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Zur Einführung

„Mir missfällt der Gedanke, mein Leben nicht unter Kontrolle zu haben.“ Neo, in: Matrix I 0 h – 25 min – 47/50 sec.

I. Erläuterung des Umschlagbildes

Umständlich erklärt Giambattista Vico seinen Lesern das Frontispiz seines Werkes von der „Neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“. Die Metaphysik in ekstatischer Haltung blickt in Gottes schauendes Auge der Vorsehung. Der Lichtstrahl von dessen Vorsehung bricht sich am Brustpanzer der Metaphysik, und ein Strahl dieses Wissens fällt auf die Statue Homers. Und indem Vico die poetische Weisheit Homers in seine neue Wissenschaft umformt, entsteht eine „rationale politische Theorie der göttlichen Vorsehung.“ Die Ausdeutung dieser Allegorie mitsamt allen emblematischen Details umfasst 42 Paragraphen auf 36 Druckseiten.1 Das Bild auf dem Titelblatt dieser Aufsatzsammlung ist einfacher zu erklären. Es handelt sich um einen Bühnenbildentwurf von Giorgio de Chirico zu einer Aufführung der Oper „Mefistofele“ des Arrigo Boito in der Mailänder Scala 1951/52.2 Boitos Adaption des Goetheschen Fausts fiel im Oktober 1875 in Bologna bei der Uraufführung durch, geriet in den Schatten von Gounods Margarete und wird relativ selten gespielt. De Chiricos Blatt bezieht sich auf den Prolog.

„Die Sonne tönt nach alter Weise

In Brudersphären Wettgesang,

Und ihre vorgeschriebne Reise

Vollendet sie mit Donnergang.“

„Der Anblick gibt den Engeln Stärke,

Da keiner dich ergründen mag,

Und alle deine hohen Werke

Sind herrlich wie am ersten Tag.“

„AVE, Signore de gli angeli e dei santi e dei volanti cherubini“ beginnt es bei Boito.3 Doch die hohen Werke sind bei de Chirico etwas durcheinander geraten, Sonne, Saturn, stürzende Sterne, Kometen. Der extraterrestrische Beobachter ist ebenso klein wie ratlos angesichts dieser chaotischen Himmelsmechanik. Ist denn nicht Gott ihr Schöpfer und Erhalter? Und vor allem: Galten nicht die supralunarischen Bewegungen am Himmel als ewig und vollkommen – im Gegensatz zur sublunarischen Welt des Menschen und seiner Geschichte?

Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ hatte diese Ordnung der Natur noch der Unordnung der Geschichte entgegengesetzt: „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete und vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringen, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?“4 Kants Ausflucht war es, der Physikotheologie – denn auf die spielt er an – eine Geschichtsphilosophie entgegenzusetzen, die das Ganze des menschlichen Geschlechts, obwohl es ohne „verabredeten Plan im Ganzen“5 zustande kommt, dennoch nach einer gewissen Ordnung vorrücken lässt.

Bereits Giambattista Vico hinterlässt seinen Lesern ein vergleichbares Problem. Die Philosophen, so sagt er, hätten sich bemüht, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur. Doch die Natur sei Gottes Werk und daher schwer zu erforschen. Dagegen könne es nicht in Zweifel gezogen werden, dass diese „politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.“6 Wir verstehen die Geschichte, weil wir sie selbst gemacht haben. Was auf den ersten Blick so einleuchtend klingt, ist die Lehre von der genetischen Definition, die auch Spinoza und Hobbes verwendet haben. Wir begreifen nur dasjenige, was unser Verstand selbst erschaffen hat.7 Vico hätte dann dieses Prinzip lediglich auf die Geschichte übertragen. Aber gerade da liegt das Problem. Gadamer hat es in Hinblick auf Dilthey und Vico so formuliert: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur geschichtlich erkennen, weil wir geschichtlich sind – haben wir uns damit wirklich eine erkenntnistheoretische Erleichterung verschafft? „Ist Vicos oft genannte Formel denn überhaupt richtig? Überträgt sie nicht eine Erfahrung des menschlichen Kunstgeistes auf die geschichtliche Welt, in der man von ‚Machen‘, d.h. von Planen und Ausführen angesichts des Laufs der Dinge überhaupt nicht reden kann? Wo soll hier die erkenntnistheoretische Erleichterung herkommen? Ist es nicht in Wahrheit eine Erschwerung?“8 Was Gadamer an dieser Stelle unterschlägt: Vico hat diese Erschwerung selbst bemerkt. Die „Welt der Völker“ ist von den Menschen gemacht, kein Zweifel. Aber die Natur der Menschen ist verderbt; sie sind von der Selbstsucht getrieben und verfolgen nur ihren eigenen Vorteil. Mit dem „Machen“ des Ganzen von Geschichte ist es menschlicherseits schlecht bestellt. Nur die göttliche Vorsehung kann, indem sie die Eigensucht der Menschen für ihre Zwecke nutzt, eine gerechte Gesellschaft hervorbringen. „Daher muß diese Wissenschaft sozusagen ein Beweis der Vorsehung als geschichtlicher Tatsache sein, denn sie muß eine Geschichte der Ordnungen sein, die jene, ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufiger gegen deren eigenen Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat.“9

Vicos Lösung liest sich wie eine Vorwegnahme des Adam Smith und wiederholt sich in den Grundlagen der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis zu Hegel und Marx. Das Grundmotiv dieses Nachdenkens über Geschichte war es, dass dem Nicht-Machbaren eine gnädige „List der Vernunft“ zur Hilfe kommt, ein Prinzip, das das nicht-intendierte Resultat menschlichen Handelns zum eigenen bewussten Zweck einer fremden Instanz hinter unserem Rücken umbiegt.10 Paul Ricœur urteilt darüber, der Ausdruck „List der Vernunft“ mache uns nicht einmal mehr neugierig, „er stößt uns eher ab, wie der mißratene Trick eines auftrumpfenden Zauberkünstlers.“11 Offensichtlich hatte die Geschichtsphilosophie eine richtige Diagnose der historischen Verlaufsform und ihrer Zeitstruktur seit etwa 1780 gegeben; sie ist die erste Wissenschaftsform, die auf dieses Dilemma reagiert. Zugleich hatte sie sich aber an einer Therapie versucht, die nicht zu halten war.

Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.

II. Out of Control

Im Jahre 1996 erschien eine Vorlesungsreihe der linksliberalen amerikanischen Ökonomin Saskia Sassen unter dem Titel: „Losing Control?“ Der Untertitel „Sovereignity in an Age of Globalization“ verrät ihren Ausgangspunkt. Es hat einmal eine traditionelle Souveränität der Nationalstaaten gegeben, aber es gibt keine mehr. „State sovereignity, nation-based citizenship, the institutional apparatus in charge of regulating the economy, such as central banks and monetary policies – all of these institutions are being destabilized and even transformed as a result of globalization and the new technologies.“12 Sassen fragt, was aus diesen Insignien des Staates geworden sei, aus seiner Souveränität, aus der territorialen Exklusivität, aus der Staatsbürgerschaft seiner Bürger. Sie antwortet, dass große Teile der Souveränität auf supranationale Organisationen wie GATT oder WTO übergegangen sind, und dass mit der Globalisierung der Kapitalmärkte eine „economic citizenship“ entstanden sei. Eine profitorientierte Gesellschaft von globalen Spielern,13 deren neue Finanzinstrumente für den Fluss der globalen Kapitalströme die Kontrolle der Zentralbanken für die Geldmengenregulierung und die Investitionsanreize unterhöhlt haben.14 Fast scheint es so, als stünden wir wieder vor der Ausgangsfrage des John Maynard Keynes, nur unter verschärften Bedingungen. Wenn die globalen Finanzmärkte höhere Profite erbringen als Investitionen in die Produktion, dann wird die Entwicklung eines Landes das Nebenprodukt „of the activities of a casino“.15 Losing control?

Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden? Es gibt in Hegels Rechtsphilosophie den berühmten Übergang vom Staat in die Weltgeschichte. In 339 Paragraphen hatte der Meister das Kunstwerk seines idealen Staates mit Fleiß aufgebaut und das System der „substanziellen Sittlichkeit“ entfaltet, in dem die partiellen Interessen des Bürgers mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gebracht werden sollen. Und nun, im § 340, wird all das wortwörtlich aufs Spiel gesetzt – „ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staates, der Zufälligkeit ausgesetzt wird.“ Nur der Trost, dass auch in diesem Spiel noch „Geist“ sei, kann Hegel sagen lassen, das Recht dieses Weltgeistes sei das höchste und die Weltgeschichte sei das Weltgerichte.16 Schon Marx hatte erkannt, dass dieser Weltgeist in Wahrheit der Weltmarkt ist.17 Auf Hegels Trost wird man daher verzichten müssen, wenn das Spielcasino mit Aktien und Derivaten sich als Weltgericht etabliert hat. Zugleich wird deutlich, dass das Bewusstsein, einem nicht kontrollierbaren Prozess unterworfen zu sein, sehr viel älter ist, als das Abschätzen der Folgen der Globalisierung. Grundlage bleibt die Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte, und diese Einsicht ist in den Theorien der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel in einer Prägnanz ausgedrückt, die manches gegenwärtige Verwundern über den Verlust der „Kontrolle“ obsolet erscheinen lässt. Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage „Losing Control?“ wird dann die konstatierende Aussage „Out of Control“.

In Frage steht, was aus dieser nicht-kontrollierbaren Geschichte werden kann. Darauf weiß dieser Sammelband keine Antwort zu geben; er möchte nur einstimmen in eine Denkhaltung, mit diesem Prozess zu leben, sich an die Beleidigung des homo faber zu gewöhnen, dass er seines eigenen historischen Werdens nicht Herr ist. Nur eines kann nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gesagt werden: Die Versuche, die Geschichte unter Kontrolle zu bringen, waren immer noch schlimmer als der unkontrollierbare Prozess selbst. Es geht offenbar darum, ein Denken zu entwickeln, das sich von Kontroll- und Machbarkeitsvisionen verabschiedet und es lernt, kleine Korrekturen an der Richtung des Geschehens vorzunehmen, sozusagen Reparaturen bei laufendem Motor.18

III. Stufen der Moderne

Damit sind wir auch bei der Ausgangsfrage dieser Sammlung von Aufsätzen aus den letzten zehn Jahren angelangt. Sie alle umkreisen eine Problemstellung, die dem Autor seit dem Schlusssatz seiner Dissertation aus dem Jahre 1980 nachhängt: Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt?19 Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an der sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. In dem Versuch zu einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Epochengliederung der europäischen Geschichte zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert würde diese Zeitspanne zwei Perioden umfassen. Zur Erläuterung: Ich unterscheide eine „Stabilisierungsmoderne“ mit ihrem Zentrum etwa zwischen 1640 und 1720 von einer „evolutiven Moderne“, die mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt und die etwa bis 1880 reicht. Gemeint ist die Zeit der ökonomischen und politischen Doppelrevolution, der institutionellen und ökonomischen Dynamisierung der Geschichte. Diese einmal begonnene Stufe des Kapitalismus hat bis heute nicht aufgehört zu wirken; insofern ist sie nicht abgeschlossen und niemals abschließbar. Sie wird seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch überlagert von einer zivilisationskritischen Einstellung, für die Nietzsche einer der entscheidenden Stichwortgeber war. Ich nenne sie die „heroische Moderne“. Als ihren Grundzug betrachte ich die Einsicht, dass der geschichtsphilosophische Synergismus eines Hegel nicht mehr gültig ist. Die Geschichte hilft nicht mehr mit, ist keine „List der Vernunft“ hinter unserem Rücken; alles was getan werden kann, muss gegen sie durchgesetzt werden. Dafür braucht man keine Menschen, sondern über-menschliche Kräfte. Das war die Zeit der „Heroischen Moderne“, in der gerne vom Neuen Menschen und seiner historischen Sendung fabuliert wurde.20 Die heroische Moderne ist ungleichzeitig zu Ende gegangen; im Westen schwand sie seit 1945 dahin. Im Herrschaftsbereich der UdSSR hielt sie sich noch bis 1989/90. Dort durften die Sozialisten noch länger heroisch bleiben.21

Ich spreche nicht von einer Moderne und auch nicht, wie Ulrich Beck, von einer ersten und zweiten Moderne, sondern spalte den Begriff in historische Schichten oder Stufen auf. Stellt man die Frage so, dann kommt es darauf an herauszuarbeiten, was die Menschen in diesen verschiedenen Formen der Geschichte als ihre „Grundaufgabe“22 betrachtet haben, wie sie es mit der Geschichte aufnehmen wollten. Diese Aufgaben verändern sich mit der Formveränderung der Geschichte. Was die „Stabilisierungsmoderne“ betrifft, so hat Theodore K. Rabb sie auf den prägnanten Punkt gebracht: Es ging in der Mitte des 17. Jahrhunderts um die Stabilisierung einer krisenhaften Zeit auf allen Gebieten.23 Daran zeigt sich übrigens, dass diese Stufen der Moderne sich in ihrer Aufgabenstellung durchdringen. Die Kontrolle über Krieg und Krise ist niemals endgültig; es wandelt sich nur die Fragestellung, wenn die Form der Geschichte sich ändert. Die Idee einer Stabilisierung ist in der „evolutiven Moderne“ nicht aufgegeben, sie ist lediglich an das Ende des historischen Prozesses verlegt. Jetzt stellt sich die Alternative so: entweder mit dem dynamischen Fortschritt liberal mitzugehen und ihn selbst als die Lösung aller Probleme zu betrachten – oder aber dem Kapitalismus eine neue Gesellschaftsform entgegenzusetzen. Für Marx als den Schüler Hegels sollte aus dem Prozess selbst die Revolution entspringen: Der Übergang aus einer entfremdeten „naturwüchsigen“ Geschichte in eine Assoziation von Produzenten, die dann ihre eigene historische Entfaltung unter Kontrolle gebracht haben würden.24 Aber selbst dafür musste der historische Prozess in Form des tendenziellen Falls der Profitrate die krisenhafte Vorbedingung liefern. Auch bei Marx stand die Geschichte insofern noch unter der Herrschaft der „allpfiffigen Vorsehung“, so sehr es ihn auch belustigte, wenn andere, wie etwa der Utilitarist Jeremy Bentham sich dieser Denkfigur bedienten.25

Die „heroische Moderne“ teilt die Voraussetzungen dieses Denkens nicht mehr. „Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine ‚Vorsehung‘ braucht so etwas“, notiert sich Nietzsche im Sommer 1875. Und: „Was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch wirken.“26 Ob unmittelbar aus dem Fortschritts-Prozess oder auf dem Umweg über seine revolutionäre Negation – weder auf dem einen, noch auf dem anderen Wege ist eine Vernunft in der Geschichte zu erwarten.

Nietzsche erwägt den lähmendsten Gedanken – den der „Dauer mit einem ‚Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck.“ Zu dieser Wiederkehr des Immergleichen will er herzhaft „Ja“ sagen. „Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß?“27 Seit dem Beginn einer effektiven europäischen Akkulturationsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert musste immer der Mensch mit seinen Affekten vor der Geschichte sich verantworten, ob er sich hinreichend angepasst habe, ob er friedensfähig, ob er zukunftsfähig sei. Nun wird umgekehrt die Geschichte vor das Tribunal des „Lebens“ gestellt und angeklagt. Die kulturellen Anforderungen haben schon zu viel „Lebendiges“ verschlungen – und wofür? Für einen Prozess, dem die Zielsetzung abhanden gekommen ist.28 Wenn die moralisch gebotene Mitarbeit an einer besseren Zukunft nicht mehr wirklich geglaubt wird, erweist Geschichte sich als feindliche Macht. Und es ändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihr. Natürlich darf man nicht sagen „die Menschen“. Die Einstellung zur Geschichte ist nach Schichten, oder wie es heute heißt: Nach Lagen oder Milieus aufgespalten. Unter diesem Blickwinkel finden sich die Antipoden Liberalismus und Sozialismus plötzlich im gleichen Boot wieder: Beide glaubten auf ihre Weise an die Zukunft, und auf diese bessere Zukunft hin war ihr Handeln ausgerichtet. Was aber geschieht, wenn ein „Milieu“ die kulturelle Hegemonie übernimmt, für das Geschichte in der Tat als ein durch und durch verpfuschter Prozess gilt, sozusagen als die Schöpfung eines bösartigen „Demiurgen“? So dachte auch noch Marx; doch der „Heiland Proletariat“ verspielte seine welthistorische Chance, ironischerweise durch die Form seiner eigenen „Partei“. Gnostische Denkmotive brechen in den 20er Jahren erneut auf29 – eine radikale Ablehnung der Welt wie sie ist – getragen von der Erwartung des „Ganz anderen“?

Zwischen diesen beiden Grundhaltungen, der teleologischen Geschichtsphilosophie der „evolutiven Moderne“ und der Kritik der „heroischen Moderne“ an ihr, sind die meisten der hier versammelten Aufsätze angesiedelt. Da ein Sammelband kein neu geschriebenes Buch ist, vermag keine Einführung ihn zu einem solchen umzudichten.30 Der Autor könnte nur einen Kommentar zu seinen wiederabgedruckten Texten schreiben. Ein Kommentar setzt allerdings eine gewisse Distanzierung voraus. Da die nicht immer gegeben ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Zusammenstellung der Aufsätze zu thematischen Gruppen zu erläutern. Sie sind unter drei Rubriken zusammengefasst.

IV. Geschichtsphilosophische Zeichendeutung

Das Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte behauptet die Unhintergehbarkeit der geschichtsphilosophischen Erfahrung. Mit der längst geleisteten Kritik an der Teleologie der Geschichtsentwürfe zwischen Kant und Hegel ist das Problem nicht gelöst; denn die Teleologie überlagerte nur die Grunderfahrung der Nicht-Verfügbarkeit des Geschehens.31 Paul Ricœurs Einsicht, dass die „Fabel aller Fabeln“ nicht geschrieben werden könne, geht gleichwohl mit einer Trauerarbeit an Hegel einher. Wir können nicht mehr wie Hegel, sondern nur noch nach Hegel denken – so müssen wir von Hegel auf Kant zurückgehen. Die crux aller Geschichtsphilosophie liegt aber schon in ihrem Anfang bei Kant. Seine Orientierung am Geschichtszeichen schiebt paradigmatisch ein Ereignis mit einer moralphilosophischen Überlagerung ineinander. Sollte sich herausstellen, dass wir bei unserer Orientierung in der Geschichte zwangsläufig auch nicht anders verfahren, bleibt nur der Appell zu einem kritischen Umgang mit dieser „geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei“.32 Keinesfalls darf es wieder zur Einhüllung der vorfindlichen Empirie in den schützenden Gang eines Geistes kommen. Umgekehrt hat die siegesgewisse Entteleologisierung der Geschichtsphilosophie auch nicht viel erbracht, es ist nur die spekulative Überlagerung von einem durch diese Kritik nicht beeindruckten, unverfügbaren Prozess abgezogen worden. Dieser machthabende Geschichtsprozess spukt seither in unbegriffenen Hintergrundmetaphern durch die Schriften der Historiker und Philosophen.

Der junge Schelling stellt sich in Anschluss an Kant der Frage, ob eine Philosophie der Geschichte überhaupt möglich sei. Im Philosophischen Journal von 1797/98 antwortet er noch mit einem „Nein“. Aber schon zwei Jahre später entwirft er im System des transcendentalen Idealismus selbst eine Geschichtsphilosophie, ja er bezeichnet das Fehlen der Reflexion über Freiheit und Notwendigkeit auf dem Gebiet der Geschichte als das höchste noch nicht aufgelöste Problem der Transzendentalphilosophie. Es besagt, dass ich glaube, mit Bewusstsein zu handeln – aber aus meinem Handeln entsteht mir unbewusst eine objektive Welt, die ich so nicht gewollt habe. Für einen kurzen Moment durchdenkt Schelling rückhaltlos diese Paradoxie, bevor er sie dann mit der „absoluten Synthesis“ wieder glättet.

Das Vertrauen auf die teleologischen Numen schwindet in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Junghegelianer und Feuerbach hatten ihren Anteil an dieser Wende. Nach 1848 war ihr Denken aber nicht mehr gefragt, so dass im 19. Jahrhundert alles zwei Mal gesagt werden musste – einmal vor und einmal nach 1848. Das Denken des Vormärz war revolutionär und stand politisch links; das Denken nach 1848 wird zunehmend ästhetisch-zivilisationskritisch und ist politischen Richtungen nicht eindeutig zuzuordnen. Beiden Linien gemeinsam ist anfänglich noch einen Kritik an Hegel. Daher sind zunächst Jacob Burckhardt und Karl Marx gegenübergestellt.

Jacob Burckhardt als Leser Hegels ist keineswegs der philosophische Laie, als der er sich gerne dargestellt hat. Man sieht an seinen Notizen zu Hegels Geschichtsphilosophie, dass er sich sehr genau den Kernkomplex des Theodizeeproblems in Hegels „Vernunft in der Geschichte“ vorgenommen hatte. Aus der vermeintlich begriffenen Einordnung der historischen Übel als vorwärts treibendes Element im historischen Prozess wird die Vorlesung über „Glück und Unglück in der Weltgeschichte“, die in dem von J.G. Schlosser entlehnten Satz kulminiert: „Die Macht ist böse an sich“. Ein Übel ist ein Übel, und ob aus ihm Gutes hervorkommen könne, ist nur unserer Neigung zum kompensatorischen Denken beim Betrachten der Weltgeschichte geschuldet. Ein Weltplan kann nicht behauptet werden. Aus dem erschlichenen Gesichtspunkt des „Weltgeistes“ wird der Ausgangspunkt vom duldenden und handelnden Menschen; daher wird Burckhardts Standpunkt „gewissermaßen pathologisch“. Und doch lehnt Burckhardt die Arbeit der „geschichtsphilosophischen Centauren“ nicht rundweg ab. Man sehe sie gerne am Waldesrand der geschichtlichen Studien, weil sie in der Lage seien, einzelne mächtige Ausblicke in den Wald zu hauen. Denn den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen – das ist ein weit verbreitetes Schicksal der Historiker.

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