu werden, als nötig gewesen wäre?… Zerstreuung gab es zu genüge, aber es gab keinen Weg zurück. Also passte man sich an oder ließ es bleiben… Leicht gesagt… Was sollte man machen, wenn das Leben in Wirklichkeit kurz wäre? Und der Sand in der Uhr riesele von oben herunter und man würde davon begraben werden. Was sollte man machen, wenn der Tag einem zunächst vorkäme wie ein erigierter Pferdeschwanz… Lang und hart… Und man am Ende am liebsten nur noch der Ablenkung frönen wollte, sich ärgernd, dass der vermaledeite Gaul bald schon wieder geil darauf werden würde, einen mit Anlauf in den Arsch zu pöllern?… Man müsste von Rechtswegen lernen, versuchen mitzukommen, weiter zu kommen… Ständige Selbstverbesserung, um eines schönen Tages an Geld zu kommen… Na, klar… Was sollte man machen, wenn man unvorbereitet in die Welt geworfen worden wäre?… So unvorbereitet wie mir einige meiner Mitschüler vorkamen… Was hatten sie getrieben all die Jahre in der Schule? Was hatte unser Schulsystem so mit ihnen getrieben? Was hatten ihnen BGJs und BVBs und was nicht alles für berufsvorbereitende Maßnahmen gebracht, wenn sie doch ihren Beruf verfehlt, eine für ihre Qualifikationen unpassende Laufbahn eingeschlagen hatten? Waren sie am Ende den selben Wunschvorstellung hinterhergejagt wie ich?

Aber auch denen, die vorgaben, dass es ihnen scheißegal war… Irgendeine Richtung würden sie nehmen… Irgendeinen Weg würden sie gehen… Irgendwohin würden sie alle gehen.

Für den Augenblick, den ich auf den Versuch verwendete, sie zu erfassen… Ihre Motivationen… Die Leiden, die ich ihnen beimaß… Fühlte ich mich ihnen verbunden und war es aber doch nicht… Etwas stimmte nicht… Etwas war verdreht.

Wie empfanden sie den schwindelerregenden Kreislauf?… Die mit zuverlässiger aber ungnädiger Routine wie am Stamm schon halb verfaultes Herbstlaub fallenden Kalenderblätter. Die fünf Tage Arbeit, dann das Wochenende und jeden verschlafen, abgestorbenen, wehmütigen Sonntag. Wurden sie heimgesucht oder nicht heimgesucht von Dämonen? Wissend und verdrängend, oder nichts von beidem? Den unvermeidlichen Anbruch des nächsten Tages so lange wie möglich aufschiebend?… Das sengende Ticken der Uhr… Kraftlose Gewissheit und Demut um Mitternacht. Dunkelheit und dann das Morgengrauen. Der Kreislauf schließt sich… Man verschweigt es… Versucht zu funktionieren… Halt! Das war ja ich selbst… Oder bin ich es?… Ich… Ich bin… Gerade ein wenig vom Weg abgekommen, scheint mir.

Die Durchfallquote bei den Gesellenprüfungen zum Kfz-Mechatroniker lag bei etwas um die vierzig Prozent, die Lehrlinge, die auf dem Weg dahin ausgeschieden sind, nicht mitgezählt… In regelmäßigen Abständen zählte ich die Klasse durch… Im Verlaufe des ersten Lehrjahres waren wir auf zwanzig zusammengeschrumpft… Weniger Leute die es zu beobachten galt.

Meine Ausbildung hatte einen Monat später begonnen als normal… Rückblickend fällt es auf… Mein Leben war geprägt von verspäteten Ereignissen, verspäteten Einsichten, verspätete Liebe… Hiebe… Das verspätete, an vorgelebten Irsinnigkeiten abgeschaute, unreflektierte Streben nach undurchdachtem und undenkbar werdenden Glück… Das Wiesel ergötze sich weiterhin an der Möglichkeit, seine Belegschaft mit der Grundsanierung der heruntergekommenen Mietwohnung zu beschäftigen. Es verschwendete meine Lehrzeit… Welche wiederum eine Verschwendung von Lebenszeit bedeutete… Letzteres war mir noch nicht klar geworden… Das kam wiederum später.

Nachdem wir die Baustelle in der Mietwohnung unter einem endlos wütenden Herbsthimmel begonnen, den verregneten Winter verwendet und im Frühjahr immer noch nicht zu ende gebracht hatten, kam der Sommer. Nicht ausschließlich auf die Ersparnis von Heizkosten bedacht, stellte der große Macker den antiquierten Dieselofen ab und bald darauf öffnete sich die nächste Baugrube, gleichsam einem Schlund der Hölle.

194,70 ₽
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720 стр.
ISBN:
9783750211179
Издатель:
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