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38„Dieser ‚Save-the-World‘ – Komplex ist die psychologische Grundlage, von der aus sich Roosevelts amerikanischer Angriff auf alle Erdteile und damit der neue Imperialismus der Vereinigten Staaten entwickelt. In ihm vereinigt sich noch einmal jener ganze selbstgerechte Puritanismus, der die Amerikaner veranlaßt, mit naiven moralischen Wertungen die Völker entsprechend ihren eigenen Interessen in gute und schlechte einzuteilen. (…) Die letzte Auswirkung des amerikanischen Mythos mündet also in den Versuch, die ganze Menschheit davon zu überzeugen, daß sie nach amerikanischem Muster leben müsse.“ Giselher Wirsing: Der maßlose Kontinent. Roosevelts Kampf um die Weltherrschaft, Jena 1942, S. 431 f.

39Die „Entstehung des modernen Gewissens“, Kittsteiner, 1991, bricht mit der Spätaufklärung ab. Eine fortsetzende Skizze ist noch erschienen, in: H.D. Kittsteiner: Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert, in: Richard Faber (Hg.): Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 227-242. Teilweise überschneidet sich dieser Text mit dem hier abgedruckten.

40Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1979, S. 42 ff.

41Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III, a.a.O., 1991, S. 303 f.

42Ricœur, ebd., S. 304 ff.

43Ricœur, ebd., S. 344 f.

44Ricœur, ebd., S. 409.

45„Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo.“ Gilles Deleuze/ Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 41.

46Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York 2002, S. 394.

I. Geschichtsphilosophie

1. Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie
Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte
I. Eine bedrohte Erfahrung

Angesprochen ist in diesen Überlegungen nicht primär die philosophische Befragung der Geschichte nach dem Untergang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel, nicht die Hinwendung zu einem Nachdenken über Geschichte in jenem Zeitraum, den Herbert Schnädelbach in seiner Studie von 1974 als „Geschichtsphilosophie nach Hegel“ bezeichnet hat. Gemeint ist eine Rettung der Einsicht der klassischen Geschichtsphilosophie aus der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Denn diese vermeintlich untergegangene Geschichtsphilosophie ist nicht mit dem Hinweis auf ihre Teleologie zu kritisieren. Hinter der Teleologie verbirgt sich ein nach wie vor ungelöstes Problem, das der Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte. Ein Blick auf Immanuel Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784 erhellt die Ausgangssituation. Kant beginnt mit dem philosophischen Unwillen bei Betrachtung der Historie, dass die Menschen nicht wie vernünftige Weltbürger in ihrer Geschichte „nach einem verabredeten Plane im Ganzen“ verfahren. Die von ihm im Rückgriff auf eine „Teleologie in praktischer Absicht“ eingeführten Begriffe wie „Naturabsicht“ oder „Vorsehung“ zeigen nur, dass wir es mit dem Versuch einer Ordnungsstiftung im Bereich des Nicht-Planbaren zu tun haben. Die spezifischen Denkfiguren der Geschichtsphilosophie, so wie sie sich seit etwa 1780 herausbilden, sind eine erste wissenschaftliche Reaktion auf die Erfahrung, dass die Menschen, bei aller wachsender Herrschaft über die Natur sich in einen dynamisierten Geschichtsprozess hineingestellt sehen, den sie nicht bewusst „machen“ können. Ihre Lösungsversuche zeigen, dass sie dem objektiven Prozess eine „Vorsehung“ oder eine „Vernunft“ unterlegen, z.T. noch in der Übertragung der am Ende des Jahrhunderts schon in die Jahre gekommenen Physikotheologie. Ein auf der Moralphilosophie aufruhender „Gott“ soll zurechtbringen, wozu die Menschen aus eigener Kraft nicht in der Lage sind: Ihrer Geschichte einen der Moral zuträglichen Ausgang zu sichern.

Es ist dann leicht zu zeigen, dass Kant im Vierten Satz der „Idee“ eine teleologische Überformung von vermeintlichen „Mitteln“ liefert, und den gesellschaftlichen „Antagonismus“, der für sich selbst betrachtet auch zu ganz anderen Konsequenzen führen könnte, einer gnädigen „Naturabsicht“ unterstellt. Es geht hier aber nicht um Kants Antwort auf die Form der Geschichte, sondern um diese Form selbst. Und die besagt, dass der Mensch nicht Herr seiner eigenen historischen Entwicklung ist. Für den homo faber stellt diese Einsicht eine nicht zu unterschätzende Kränkung dar.1

Diese kränkende Einsicht wird auch gerne unterschlagen. Wer die Aufklärung nur als eine Fortschreibung der im 17. Jahrhundert einsetzenden Tradition der humanen Selbstbehauptung begreift, wird für diese genuine Einsicht des späten 18. Jahrhunderts blind bleiben. „Innerhalb der Geschichte der Neuzeit, besser: als Geschichte des neuzeitlichen Menschentums, versucht der Mensch überall und jedesmal aus sich selbst sich selbst als die Mitte und das Maß in die Herrschaftsstellung zu bringen, und d.h. deren Sicherung zu betreiben.“2 Wer so argumentiert, unterschlägt im Gefolge von Nietzsches Unterschätzung des 18. Jahrhunderts dessen Innovationen auf dem Gebiet des Geschichtsdenkens. Es ist eben nicht der Mensch „Mitte und Maß“ in der Geschichte des neuzeitlichen „Menschentums“, sondern er muss sich damit begnügen, zum Objekt eines über ihn hinweg prozessierenden Subjekts der „Geschichte selbst“ zu werden. Allerdings hat er dieses Subjekt libidinös besetzt; es soll mithelfen das zu realisieren, was die Menschen aus eigenem bewussten Handeln nicht herstellen können. Bei Hegel verlässt die Geschichtsphilosophie ihren bloß hypothetischen Charakter in praktischer Absicht und scheint zu einem wirklichen Wissen werden zu können, das diese Unterwerfung unter eine „List der Vernunft“ begreifbar macht; nichts Geringeres als eine dynamisierte Theodizee bietet Hegel seinen Hörern an.3 Von solchen Ansprüchen ist Kant weit entfernt; im Grunde ist seine Geschichtsphilosophie nur eine Hilfskonstruktion für die Moral – damit sie an der Welt nicht verzweifelt.

Teleologie also überlagert nur die Erfahrung eines Prozesses, der sich jenseits der Intentionen der Menschen bewegt, wenngleich er aus ihrem Handeln resultierte. Kant hat diese Grundkonstellation der Projektion von humanen Zielen auf die Geschichte bei gleichzeitiger Unfähigkeit, sie unmittelbar zu „machen“, gültig festgehalten: „Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zu Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Theile geht, da im Gegentheil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Theilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben und aufs Ganze als ein solches, welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluß erstrecken können; vornehmlich da sie, in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz schwerlich dazu vereinigen würden.“4 Es spricht aus der Erfahrung nichts dafür, dass sich an dieser Grundkonstellation seither irgend etwas geändert hätte.

II. Trauerarbeit an Hegel

Es gibt in der neu wieder erwachten Beschäftigung mit „Geschichtsphilosophie“ eine Tendenz, hinter Hegel auf Kant zurückzugehen.5Paul Ricœur hat in seinem Werk „Zeit und Erzählung“ diese Tendenz so umrissen: Es ist gerade die Trauer um das verschwundene absolute Wissen, das uns zu Kant zurückführt. Man musste zuerst Hegel gefolgt sein, um diesen Weg zurück gehen zu können. „Denn welcher Leser Hegels, der sich einmal wie wir von der Macht seines Denkens hat verführen lassen, verspürt nicht den Verzicht auf Hegel als eine Wunde, die im Gegensatz zu denen des absoluten Geistes eben nicht verheilt? Diesem Leser, so er nicht einer matten Sehnsucht verfallen will, ist der Mut zur Trauerarbeit zu wünschen.“6 Was ist Trauerarbeit? Trauerarbeit ist ein „intrapsychischer Vorgang, der auf den Verlust eines Beziehungsobjekts folgt und wodurch es dem Subjekt gelingt, sich progressiv von diesem abzulösen“. Freud präzisiert diesen Vorgang so: „Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.“7 Für unseren Fall bedeutet das nichts anderes, als eine Kritik der einzelnen Kategorien der Geschichtsphilosophie. Sie müssen sich befragen lassen, welche Hoffnungen sie erweckten, welche Enttäuschungen mit ihnen verbunden waren, schließlich, wie man sich „progressiv von ihnen ablöst“ – um ein kritisches Verhältnis zu ihnen zu gewinnen.8 Eine partielle Lektüre des sechsten Kapitels des dritten Bandes aus „Zeit und Erzählung“ soll den Übergang in diese Aufgabenstellung bilden.

Ricœur lässt die „Hegelsche Versuchung“ damit beginnen, dass er an die Stelle der vormaligen „Universalgeschichte“ die „Weltgeschichte“ setzt und seine Zuhörer mit einer philosophischen Zumutung konfrontiert. Nachdem er in pädagogischer Absicht die „Arten der Geschichtsschreibung“ durchgegangen ist, geht er zum „Begriff der Philosophie der Weltgeschichte“ über: „Der einzige Gedanke, den sie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist.“9 Für den Historiker – so Ricœur – bleibt diese abrupte Einführung der Vernunft bloße Hypothese – für den Philosophen Hegel ist sie die Ausführung des Satzes aus der „Rechtsphilosophie“: „Was ist, ist vernünftig – und was vernünftig ist, ist.“ In einem Fußnoten-Kommentar zieht Ricœur die Linie zum Theodizeeproblem aus: So kann nur jemand reden, der mit der Behauptung auftritt, die Rolle des Bösen in der Geschichte begriffen zu haben: „Solange das Böse nicht seine Stelle im großen Weltplan gefunden hat, bleibt der Glaube an den Nous, an die Vorsehung oder den göttlichen Plan in der Schwebe.“ Denn in der Tat endet der Abschnitt über den allgemeinen Begriff der Weltgeschichte mit einer verzeitlichten Theodizee. „Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise noch in abstrakten, unbestimmten Kategorien versucht hat: das Übel in der Welt überhaupt, das Böse mit inbegriffen, sollte begriffen, der denkende Geist mit dem Negativen versöhnt werden; und es ist in der Weltgeschichte, daß die ganze Masse des konkreten Übels uns vor die Augen gelegt wird.“10

Die denkende Betrachtung der Geschichte soll nicht bei einem abstrakten „Endzweck“ verweilen, der Zweck soll sich durch seine Mittel realisieren. „Und hier stoßen wir denn auch auf die allzu berühmte These von der List der Vernunft.“ Ricœur bettet sie in eine allgemeiner gefasste „Theorie der Handlung“ ein. Das handelnde Subjekt soll und muss zu seinem Recht kommen, indes: „Jeder, der etwas tut, erzielt ungewollte Wirkungen, so daß seine Handlungen seiner Intention entgleiten. Als Regel ist festzuhalten, daß in der unmittelbaren Handlung etwas Weiteres liegen kann als in dem Willen und Bewußtsein des Täters.“11 Wenn man davon ausgeht, dass dies die Erfahrung der Generation gewesen ist, die Zeitgenossin der Französischen Revolution war, dann hat man einen historischen Fixpunkt gewonnen, von dem her diese Frage zunächst bei Kant und Schelling gestellt worden ist.12 Geschichte vollzieht sich im eigentlichen Sinne „bewusstlos“: die Menschen sind einem historischen Verhältnis unterworfen, „kraft dessen (sie) durch ihr freies Handeln selbst, und doch wider ihren Willen, zur Ursache von etwas werden müssen, was sie nie gewollt (…) haben.“13 Dieses Verhältnis zur Geschichte hat jedoch bis heute nicht aufgehört zu existieren – und insofern wird die Größe des Hegelschen Versprechens erst recht deutlich. Ricœur resümiert es in Hinblick auf die Stufen der ursprünglichen und der reflektierenden Geschichte: „Für die ‚ursprüngliche‘ oder die ‚reflektierende‘ Geschichte wäre dieses unbeabsichtigt freilich das letzte Wort. Nicht aber für die ‚List‘ der Vernunft, die gerade das Unbeabsichtigte zur Absicht des Weltgeistes werden läßt.“14 Nicht nur im Sinne Sigmund Freuds gäbe es demnach ein „Unbewusstes“ – es gibt ein Unbewusstes auch in der Geschichte – und der Hegelsche Weltgeist klärt uns über seine Zwecke auf. Der Anspruch ist ungeheuerlich. Seine unmittelbare Folge war die Kritik an Hegel. Andererseits: Geht man auf die ungewollten Nebenfolgen des Handelns zurück, die nicht mehr von einer „List der Vernunft“ vermeintlich erhellt werden, so landet man im Helldunkel von unbegriffenen historischen „Hintergrundmetaphern“. Wir kommen auf dieses Problem zurück.

„Man muß bekennen, daß eine Kritik Hegels unmöglich ist, die mehr zum Ausdruck bringen kann als unsere schiere Ungläubigkeit angesichts des entscheidenden Satzes: ‚Der einzige Gedanke, den sie (die Philosophie) mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist.‘ Dies ist das philosophische Credo, das die List der Vernunft bloß apologetisch verstärkt und das der Stufengang in die Zeit projiziert.“ Man konnte Hegel nur verlassen. Ricœur sieht im Ausgang aus dem Hegelianismus – ob mit Kierkegaard, Feuerbach oder Marx, mit der deutschen Historikerschule oder mit Nietzsche – die Grundlage des uns heute geläufigen neueren Denkens. Was können wir nicht mehr mitmachen? „Für uns fällt ein für allemal auseinander, was sich für Hegel deckt: Geist an sich, Entwicklung, Unterschied, die zusammen den Begriff des Stufengangs der Entwicklung ausmachen.“ Nach Ricœur hat Hegel in einem günstigen Moment des „Eurozentrismus“ geschrieben, in einer Zeit, die für uns hinter den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verschwunden ist: „Der politische Selbstmord Europas während des Ersten Weltkriegs, die ideologische Spaltung im Gefolge der Oktoberrevolution und die neue Randstellung Europas auf der Weltbühne infolge der Abschaffung der Kolonialherrschaft sowie der ungleichen – und wohl auch antagonistischen – Entwicklung, die die Industrienationen dem Rest der Welt entgegensetzt, all das führte zum Tod“ – nicht nur des Eurozentrismus, sondern auch der Hegelschen Philosophie. Der Unterschied hat gegen den Stufengang revoltiert; der Weltgeist zerfällt nach Zweck und Mittel wieder in die membra disjecta einer unmöglichen Totalisierung. „Der Ausdruck ‚List der Vernunft‘ macht uns nicht einmal mehr neugierig: er stößt uns eher ab, wie der mißratene Trick eines auftrumpfenden Zauberkünstlers.“15

Die „Fabel aller Fabeln“ kann nicht geschrieben werden. „Der Ausgang aus dem Hegelianismus bedeutet, daß man darauf verzichtet, die höchste Fabel zu entziffern.“ Dieser Verzicht – wir können nicht mehr wie Hegel, sondern nur noch nach Hegel denken – ist allerdings schmerzhaft. „Mut zur Trauerarbeit“ soll nun von Hegel auf Kant zurücklenken: „Überdies ist eine Rückkehr zu Kant erst nach einem notwendigen Umweg über Hegel möglich. (…) Hegel (…) hat uns die Geduld des Begriffs gelehrt. (…) Und wenn wir auch nicht mehr daran glauben, daß diese großen Vermittlungen in einem absoluten Wissen kulminieren, das in der ewigen Gegenwart der Kontemplation ruht – so ist es doch gerade die Trauer über das absolute Wissen, die uns zur Kantischen Idee zurückführt, die nunmehr den Horizont der historischen Vernunft bildet.“16 Sicherlich – eine „Idee“, die sich auf das „Ganze“ der Geschichte nur „erstreckt“ (vgl. Anm. 4) ist etwas anderes als die Behauptung einer gewussten Vermittlung von Zweck und Mittel; die Erneuerung einer „Theodizee“ ist massiver als eine „Teleologie in praktischer Absicht“, die letztlich Geschichtsphilosophie nur als Hilfskonstruktion für moralisches Handeln ausweist. Man kann – bei aller Kritik – von der „epistemischen Bescheidenheit“ der Kantischen Geschichtsphilosophie sprechen und betonen, dass für ihn teleologische Prinzipien nur regulativ, nicht konstitutiv für die Systematisierung der Erkenntnis sind.17 Und dennoch: Die Vorformen der „List der Vernunft“ in der Unterordnung der „Mittel“ unter einen „Zweck“ finden sich auch schon im 4. Satz der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ – und der Sündenfall der Geschichtsphilosophie, das Ineinanderschieben von Spekulation und Empirie ist hier ebenfalls schon angedeutet: „Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist. Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke.“18 Es ist dieser Anspruch an die Erfahrung, etwas vom Gange der Naturabsicht zu entdecken, der Kant in die späte Theorie des „Geschichtszeichens“ hineinführt. Das Geschichtszeichen ist noch keine Vermittlung im Hegelschen Sinne; es überlagert lediglich ein historisches Ereignis – die Französische Revolution – mit einem darüberschwebenden erhabenen Enthusiasmus des nicht-involvierten Königsberger Beobachters.

III. Orientierung am „Geschichtszeichen“

Doch bevor wir mit aller gebotenen Vorsicht hier anknüpfen, müssen wir uns noch einmal Ricœurs Darstellung des Zusammenbruchs der Hegelschen Geschichtsphilosophie zuwenden. Die von ihm genannten Denker: Kierkegaard, Feuerbach, Marx und Nietzsche beginnen zwar alle mit der Revolte des Einzelnen gegen die Vorherrschaft des Allgemeinen – noch Nietzsche schreibt streckenweise wie ein zu spät gekommener Junghegelianer. Nur Marx schert aus der Phalanx aus und kehrt, bei vergleichbaren Anfängen, später zu einer erneuerten Vorstellung von einem vorherrschenden Allgemeinen zurück. Die Grundlagen sind schon in der „Deutschen Ideologie“ gelegt – in der Transformierung der Herrschaft des Weltgeistes in die Tyrannei des Weltmarktes. Genau an diesem Punkt hat sich Marx aber im Durchgang durch die Formen der Kapitalbewegung noch einmal von Hegel einfangen lassen; ausgerechnet im Kapitel über den „Tendenziellen Fall der Profitrate“ lenkt er wieder in ein teleologisches Zweck-Mittel-Denken ein.19 Schlägt man diese teleologische Überlagerung bei Marx weg, dann bleibt zunächst die Idee eines nichtteleologisch vorversicherten Allgemeinen, eines historischen Prozesses, der sich blind aber dynamisch in die Zukunft entwirft. Insofern stehen selbst diese von Marx hinterlassenen gewaltigen Ruinen mit ihrem strengen Formbegriff – dem der Wertformen – quer zu allen Vorstellung einer „postmodernen“ Geschichtsauffassung, der Geschichte zu einer „riesigen formlosen Masse“ geworden ist, durch die sich jeder Historiker gleichsam „privat“ hindurchgraben kann.20 Mit anderen Worten: Man wird den Weltmarkt und seine das Einzelne allegorisierende Macht nicht dadurch los, dass man sich beleidigt von ihm abwendet. Vor diesem Hintergrund ist nach dem kritischen Umgang mit aller – wie Lukács es einmal genannt hat – „geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei“ zu fragen.21

Mit dem Verzicht auf Teleologie bei Marx ist etwas anderes gewonnen als mit dem Verzicht auf Teleologie bei Hegel. Hier ist die Idee einer „absoluten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit“ zuschanden gekommen;22 bei Marx bleibt hinter der Überlagerung des kapitalistischen Verwertungsprozesses mit einem sozialistischen Ziel eben dieser Prozess ohne Wahrheit übrig. Erledigt ist allerdings dann die Vorstellung, dieses Prozesses jemals Herr werden zu können – ein Herrentraum, den Nietzsche und Heidegger in ihrer Weise noch einmal geträumt haben. Nach 200 Jahren schlechter Erfahrung mit den Versuchen, Geschichte als Ganze vermeintlich human zu gestalten, könnte sich die Menschheit allmählich einmal daran gewöhnen, mit einer nichtmachbaren Geschichte zu leben, ohne dies als Kränkung des homo faber zu empfinden. Was bleibt, ist das Bedürfnis, sich in dieser Geschichte zu „orientieren“; dafür sind aber flexiblere Horizonte hinreichend, als es bislang scheinen konnte.

Für einen Versuch, Kants Theorie des „Geschichtszeichens“ umzudenken, scheint es mir notwendig zu sein, auf die beiden von Reinhart Koselleck entwickelten, bei Paul Ricœur diskutierten Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zurückzugehen. In Ricœurs Lektüre kommt dem über Marx eingeführten Problem der Nicht-Machbarkeit der Geschichte ein etwas größeres Gewicht zu als bei Koselleck. Er selbst drückt das so aus: „Das Thema der Beherrschbarkeit der Geschichte beruht also auf dem fundamentalen Verkennen jener andren Seite des Geschichtsdenkens (…), nämlich der Tatsache, daß wir von der Geschichte affiziert werden und uns durch die Geschichte, die wir machen, selbst affizieren.“23 Betrachtet man in diesem Rahmen das Sich-Orientieren in der Geschichte weiterhin von der Möglichkeit abhängig, ihre „Zeichen“ lesen zu können, und führt man als vermittelnde Kategorie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont den Symbolbegriff Ernst Cassirers ein, dann zeigt sich, dass ein Wahrnehmungserlebnis als sinnliches Erlebnis, immer schon einen Bedeutungsüberschuss mit sich trägt, der das einzelne Wahrnehmungsphänomen auf ein „Sinn-Ganzes“ bezieht. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont schaffen symbolische Formen der Weltauslegung, die dann selbst wieder als „transzendentale“ Vorbedingungen neuer Wahrnehmung gelten können. Wie sich an Cassirers Auseinandersetzung mit Simmel zeigt, hätten wir es dann mit symbolischen Formen oder Zeichen zu tun, die keinen historischen Horizont endgültig abschließen, sondern die dazu geeignet sind, Verfestigungen auch wieder aufzubrechen. Eine unilinear-teleologische Geschichtsauffassung ist im Rahmen dieses Denkens nicht mehr möglich. Die antizipierten Erwartungshorizonte und die aus ihnen durch Rückprojektion auf Ereignisse oder Geschichtsformen gewonnenen „Geschichtszeichen“ werden versuchsweise aufgebaut; sie können sich pluralistisch selbst kritisieren.

Problematisch bei Cassirer bleibt, dass er zur „unbewussten Produktion“ von Geschichte keinen rechten Zugang zu haben scheint. Die am weitesten vorgeschobene Position zur „Dechiffrierung“ von Dingwelten, die zugleich kapitalistisch produzierte Warenwelten sind, hat nach wie vor Walter Benjamin geliefert; insofern besteht überhaupt kein Grund, sich von seinem Denken abzuwenden oder es gegen irgendwelche Gerätschaften aus postmodernen Quincaillerien einzutauschen. Wenn die Dinge ihre „surrealistische“ Miene aufsetzen, besteht ein Moment der Erkennbarkeit. Jetzt ist nicht ein sinnhafter Erwartungs-Horizont die Voraussetzung für eine Rückprojektion auf den Erfahrungsraum der Gegenwart, die Wahrnehmung schließt sich auch nicht zu einer gerundeten „symbolischen Form“ zusammen, sondern innerhalb eines sinnlosen Ganzen tauchen Konfigurationen auf, die als Ausdruck unbewusster Ängste oder Vorahnungen im Umgang mit dem Nicht-Machbaren gelesen werden können. Der Gebrauchswert in seiner bestimmten Form – das Design der Waren – wird vom Wertcharakter gleichsam zensiert; was entsteht, ist ein entstellter Gebrauchswert, der aber in seiner Entstellung zum „Zeichen der Zeit“ werden kann. Benjamin benutzte dafür den Begriff „Phantasmagorie“. Die Entzifferung der Waren als Phantasmagorien der träumenden – ihre Geschichte unbewußt verrichtenden Menschen, das wäre das Benjaminsche Äquivalent zum Kantischen „Geschichtszeichen.“24 Man kann die Genese der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie als ihre Geburt aus der Frage nach dem Geschichtszeichen verstehen; war damit ihr Sündenfall verknüpft, so kann die Rückgängigmachung dieses Sündenfalls wiederum nur bei der Frage nach der Orientierung in der Geschichte ansetzen.

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