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V. Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität

Wenn man fragt, ob das Zeitalter der Revolutionen beendet sei, dann ist man über Marx hinaus. Denn Marx ist der letzte Methusalem des teleologischen Denkens, auch wenn sich seine Teleologie darauf beschränkt hatte, in der Bewegung des kapitalistischen Substanz-Subjekts die krisenhaften Vorbedingungen für die revolutionäre Tat der Arbeiterklasse bereitzustellen. Insofern hatte Marx die politische an die ökonomische Revolution gebunden und in der kapitalistischen Krise noch einmal eine „List der Vernunft“ am Werke gesehen. Die Geschichte des sozialistischen Denkens zeigt selbst schon eine Entkoppelung dieser Prämissen; als die Oktoberrevolution in Russland dann stattfindet, ist sie der Akt einer Kaderpartei und keineswegs notwendig im Sinne von Marx. Inzwischen hat der globale Weltmarkt als der Nachfahre des Weltgeistes dieses „sozialistische“ Gebilde wieder in sich zurückgenommen. Nun zeigt es sich: Die ökonomische Umwälzung aller Verhältnisse durch das Kapital war die eigentliche Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts; die sozialistischen Revolutionen waren nur die Reaktion darauf. So ist das, was Marx zusammengedacht hatte, heute auseinandergefallen. Der unbewussten Einsicht in die Unentrinnbarkeit des Kapitalverhältnisses korrespondiert ein frei flottierender Enthusiasmus, der sich in der nun auch schon wieder am Ende ihrer Herrlichkeit angekommenen „Postmoderne“ an Geschichtszeichen relativ beliebiger Art attachieren konnte.

Ich hatte oben eine revolutionäre von einer zivilisationskritischen Linie im deutschen Denken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterschieden. Die Unterscheidung darf nicht zu streng sein, denn beide Linien überschneiden sich vielfach und bilden in der Zeit um den Ersten Weltkrieg ein brisantes Gemisch. Romantisches Denken in der entzauberten Welt zieht anhand einer Passage aus Thomas Manns Doktor Faustus einige Linien dieses Selbstverständnisses nach. Die als Stufe der „Heroischen Moderne“ charakterisierte Grundhaltung zur Geschichte versucht sich an der Sinngebung des Sinnlosen. An einigen Büchern und programmatischen Verlautbarungen des Eugen Diederichs Verlags in Jena wird dieses Denken näher umrissen: Immer ist es auf der Suche nach einer Kraftzufuhr, denn um diesen an sich selbst sinnlosen Prozess des Geschehens noch bändigen zu können, bedarf es offenbar übermenschlicher Kräfte, die schließlich fichteanisch im Rückgriff auf die Deutschen als das Urvolk auch gefunden werden. So gerät das romantische auf die abschüssige Bahn des völkischen Denkens.

Oswald Spengler neben Thomas Mann zu stellen kommt nicht von ungefähr. Der Schriftsteller war fasziniert von dem Denker der morphologischen Welt-Geschichte, von dem er sich zunächst einen schwerelosen Übergang in die Zivilisation versprochen hatte. Am 5. Juli 1919 schreibt er: „Man muß sich kontemplativ stimmen, auch fatalistisch-heiter, Spengler lesen und verstehen, daß der Sieg England-Amerikas die Civilisierung, Rationalisierung, Utiliarisierung des Abendlandes, die das Schicksal jeder alternden Kultur ist, besiegelt und beendigt. (…) Was nun kommt, ist die angelsächsische Weltherrschaft, d.h. die vollendete Civilisation. Warum nicht? Es wird sich ganz komfortabel unter ihr leben lassen.“33 Welch ein Irrtum. Die Zivilisation Spenglers war nicht die „Zivilisation“ des Westens, sondern der Endkampf zwischen „Geld“ und „Blut“ im Zeichen des Cäsarismus. Der Erfolgstitel: Der Untergang des Abendlandes täuscht. Nichts geht hier unter – außer der Kultur. Der Erfolg Spenglers beruht darauf, dass er den Deutschen erklärt, der Weltkrieg sei noch gar nicht verloren und zu Ende. Er wird nur im Rahmen jener späten Endform jeder Kultur, der Zivilisation, weitergeführt. Darauf soll man sich einrichten und sich dafür „in Form“ bringen. Die kleine Skizze Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen endet mit dem Verweis auf einen jungen Soldaten, der 1941 von einem kleinen Büchlein mit Aphorismen Spenglers in Form gebracht werden wollte.

Dem losen Geplauder der Studenten im Doktor Faustus und dem in Form gebrachten Oswald Spengler wird nun ein Denker entgegengesetzt, der auf den Schultern Nietzsches den Terminus der „Weltverdüsterung“ aufnimmt und ihn 1935 gegen Russland und Amerika zugleich wendet. „Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.“34 Martin Heideggers Amerika als der Ursprungsort der Weltverdüsterung wird auf seine historische Situierung hin befragt. 1935 ist Heideggers Enthusiasmus für den Nationalsozialismus (genauer gesagt: für einen von ihm er-dachten, eigenen Nationalsozialismus)35 schon der Skepsis gewichen und im Übergang zu den „Beiträgen zur Philosophie“ begriffen.36 Gleichwohl glaubte er 1935 noch die Rolle des Volkes in Europas Mitte genau zu kennen. Es ist die Bändigung der Gefahr der Weltverdüsterung – der geistige Zweifrontenkrieg vor dem wirklichen. Diese Denkfigur wird in den weiteren Umkreis der damaligen amerikakritischen Literatur gestellt. Durch die Ereignisse des 11. Septembers 2001 und der patriotischen Auslegung dieses Geschichtszeichens seitens der USA, ist dem Wiederabdruck dieses Textes von 1997 eine gewisse Aktualität zugewachsen. Der Aufsatz endete mit der Warnung, sich nicht allzu schnell den gängigen Klischees der deutschen Amerikadeutung37 anzuschließen. Es ist wahr: das Amerika des George W. Bush verdient Kritik; es bedarf sogar der Kritik. Diese Kritik kam früher von links und von rechts und hatte zum Fundament immer die These, dass die Europäer, insbesondere die Deutschen, eine bessere Gesellschaftsform in historischer Bereitschaft hielten. Diese Prämisse darf man in der Globalisierungsmoderne getrost fallen lassen. Heute kritisiert bestenfalls Demokratie „Demokratie“, eine Spielart des Kapitalismus kritisiert eine andere. Es geht um keinen gesellschaftlichen Gegenentwurf mehr, sondern um den Streit um den besten Kapitalismus. Das sollte man sich vergegenwärtigen, sonst endet man sehr schnell beim Duktus des Maßlosen Kontinents des Giselher Wirsing von 1942, selbst wenn sich in diesem Buch Passagen finden, die heute in jeder Tageszeitung stehen könnten.38

Erkenne die Lage. Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken. Auch das klingt aktuell. Gemeint ist aber die Auslegung einer Sentenz von Carl Schmitt, der Gedanke, dass Gott mit uns spiele, könne ebenso sehr eine optimistische Theodizee wie eine verzweifelte Ironie hervorbringen. Die Ironie wird durchgespielt anhand Hegels Kritik an den Romantikern, denn er selbst hielt eine substanziellere bereit: die Ironie des Weltgeistes, der die Intentionen der Akteure prismatisch bricht und zu seiner eigenen Sache macht. Mit der Kritik an der Geschichtsphilosophie zerfällt diese spielerische Ironie. Der Ernstfall bricht in die Geschichte ein. Die Akteure betrachten sich nun selbst als die letzten Instanzen des historischen Handelns. Sie spalten sich auf in Freund und Feind, doch scheint hier eine gewisse Asymmetrie am Werk. Denn Carl Schmitts „Feind“ kämpft nicht mit offenem Visier. Die anglo-amerikanische Kampfeinheit „Ethik & Ökonomie“ bedient sich politisch der Weltmoral des Völkerbundes und ist der deutschen Traditionsfirma „Freund & Feind“ haushoch überlegen. Seinem Glossarium vertraut Carl Schmitt seinen späten Ärger über die Ironie an: die elende Selbstgefälligkeit, mit der Hegel sich mit der „Ironie“ in der Geschichte identisch gewusst habe. C.S. hingegen sieht sich als Opfer dieser Ironie in doppelter Weise – habe er doch zuzeiten mit „intensivster Ironie“ gearbeitet, dadurch aber „Caliban/Papageno“ in eine Prüfung versetzt, die er nicht bestehen konnte.

VI. Geschichtsschreibung und Gedächtniskultur

Der Text über Carl Schmitt endet mit der Bemerkung, man brauche sich über die Zukunft der Ironie keine Sorgen zu machen, denn die Erinnerungskultur in Deutschland bringe mit ihrem Denkmals-Betrieb von eitlen Auslobern, undurchsichtigen Jury-Entscheidungen und geschäftstüchtigen Künstlern langsam aber sicher einen ironischen Tonfall in die düsterste Epoche der deutschen Geschichte. Anstatt mit der Ermordung der europäischen Juden beschäftigt sich der literarische Saus in den Feuilletons nun mit Denkmälern über die Ermordung der Juden. Vielleicht war es politischerseits sogar so gewollt. Bedenken dieser Art ist der dritte Abschnitt der Textsammlung gewidmet.

Er beginnt mit einem verwilderten Aufsatz, der mit Nietzsche einsetzt. Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte. In ihm überlagern sich geschichtsphilosophische Erwägungen mit Forschungen zur Geschichte des (deutschen) Gewissens.39 Nietzsche variiert zum Lob des Vergessens den Satz Goethes, der Handelnde sei immer gewissenlos. Nach diesem Befund dürfte die politische Handlungsfähigkeit nicht zu viel Wissen und Gewissen haben – sonst wird sie gelähmt. Ist dieser Satz heute nicht zeitgemäß? Dieser Frage stellt der Text ein Lob des Erinnerns entgegen – um dann in einem Exkurs zum Deutschen Gewissen den „Aufbruch in das transmoralische Gewissen“ zu beschreiben – ein Terminus von Paul Tillich, der jenseits seiner intendierten Bedeutung mir brauchbar scheint für die Darstellung der deutschen Befindlichkeit in den 2oer/3oer Jahren. Ein Vergleich zwischen den Endsituationen der beiden Weltkriege schließt diese Überlegungen ab. Max Scheler konnte 1918 noch von „Reue und Wiedergeburt“ sprechen – Karl Jaspers in seinen Heidelberger Vorlesungen über die Schuldfrage vom Wintersemester 1945/46 kann das nicht mehr. Seither leben die Deutschen mit einem zerrissenen Selbstbewusstsein, auch wenn sie immer wieder versuchen, es zu flicken. Und sie stehen vor der Aufgabe, vor dem Hintergrund dieses Gewissens dennoch politisch zu handeln. Eine feine psychologische Beobachtung Nietzsches zeigt die Schwierigkeiten mit der zerrissenen Identität: „‚Das habe ich gethan‘ sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht gethan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtnis nach.“

Der nachfolgende Aufsatz „Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung ist noch nicht zu Ende gedacht; er endet mit einer Frage. Einmal geht es um die Artikulierung eines Unbehagens an der ausufernden „Gedächtniskultur“, in der sich politisch geforderte Korrektheit mit dem Kunstbetrieb verbündet hat. Dabei heraus kommen Denkmäler als politische Allegorien, in denen das Design-arsenal einer epigonalen Moderne zum halb-verrätselten Träger einer Sinndeutung wird, die der Betrachter schon im Voraus weiß. Wo entsteht hier historische Einsicht? Es wirkt eher wie das Ritual einer Selbstbestätigung. Wäre nicht eine Rückkehr zu einer kritischen Geschichtsschreibung der zwar beschwerliche, aber einzig gangbare Weg? Anhand des Buches „Zachor. Erinnere Dich!“ von Yosef Hayim Yerushalmi werden diese Spannungen zwischen Geschichtsschreibung und kulturellem „Gedächtnis“ aus jüdischer Sicht beschrieben. Denn sobald Geschichtsschreibung – frei nach Nietzsche – dem Leben dienen soll, schleichen sich Mythen ein. Kritische Historiker hingegen, die sich den Mythen verweigern, können eine umfassende Sinnstiftung nicht bieten, es bleibt, wie Yerushalmi konstatiert hatte, ein Unbehagen in der modernen Geschichtsschreibung. Nun ist jedoch keine Geschichtsdarstellung ganz frei von solchen Bezügen; sie schleichen sich ein über die „Wertbeziehung“ zum einen, oder über „Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie“ zum andern. Nimmt man den ersten Ansatz, dem faktisch die Mehrzahl der Historiker folgt, dann stellen sich zwei Probleme. Zum einen sollen direkte politische „Werturteile“ ausgeklammert bleiben. Dieser Fall ist an einem krassen Beispiel anhand einer Schrift von Ernst Nolte durchgespielt. Wichtiger ist aber das andere von Max Weber hinterlassene Dilemma. Aus der Perspektive seines „Objektivitätsaufsatzes“ von 1904 sind praktisch alle Wertbezüge gleichwertig. Das würde bedeuten, dass das gesamte politischkulturelle Wertspektrum von rechts bis links gleichberechtigt zum Ausgangspunkt des Herangehens an das historische Material werden kann. Natürlich gibt es ein gewisses Vetorecht der Quellen und es gibt den Punkt, an dem eine Darstellung in einseitige Geschichtsklitterung umschlägt. Es gibt aber auch eine breite Grauzone, denn die Quellen lassen zwar nicht alles, aber doch vieles mit sich machen. Meine Überlegung war: kann man theoretisch eine Hierarchie unter den Wertbeziehungen begründen? Das läuft auf die Frage hinaus: Wer darf legitimerweise wen kritisieren? Die in diesem Text nur erst angedeutete Antwort wäre es, eine Abstufung der Wertbeziehungen nach dem Maße zu begründen, in dem historische Mythen in sie eingegangen sind. Dieser Vorschlag folgt einem Hinweis Ernst Cassirers, der davor gewarnt hatte auf Stimmen zu hören, die zwischen Mythos und Geschichte keine klare Abgrenzung mehr machen.

Leider ist die Problemlage jedoch komplexer. Mit dem Schwinden der geschichtsphilosophischen Sinnstiftung ist eine Leerstelle entstanden, in die wieder Geschichtstheologie eingedrungen ist. Man kann sich das an den Thesen Über den Begriff der Geschichte von Walter Benjamin verdeutlichen. Mein Befund hinsichtlich der gegenwärtigen „Gedächtniskultur“ wäre es nun, dass aus Denkfiguren dieser Art heute ein theoretisch diffuses Mischgebilde entstanden ist, in dem bestimmte Wertbeziehungen quasi-theologisch überhöht werden. Ich habe anhand der Kritik Peter Novicks an der These von der „Einzigartigkeit“ der Vernichtung der europäischen Juden darauf verwiesen. Hält man sich an den Satz Kants: „Der kritische Weg ist allein noch offen“, dann müssen neue Fragen in die wissenschaftliche Arbeit am Holocaust eingebracht werden; sonst besteht die Gefahr, dass das „Eingedenken“ zum Ritual erstarrt. Es gibt eine bedenkenswerte Bemerkung von Paul Ricœur, an die man anknüpfen könnte. Auch sie fällt in Auseinandersetzung mit dem Buch Yerushalmis – und mit Hegel.

Vom Historiker werde moralische Neutralität erwartet, so etwa wie François Furet die bloß verherrlichende Geschichtsschreibung der Französischen Revolution kritisiert habe. „Doch wenn es um Ereignisse von größerer Nähe geht wie etwa Auschwitz, scheint eine moralische Neutralisierung, wie sie vielleicht angebracht ist, wenn man eine bestimmte Vergangenheit durch ihre distanzierte Betrachtung besser begreifen und erklären will, weder möglich noch wünschenswert zu sein. Hier erschallt vielmehr das biblische Losungswort aus dem Fünften Buch Moses: Zachor! (erinnere Dich!), das nicht zwangsläufig mit einer Aufforderung zur Geschichtsschreibung identisch ist.“ Aus dem Buch Yerushalmis hebt Ricœur hervor, „daß die Juden jahrhundertelang die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ignorieren konnten, sofern sie nur dem „erinnere Dich!“ (….) treu blieben, und daß ihr Zugang zur historischen Forschung im Zeitalter der Aufklärung in weitem Maße eine Folge der Assimilation an die nichtjüdische Kultur war, die sie umgab.“ Wenn man dennoch davon ausgehe, dass das „Heilige“ eine unausrottbare Dimension des historischen Sinns bleibe, ergeben sich für Ricœur zwei Denkwege. Zum einen unterlegt er Hegels aufblickende Verherrlichung der welthistorischen Individuen mit Rudolf Ottos „tremendum fascinosum“.40

Es gebe aber auch ein tremendum horrendum. „Das Entsetzen ist das Gegenbild der Bewunderung, wie der Abscheu das der Verehrung. Das Entsetzen wird von Ereignissen verursacht, die man nie vergessen darf. In ihm findet die Geschichte der Opfer ihren letzten moralischen Beweggrund. (….) Die Opfer von Auschwitz vor allem sind es, die in unserem Gedächtnis alle Opfer der Geschichte vertreten. In ihnen, den Opfern, zeigt sich jene Kehrseite der Geschichte, die keine List der Vernunft zu rechtfertigen vermag und die vielmehr den Skandal jeder Theodizee der Geschichte offenbart.“41 Bewunderung wie Entsetzen aber beziehe sich jeweils auf ein Einmaliges in der Geschichte; beide erfüllen eine Individualisierungsfunktion. Damit entziehe sich das Entsetzen der kausalen Erklärung, die Zusammenhänge herstellt. „Der Konflikt zwischen der Erklärung, die Zusammenhänge herstellt, und dem Entsetzen, das vereinzelt, erreicht hier seinen Höhepunkt, und doch darf dieser latente Konflikt nicht zu einer ruinösen Dichotomie führen zwischen einer Geschichte, die das Ereignis in der Erklärung auflöste, und einer rein emotionalen Entgegnung darauf, die einen davon dispensiert, das Undenkbare zu denken.“ Was er hier beschreibt ist nichts anderes, als der Konflikt zwischen Gedächtniskultur und Geschichtsschreibung. Ricœur bemüht sich, einen dialektischen Zusammenhang zwischen Erklärung und Entsetzen herzustellen: „Je mehr wir historisch erklären, um so entrüsteter sind wir; je mehr uns das Entsetzen faßt, um so mehr versuchen wir zu begreifen.“ Den Stand der gegenwärtigen Literatur zum Holocaust sieht er noch jenseits dieser Dialektik: „Entweder das Zählen der Leichen oder der Bericht der Opfer.“ Zwischen beiden – das ist seine theoretische Forderung – müsste eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche historische Erklärung angesiedelt sein, die den Regeln der singulären Kausalzurechnung gehorchte. Er fordert ein negatives Epos der Opfer, so wie es einmal ein Epos der Helden gegeben habe, denn das Leiden der Opfer schreie „weniger nach Rache als danach, erzählt zu werden.“42

In diese wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die zugleich nicht gedächtnislos sein solle, müsse die literarische Fiktion mit eingehen, der die Rolle der Individualisierung zukomme. Diese ganze Passage findet sich kurz vor jenem Abschnitt, in dem Ricœur kategorisch fordert: „Auf Hegel verzichten.“

In ihm kritisiert er, wie bereits oben erwähnt, die Unmöglichkeit, die Fabel aller Fabeln – das gewusste Ganze der Weltgeschichte zu erzählen und jedes Ereignis im Rahmen einer dynamisierten Theodizee an seinen begriffenen Platz zu stellen. Gleichwohl sieht Ricœur deutlich, dass mit einer Kritik an Hegel das Problem der Nicht-Beherrschbarkeit der Geschichte nicht gelöst ist.43 Geht man zur Verdeutlichung hier noch einmal auf Burckhardts Hegelkritik zurück, so kann es die Aufgabe des Geschichtsschreibers nur sein, vom „duldenden und handelnden“ Menschen auszugehen. Das Leiden und Handeln der Akteure ist aber eingespannt in diesen Rahmen der Nicht-Verfügbarkeit. Die bewusst in der Geschichte handelnden oder duldenden Menschen sind einem ihnen unbewussten Gesamtprozess eingeordnet, der aus ihren Aktionen hervorgeht, aber jenseits ihrer Kontrolle sich bewegt. Erst die Einbeziehung dieses Rahmens würde wohl jenes Epos schreibbar machen, das Ricœur avisiert. „Täter“ und „Opfer“ können dann keine letzten Kategorien des historischen Verstehens sein, genauso wenig wie wir versuchen würden, Geschichte mit den Kategorien „Freund“ und „Feind“ bei Carl Schmitt zu schreiben. Die Geschichten von Freunden und Feinden, von Tätern und Opfern sind in die Geschichte verstrickt. Ricœur hat diese condition humaine so formuliert, es seien handelnde Subjekte, „die versuchen, ihre Geschichte zu machen, und die die Übel erdulden, die aus diesem Versuch hervorgehen.“44

VII. Coda

Jedes Musiklexikon weiß es: Coda leitet sich ab vom lat. cauda, Schwanz, Schwänzchen. Dem durchgeführten Motiv fügt sie eine letzte Bestätigung hinzu oder ein Verklingen der Grundtonart. Unser Motiv war die Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte, durchgespielt in verschiedenen Sätzen. Der Text über die Frage, ob das Zeitalter der Revolutionen beendet sei, endete mit der Feststellung eines frei flottierenden Enthusiasmus. Der Enthusiasmus, den Kant zuerst an die Revolution gebunden hatte, hat sich mit deren welthistorischem Scheitern wieder von ihr abgelöst. Was wird aus ihm? Er wird an sich selbst revolutionär, der Prophet erschafft sich seine Massen und gebiert das Phantasma der revolutionären „Multitude“. Dem unkontrollierbar rasenden Prozess hat sich ein unkontrollierbar rasendes Denken anverwandelt. Es schleudert Bedenkenswertes, aber auch puren Unsinn aus sich heraus und nivelliert beides in einem kaum zu durchdringenden Wortdickicht. Rhizom. Intermezzo.45 Dieses Zwischenstück ist hier als Endstück, als Coda angehängt. Diese Coda variiert aber nicht den Grundton der hier versammelten Texte, sondern bietet ein kontradiktorisches Scherzo. „In Wahrheit nämlich sind wir die Herren dieser Welt, weil unser Begehren und unsere Arbeit sie fortwährend neu erschaffen. Die biopolitische Welt ist ein unerschöpfliches Zusammenwirken generativer Handlungen, deren Motor das Kollektiv (als Treffpunkt der Singularitäten) ist. Keine Metaphysik (es sei denn eine im Delirium liegende) kann behaupten, die Menschheit sei isoliert und machtlos.“46 Der Leser steht vor diesem Weltwunder ebenso ratlos wie der kleine Beobachter des Kosmos auf dem Titelbild von de Chirico. Unser Sammelband grüßt diese Herren der Welt aus dem Delirium der Metaphysik.

H. D. Kittsteiner

Berlin, 30. Juli 2003

Nachweise

Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, in: 19. Deutscher Philosophen-Kongreß Konstanz 1999, erweiterte Fassung in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1, Berlin 2000, S. 67-77.

Freiheit und Notwendigkeit in Schellings System des transcendentalen Idealismus – Zur Aktualität geschichtsphilosophischen Denkens, in: Moshe Zuckermann (Hg.): Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Band XXIX, 2000. Geschichte denken: Philosophie, Theorie, Methode, Gerlingen 2000, S. 85-104.

Jacob Burkhardt als Leser Hegels, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 511-534.

Ist das Zeitalter der Revolutionen beendet? in: Rüdiger Bubner, Walter Mesch (Hrsg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999, Stuttgart 2001, S. 429-447.

Romantisches Denken in der entzauberten Welt, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen-Diederichs-Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996, S. 486 – 507.

Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen, in: Alfred Opitz (Hg.): Erfahrung und Form. Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung eines transdisziplinären Problemkomplexes, Trier 2001, S. 147-160.

Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/97. Berlin 1997, S. 559 – 617.

Erkenne die Lage. Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie. Sprachen des Ernstes, Frankfurt am Main 2000, S. 233-252.

Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: Gary Smith/Hinderk M. Emrich (Hrsg.): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 133-174.

„Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung, in: Volkhard Knigge/ Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 306-326.

Empire. Über Antonio Negris und Michael Hardts revolutionäre Phantasien. (Originalbeitrag)

1Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hg. Vittorio Hösle, Hamburg 1990, Bd. I, S. 3-39.

2Isabella Far: Giorgio de Chirico, Herrsching 1979, S. 24/124. Es entwickelt sich allmählich zu meinem Lieblings-Titelblatt, denn ich hatte es auch schon für Kittsteiner (Hg.): Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien 1999 verwendet.

3Arrigo Boito: Mefistofele. Opera in un prologo, quattro atti e un epilogo, 1962 (Ricordi), S. 6 f.

4Immanuel Kant: Allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. VIII, S. 30.

5Kant, ebd., S. 17.

6Vico, Prinzipien, a.a.O., Bd. I, S. 142 f.

7Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt 1974, Bd. II, S. 98.

8Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S. 217.

9Vico, Prinzipien, ebd., S. 149 ff. – Karl Löwith hat diesen Punkt bei Vico herausgearbeitet: „Er begriff den Lauf der Geschichte sehr viel sachgemäßer, nämlich als eine vom Menschen geschaffene Welt, die aber zugleich überspielt wird durch etwas, das der Notwendigkeit des Schicksals näher ist als der freien Entscheidung und Wahl.“ Karl Löwith: Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen, in: Ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 9, Stuttgart 1986, S. 207.

10H.D. Kittsteiner: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M 1998.

11Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III, München 1991, S. 319 und S. 331.

12Saskia Sassen: Losing Control? Sovereignity in an Age of Globalization, New York 1996, S. XI ff.

13„Yet a global capital market could conceivably be nothing more than a vast pool of money for investors to play with; the power to discipline governments’ economic policy making is not inherent to it.“ Sassen, Losing Control, ebd., S. 41 f.

14Sassen, ebd., S. 49.

15Sassen unter Bezugnahme auf Susan Stranges Buch „Casino Capitalism“, ebd., S. 42.

16G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, S. 288 (§ 340).

17Karl Marx: Die deutsche Ideologie, Berlin 1962 (MEW, Bd. 3), S. 37.

18Einige Hinweise finden sich in H.D. Kittsteiner: Geschichtsphilosophie und Politische Ökonomie. Zur Konstruktion der historischen Zeit bei Karl Marx, in: Ders.: Listen der Vernunft, a.a.O., S. 110-131. – H.D. Kittsteiner: Karl Marx. 1968 und 2001, in: Richard Faber/Erhard Stölting (Hrsg.): Die Phantasie an die Macht? 1968 – Versuch einer Bilanz, Berlin 2002, S. 214 – 237.

19H.D. Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1980, S. 221.

20Um nur ein Beispiel zu geben: E. Günther Gründel: Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932.

21H.D. Kittsteiner: Die Stufen der Moderne, in: Hertha Nagl-Docekal/Johannes Rohbeck (Hrsg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, Darmstadt 2003, S. 91-117. – H.D. Kittsteiner: Die in sich gebrochene Heroisierung. Ein geschichtstheoretischer Versuch zum Menschenbild in der Kunst der DDR, in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag, Jg. 2, H. 3 (1994), S. 442-461.

22„Die verschiedenen Formen einer Kultur werden nicht durch eine Identität in ihrem innersten Wesen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sich ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt.“ Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt/M 1990, S. 337.

23„The determination to extend ‚human empire‘ reflected the most urgent need of an age confronted by dissolving standards of truth and knowledge. Control was the antidote to disarray.“ Theodore K. Rabb: The Struggle for Stability in Early Modern Europe, New York 1975, S. 53.

24„Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.“ Karl Marx: Die deutsche Ideologie.a.a.O. S. 70.

25Karl Marx: Das Kapital, MEW Bd. 23, Berlin 1962, S. 190.

26Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Kritische Studienausgabe, Hrsg. G. Colli/M. Montinari, München 1988, S. 45 f. und S. 57. – Letztere Einsicht schreibt Nietzsche Goethe zu.

27Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, Hg. Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt/M und Leipzig 1992, S. 53 (I, 55).

28H.D. Kittsteiner: Erinnern – Vergessen – Orientieren. Nietzsches Begriff des ‚umhüllenden Wahns‘ als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Dieter Borchmeyer (Hg.): ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘, Frankfurt/M 1996, S. 48-75.

29Vgl. dazu die Interpretation der Gnosis im Lichte von „Sein und Zeit“ bei Hans Jonas und den Umkehrschluss auf gnostische Elemente im Denken Heideggers. Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, Erster Teil, Göttingen 1988, S. 107. – Jacob Taubes: Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder Ein Streit um Marcion, einst und jetzt, in: Ders.: Vom Kult zur Kultur, München 1996, S. 173.

30Zu erinnern bleibt die tröstliche Versicherung des Jürgen Habermas: „Der Hauptteil des Buches vereinigt sieben Abhandlungen (….). Querverweisungen machen den Zusammenhang der Studien auch äußerlich sichtbar; er selbst muß sich bei der Lektüre erweisen.“ Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied 1963, Vorwort.

31Das war bereits der Tenor des Sammelbandes: H.D. Kittsteiner: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M 1998.

32Vgl. dazu: Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied 1981, S.127.

33Thomas Mann: Briefe, Hg. Erika Mann, Bd.1, 1889-1963, Frankfurt/M, 1961, S. 165.

34Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1987, S. 28.

35Heideggers Kehren in den Nationalsozialismus hinein und aus ihm wieder heraus werden genauer befragt in H.D. Kittsteiner: Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München 2004 (Fink Verlag).

36Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis), Frankfurt/M 1989, S. 509.

37Vgl. dazu den Überblick bei Ernst Fraenkel: Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, Köln und Opladen 1959.

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