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II. „Gewissermaßen ein Leitfaden a priori“

In Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von 1784, hinter die wir aus guten Gründen nicht zurückgehen wollen, taucht die Formel des „a priori“ erst ganz zum Schluss auf und dann auch nicht im strengen Sinne des transzendental-philosophischen Geschäfts, sondern eher umgangssprachlich, versehen mit einem „gewissermaßen“. Der Abschnitt ist dennoch lehrreich. Im Neunten Satz seiner Schrift diskutiert Kant die Selbstimplikation eines „philosophischen Versuchs“ die allgemeine Weltgeschichte nach einem „Plane der Natur“ zu schreiben, die auf eine weltbürgerliche Vereinigung der Menschheit abzielt, für diese „Naturabsicht“ selbst. Es geht um die Aufgabe, ein „sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.“ Mit den Begriffen „Aggregat“ und „System“ hantierte im 18. Jahrhundert auch die Göttinger Schule ‚ die aufgeklärte Geschichtsschreibung von Gatterer und Schlözer; wenn aber bei Kant der Begriff des „Systems“ fällt, dürfen wir jene Passage aus der Zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ interpolieren, in der Kant nach der „systematischen Einheit der Zwecke in dieser Welt“ fragt und ihr in moralphilosophischer Absicht einen „weisen Welturheber“ zu Grunde legt11. Diese transzendentalphilosophische Einschaltung hat ihr populärphilosophisches Pendant; es zeigt sich daran, dass Kant seine Geschichtsphilosophie offen mit der auch am Ende des Jahrhunderts noch virulenten Physikotheologie parallelisiert: „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll.“ Den physikotheologischen Gottesbeweis erwähnte Kant bekanntlich mit Achtung, lehnte ihn aber – wie alle anderen Gottesbeweise ab. Sein „Gott“ ruht auf einer moralphilosophischen Grundlage.12 Eben deshalb aber kann ihm nicht daran gelegen sein, sozusagen seine eigenen Basis zu ruinieren – der Anblick einer planlosen Geschichte aber, das wiederholt Kant in seiner Schrift mehrfach, würde jeden philosophischen Betrachter mit „Unwillen“ erfüllen und unseren Blick von einem Welturheber der solches zuließe wegwenden. Sollen wir Vernunft denn nur in einer „anderen Welt“ erhoffen und daran verzweifeln, in der Geschichte jemals eine „darin vollendete vernünftige Absicht anzutreffen“? Deshalb fragt Kant, ob man einen „Leitfaden“ annehmen dürfe, der eine „tröstenden Aussicht“ für die ferne Zukunft biete, dass die Menschheit ihre Bestimmung hier auf Erden erfüllen werde. Diese Formung der Geschichte zu einem System – eben weil sie diese Perspektive bildet – soll dann selbst zur Verwirklichung von Recht und endlich auch Moral beitragen. Ausgeführt und auf eine spezifische historische Situation angewandt sind diese Gedanken in der Friedensschrift von 1795, die ohne eine starke Teleologie gar nicht denkbar ist.13

Nun wendet sich Kant den Historikern zu und nimmt ihre Einwände vorweg. „Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen.“ Zwar unterläuft er diese Gegenüberstellung von „Geschichte“ und „Roman“ sogleich wieder, wenn er – worin ihm seine zeitgenössischen Historiker zustimmen würden – von Griechenland über Rom bis zur Gegenwart einen „regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassungen“ entdeckt und in Aussicht stellt, Europa werde dereinst den anderen Weltteilen die Gesetze geben. Zum Abschluss kommt er noch einmal auf die Differenz zwischen Historie und Geschichtsphilosophie zurück und stellt seine philosophische Geschichte als eigenständige Gattung neben die Geschichtswissenschaft: „Daß ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung einer eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen wollte, wäre Mißdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte.“14 Normalerweise wird man Hegel als jenen geschichtskundigen philosophischen Kopf betrachten, der dann gekommen ist, um die Kantische Anregung aufzunehmen. Aber auch Fichte hatte seine Zuhörer schon mit einem a priorischen Weltplan konfrontiert und den Zweck des Erdenlebens der Menschheit dahin bestimmt, „daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.“15 Ein anderer allerdings aus dem Kreise des absoluten Idealismus aber hat zuerst explizit gegen das a priori in der Geschichtsphilosophie polemisiert. Gemeint ist F. W. J. Schelling und seine Schrift „Ist eine Philosophie der Geschichte möglich?“ aus dem Philosophischen Journal des Jahrgangs 1797/98.

III. „Es ist keine Philosophie der Geschichte möglich“

Stellt man den zentralen Vierten Satz aus Kants Geschichtsphilosophie in einen größeren Rahmen, so ist er in seiner Einbeziehung der Übel in eine positive Perspektive einer der zeitgenössischen Versuche, das Theodizeeproblem geschichtsphilosophisch zu dynamisieren: Die Übel sind nicht schlechthin zerstörerisch, sie verraten nicht mehr die Hand „eines bösartigen Geistes“, der in die Schöpfung hineingepfuscht hat, sondern sie müssen zum Antrieb für eine vernünftige Entwicklung der Menschheit dienen. In diesem Sinne ist auch schon Schellings Magisterdissertation De malorum origine von 1792 „Geschichtsphilosophie“ und das philosophische Fragen nach Geschichte bildet eines der Zentren, wenn nicht das Zentrum der Philosophie Schellings.16

Um so verblüffender ist dann die kleine Abhandlung aus dem Philosophischen Journal, die dem Erweis dient, dass keine Philosophie der Geschichte möglich ist.

Schon der Etymologie nach sei Geschichte „Kenntnis des Geschehenen. Sie hat also zum Gegenstande nicht das Bleibende, Beharrliche, sondern das Veränderliche, in der Zeit Fortschreitende.“ Auffällig in dieser Definition ist nicht die geläufige Gegenüberstellung des Wandelbaren und des Ewigen, der Natur und des Menschenwerks17, sondern die Betonung des Fortschreitens in der Zeit. Ihr scheint selbst die Natur zu unterliegen, denn Schelling behandelt auch die Natur als den „Inbegriff alles Geschehenden“ – macht aber sogleich die Einschränkung, dass man der Natur eine Geschichte nur insofern zuerkennen könne, als ihre Ereignisse Einfluss auf das Handeln der Menschen hatten. Meteore beispielsweise gehörten der Geschichte an, solange sie als Vorboten künftigen Unheils betrachtet wurden. Ist man von diesem Aberglauben befreit, bleibt der Grundsatz, dass alle periodisch und regelmäßig wiederkehrenden Erscheinungen nicht in die Geschichte gehören. Im Voraus berechenbare Sonnenfinsternisse haben sozusagen ihre „Geschichte“ verloren. Umgekehrt verläuft Geschichte nicht in „periodische Cirkeln“ wie Moses Mendelssohn noch glaubte18. Sie muss „fortschreitend“ sein. „Was a priori zu berechnen ist, was nach nothwendigen Gesetzen geschieht, ist nicht Objekt der Geschichte; und umgekehrt, was Objekt der Geschichte ist, muß nicht a priori zu berechnen sein.“ Das a priori ist eingeschränkt auf die kreisförmig wiederkehrende Berechenbarkeit von Naturerscheinungen, genauer gesagt von Himmelserscheinungen.

Offensichtlich hat aber auch die Natur eine eigene Geschichte; sie wird zum Gegenstand einer Naturphilosophie. Sind alle wandelbaren Organisationen der Natur nur Entwicklungsstufen eines Urbildes? Wäre eine Naturgeschichte denkbar, die Natur in Freiheit, aber nicht in Gesetzlosigkeit als Abweichung von einem Ideal darstellte? Aus dieser Überlegung zieht Schelling den Satz, dass Geschichte überhaupt nur da ist, wo unendlich-mannigfaltige Abweichungen von einem Ideal im einzelnen, aber Kongruenz mit dem Ideal im Ganzen stattfindet. Geschichte kann daher nur den Charakter einer Gattung ausdrücken und die Geschichte des Menschengeschlechts bildet ein Ganzes. Diese Geschichte steht unter drei Prämissen. Erstens: „Was nicht progressiv ist, ist kein Objekt der Geschichte“ Zweitens: „Wo Mechanismus ist, ist keine Geschichte, und umgekehrt, wo Geschichte ist, ist kein Mechanismus.“ Drittens: „Wovon eine Theorie a priori möglich ist, davon ist keine Geschichte möglich, und umgekehrt, nur was keine Theorie a priori hat, hat Geschichte.“ Der erste Satz schließt noch einmal explizit alles Zirkelförmige aus der Geschichte aus; beispielsweise gibt es keine Geschichte der „Thierheit“, weil diese Gattung nicht fortschreitet, sondern auf ihren Zirkel von Handlungen eingeschränkt bleibt. Ebensowenig hat alles Mechanische eine Geschichte. Auch von dem „Menschen nach der Uhr“, der selbst zur Maschine geworden ist – „er aß, trank, nahm ein Weib und starb“ – lohnt sich eine Erzählung nicht. Doch gerade von diesen beiden Gebieten, von allem Kreislaufförmigen und aller Mechanik gibt es eine Theorie a priori, nicht aber von der progressiven Geschichte, die vom Menschen erst hervorgebracht wird.19 Die Erläuterungen zu diesen Sätzen führen in komplexe, nur kurz angerissene Zusammenhänge; sie beziehen sich auf die „invisible hand“, auf den Mythos und auf den allmählichen Rückzug der „Geschichte“ vor der „Wissenschaft.“

Da für Schelling die literarische Gattung der Geschichtsschreibung noch die Nähe zur Poesie aufweist, ein Geschichtsschreiber also immer etwas von einem Dichter hat, wird er, wenn er aber seine Kunst versteht, in dem Geschehen eine „höhere, obgleich verborgene Hand vermuthen lassen.“ Der bis in die Umgangssprache hinein geläufige Topos von der unsichtbaren Hand in allem Geschehen war bei Adam Smith zunächst deistisch konnotiert; er hat ihn später auf die Ökonomie übertragen, um ein Dilemma in seiner Theorie zu überdecken. Kant hat seinen Parallelbegriff „Naturabsicht“ als „Teleologie in praktischer Absicht“ begründet.20 Bei Schelling tritt die „unsichtbare Hand“ zunächst als Kunstgriff des Erzählers auf. Sie ist aber mehr und Schelling wird sich an ihr noch abarbeiten.

Was den „Mythos“ betrifft, so ist er ursprünglich nichts weiter als die Fabel, die Erzählung. Insofern sind erzählte Geschichten allem Wissen vorausgegangen; die griechische Mythologie war nur ein „historischer Schematismus der Natur“ so lange man sie noch nicht erklären konnte. Jede Lehre von den Dingen der übersinnlichen Welt wird in diesem Sinne zur Geschichte – und daher ist jede Religion nur als Mythos, als poetische Wahrheit wahr. Umgekehrt: schreitet das Wissen fort, schränkt sich der Bereich der Geschichte ein, so dass man sagen könnte: dass wir überhaupt noch „Geschichte“ haben, ist das Werk unserer Beschränktheit. Geschichte wäre dann das, was wir nicht nach unserem Entwurf genetisch konstruieren können.21 Doch kaum ist dieser Satz ausgesprochen, kehrt Schelling diese Beschränktheit in den Grund unserer Freiheit um. Hätten wir unsere historische Aufgabe erfüllt, würde der Einzelne wie das ganze Menschengeschlecht unter dem Gesetz der vollendeten Natur stehen, dann würde Geschichte aufhören. Aber: Welche Langeweile! Wollte man sich wirklich einen absoluten Vernunftzustand denken, eine Gesellschaft, angefüllt mit Idealmenschen oder mit Engeln – den „langweiligsten aller Wesen“ schlechthin? Unsere Beschränktheit spiegelt uns den glücklichen Traum der Freiheit vor. Und das ist gut so. Nur für ein Wesen „das wir Gott sei Dank! nicht kennen“, mag unser Tun und Lassen eherne Notwendigkeit sein. Daher endet Schelling mit der schulgerechten Conclusio: Der Mensch hat nur insofern Geschichte, als sie nicht a priori bestimmbar ist; und wenn „Philosophie der Geschichte“ so viel bedeuten soll als eine „Wissenschaft der Geschichte a priori“ – dann ist eine Philosophie der Geschichte unmöglich. „Was zu beweisen war.“22

Zieht man einen Vergleich mit Kant, dann zeigen sich Überschneidungen und Abgrenzungen. Schelling wie Kant ziehen eine progressive Geschichte der Menschheit in Betracht; von Kreislaufmodellen verabschieden sich beide. Kant entwirft, in Kenntnis des „deception“-Konzept von Adam Smith aus der „Theory of Moral Sentiments“ – die gütige Natur täuscht uns, indem sie unsere egoistischen Eigenschaften benutzt, um höhere Zwecke damit zu bewirken – eine „philosophische Geschichte“ am Leitfaden eines „gleichsam a priori“, die auf einen Zustand führt, der zwar niemals in Untätigkeit erschlafft, der aber Legalität und endlich auch Moralität mit sich führt, so dass der Unwille des philosophischen Betrachters angesichts der nicht machbaren Geschichte der Menschheit zumindest partiell befriedet wird.23 Schelling streicht dem geschichtsphilosophischen „a priori“ den Kantischen Zusatz „gewissermaßen“ – er faßt es nicht im regulativen, sondern im konstitutiven Sinne und schränkt es folglich auf das Wissen von gesetzmäßigen Naturbegebenheiten ein. Da er diese wiederum mit Mechanismus und Kreislauf identifiziert, scheiden sie für die Geschichte aus. Eine weitere Differenz: Kant zielt auf einen Vernunftzustand ab, den er allerdings nicht als Endzustand, sondern als den notwendigen Rahmen für eine progressive Weiterentwicklung des menschlichen Geschlechts betrachtet. Schelling ironisiert diesen endgültigen Zustand der Vernunft; er unterstellt ihm von vornherein totalitäre Züge. Die progressive Freiheit der in der Beschränkung selbst gemachten Geschichte scheint wichtiger zu sein als ein noch so ideales Telos.

Umgekehrt: wenn es ein im strengen Sinne wissenschaftliches Bild der Geschichte gäbe, wäre es auch mit der menschlichen Freiheit vorbei. Hinter dem ironischen Lob der Beschränktheit lauert allerdings ein tiefer liegendes Problem: Geschichte selbst kann offenbar doch nicht aus „Freiheit“ gemacht werden. Frühe Zweifel an Fichtes Konzept des Ichs, das sich die Welt scheinbar widerstandslos aneignet, bilden den Hintergrund dieser Skepsis.24 Schellings Schrift von 1797/98 hinterlässt eine vorläufige Lösung und einen Anstoß. Die Lösung besagt: Geschichte ist ein progressives Geschehen, das sich von keiner Geschichtsphilosophie ein a priori vorschreiben lässt. Und insofern wäre Geschichtsphilosophie tatsächlich unmöglich – wenn nicht ein kleiner Stachel bliebe. Dieser Anstoß hängt mit dem dunklen Fleck der kleinen Abhandlung zusammen: Was hat es mit der „höheren, obgleich verborgenen Hand“ auf sich, die der kunstfertige Geschichtsschreiber durchscheinen lassen soll. Ist sie nur eine poetische Figur? Oder ein Konstituens der Geschichte selbst? Dann aber hätte Schelling nur vorläufig auf Kants Problem geantwortet. Diese Frage löst sich dahin auf, dass Schelling im „System des transcendentalen Idealismus“ nun selbst eine „Philosophie der Geschichte“ entwirft.25

IV. Notwendigkeit in der Freiheit

Im „System des transcendentalen Idealismus“ ist die Frage nach der Geschichte ein Teil der praktischen Philosophie, ausformuliert als die allmähliche Herstellung einer allgemeinen Rechtsverfassung im Weltmaßstab als Aufgabe für die Menschheit. Streckenweise klingen Schellings Ausführungen wie ein Kommentar zu Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Da das Entstehen dieser Rechtsverfassung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, scheiden aus dem Begriff der Geschichte schon Plan- und Zwecklosigkeit aus. Es muss – und damit wird der Topos der unsichtbaren Hand aufgenommen – im Begriff der Geschichte eine „Nothwendigkeit“ liegen, der auch die „Willkür“ zu dienen gezwungen ist.26 Es folgt eine Wiederholung der Grundpositionen von 1797/98: Geschichte besteht weder in absoluter Gesetzmäßigkeit noch in absoluter Freiheit, sondern in unendlichen Abweichungen von einem Ideal. Dieses Ideal ist nun entschiedener in die Zukunft verlegt. Geschichte gibt es nur von Wesen „welche ein Ideal vor sich haben“. Daher liegt ihre „Continuität“ in der Generationenfolge der Gattung, an der die Individuen selbstlos arbeiten.27 Mechanismus und zirkuläre Handlungsmuster werden wiederum ausgeschieden, obgleich Schelling den Menschen durch „Freiheit“ zurückgeführt sehen will, wohin er durch „Natur“ schon gestellt war – ein Argument aus der Ästhetik Schillers, das hier – ähnlich übrigens wie später bei Kleist – zirkulär die Geschichte des Sündenfalls umspielt.

Dies sind die Grundfragen, die auf eine Philosophie der Geschichte führen, die für die praktische Philosophie dieselbe Rolle spielen soll, wie die theoretische für die Natur. Bevor Schelling zum „Hauptcharakter der Geschichte“ übergeht, macht er in dem knappen Zwischenpassus (B) deutlich, dass die von ihm immer wieder herausgestellte Progressivität der Geschichte weder in der Perfektibilität der Menschengattung, also nicht in der wachsenden Moralität, aber auch nicht im Fortschritt von Künsten und Wissenschaften liegen kann. Einzig in der Realisierung einer universalen Rechtsverfassung liegt ein historischer Maßstab für den Fortschritt des Menschengeschlechts, wenn dieser Fortschritt auch niemals a priori bewiesen werden kann und daher als „ewiger Glaubensartikel“ für die wirkenden und handelnden Menschen bestehen bleibt.28

Der Hauptcharakter der Geschichte stimmt überein mit dem Grundmotiv der ganzen Untersuchung; es geht um die Vereinigung von „Freiheit und Gesetzmäßigkeit im Handeln“, nun übertragen auf den Gehalt der Geschichte: Die Herstellung einer durch Ordnung garantierten Freiheit. „Wir kommen hier auf das höchste, zwar im Vorhergehenden (II.) bereits ausgesprochene, aber nicht aufgelöste Problem der Transcendental-Philosophie.“29 An diesem Punkt stößt Schelling auf ein Problem von weiterwirkender Aktualität. Hegel wird hier später seine „List der Vernunft“ ansiedeln, Marx den „Doppelcharakter der Arbeit“. Georg Simmel wird von einer „Tragödie der Kultur“ sprechen und Max Weber von den „unbeabsichtigten Nebenfolgen des Handelns“. Bei Schelling ist das Dilemma im Rahmen einer transzendentalen Deduktion der Geschichtsphilosophie formuliert, die aber auf eine a priorische Konstruktion verzichtet. Am Ende seiner Schrift hat er den Prinzipienwechsel von der Philosophie des absoluten Selbstbewusstseins zur Identitätsphilosophie vollzogen, in dem er das sich aufbauende Dilemma des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit mit einer absoluten Identität unterlegt und damit harmonisiert.30 Uns interessiert nicht so sehr diese Lösung, die dann in die Philosophie der Offenbarung führt, sondern die Dissonanzen, die dieser Lösung vorausgehen, in ihr aber teilweise noch erhalten bleiben. Einen kurzen Augenblick, wenige Seiten lang, stellt sich Schelling den Aporien des Geschichte-Machens, bevor auch er dann zu einem überwölbenden Prinzip Zuflucht sucht.

„Freiheit soll Nothwendigkeit, Nothwendigkeit Freiheit seyn. Nun ist aber Nothwendigkeit im Gegensatz gegen Freiheit nichts anderes als das Bewußtlose. Was bewußtlos in mir ist, ist unwillkürlich; was mit Bewußtsein, ist durch mein Wollen in mir.“ Übertragen auf meine Handlungen folgt dann: „Durch die Freiheit selbst, und indem ich frei zu handeln glaube, soll bewußtlos, d. h. ohne mein Zuthun, entstehen, was ich nicht beabsichtigt; oder anders ausgedrückt: der bewußten, also jener freibestimmenden Thätigkeit, die wir früher abgeleitet haben, soll eine bewußtlose entgegenstehn.“ Nach den Prinzipien seiner Auffassung der Transzendentalphilosophie verlegt Schelling das ohne meinen Willen mir entstandene Resultat meines „freien“ Handelns in das Subjekt zurück31; es muss schon etwas „Unbewusstes“ in ihm selbst gewesen sein, wenn ihm etwas entsteht, was es nicht gewollt hat. Mit dieser Paradoxie ist nun transzendentalphilosophisch ausgedrückt, was man als das Verhältnis der Freiheit zu einer verborgenen Notwendigkeit schon lange anerkennt, „die bald Schicksal, bald Vorsehung genannt wird, ohne daß bei dem einen oder dem andern etwas Deutliches gedacht würde.“ Das höchste, nicht gelöste Problem der Transzendental-Philosophie ist das Problem der Geschichtsphilosophie: die Frage nach der Struktur des Geschichte Machens. Wir sind zwar frei in unserem Handeln, nicht aber angesichts der Resultate unseres Handelns. Über uns lagert eine noch unerkannte Notwendigkeit und die zu erkennen, tritt Schelling an: „Diese Voraussetzung nun soll transcendental erklärt werden. Sie aus der Vorsehung oder aus dem Schicksal zu erklären, heißt, sie gar nicht erklären, denn Vorsehung oder Schicksal ist eben das, was erklärt werden soll.“ Im Hintergrunde schwingen hier die Erfahrungen der Französischen Revolution mit: Wie werden Menschen zur Ursache von etwas, das sie nie gewollt haben oder wie kann etwas „mißlingen und zu Schanden werden, was sie durch Freiheit und mit Anstrengung aller ihrer Kräfte gewollt haben.“32

Was mir ohne Absicht entsteht, ist „wie“ die objektive Welt, steht mir als etwas Objektives entgegen. Doch nicht genug damit: Nun soll auf diesem unsicheren Grund auch noch etwas inhaltlich Bestimmtes entstehen, eine allgemeine Rechtsordnung. An diesem Punkt weitet Schelling den Begriff des „Objektiven“ aus. Dieses Objektive ist nur durch die ganze Gattung zu realisieren. „Der Erfolg meiner Handlungen ist also nicht von mir, sondern vom Willen aller übrigen abhängig, und ich vermag nichts zu jenem Zweck, wenn nicht alle denselben Zweck wollen. Aber dies ist eben zweifelhaft und ungewiß“ – und sogleich ist Schelling bei jenem Problem, das auch Kant schon im Vierten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ beschäftigt hatte. Es scheint sogar durch, dass Schelling hier Kant kritisch aufnimmt: „Man könnte sich hier etwa unmittelbar auf eine moralische Weltordnung getrieben glauben, und eine solche als Bedingung der Erreichung jenes Zwecks postulieren.“ Doch Schelling hält eine andere Lösung als Kant bereit. Für Kant war die „Teleologie in praktischer Absicht“ wirklich etwas hypothetisch zum Handeln hinzukommendes, das die „ungesellige Geselligkeit“, das konkurrierenden Handeln Aller gegen Alle gnädig überwölbt, denn für sich selbst betrachtet ist keineswegs gesichert, dass jener „gesellschaftliche Antagonismus“ diese für die Gattung günstigen Folgen haben muss. Sie könnten sich in der eigennützigen Konkurrenz aller gegen alle auch einfach nur ruinieren.33 Schelling legt den Finger genau auf dieses Problem: Verlange ich die moralische Weltordnung als etwas „schlechthin Objektives“ kann ich sie nicht mit der Freiheit vermitteln; setze ich bei der Freiheit des Handelns an, ist das Herauskommen einer moralischen Weltordnung nicht gesichert.

An diesem Punkt des Dilemmas setzt Schellings Lösung ein: Er postuliert eine „absolute Synthesis“, in der die Widersprüche des individuellen Handelns wie in einer „prästabilierten Harmonie“ aufgelöst sind. Wer handelt in der Geschichte? Eigentlich sollte die „ganze Gattung“ handeln, denn das Objektive, das entstehen soll, die allgemeine Rechtsordnung, kann nur von der Gattung realisiert werden. Doch sogleich macht Schelling den Einwand gegen sich selbst: „Nun handelt aber doch jedes Individuum…“ mit der Folge, dass je freier das Individuum gedacht wird, desto mehr Widersprüche auftreten müssten. „Daß aus dem völlig gesetzlosen Spiel der Freiheit, das jedes freie Wesen, als ob kein anderes außer ihm wäre, für sich treibt (welches immer als Regel angenommen werden muß), doch am Ende etwas Vernünftiges und Zusammenstimmendes herauskomme“ – das sei nicht zu begreifen, wenn nicht jenes Höhere als der „Grund der Identität zwischen dem absolut Subjektivem und dem absolut Objektivem, dem Bewußten und dem Bewußtlosen“ gedacht werden könne. Dieses an Plotin gemahnende prädikatlose absolut Einfache gilt als ein ewig Unbewusstes, „gleichsam die ewige Sonne im Reich der Geister, durch sein eignes ungetrübtes Licht“ verborgen, von dem aber gleichwohl alle Intelligenzen nur Potenzen sind. Es offenbart sich in der Geschichte.

Diese Offenbarung des Absoluten ist nicht ungefährlich für die Freiheit. Denn hätte es sich ganz und gar offenbart, wäre es um die Freiheit geschehen. „Diese vollkommene Offenbarung würde erfolgen, wenn das freie Handeln mit der Prädetermination vollständig zusammenträfe.“ Wir würden dann einsehen, dass alle vermeintliche Freiheit Notwendigkeit war. Das, was schon in der kleinen Schrift von 1797/98 als Lob der Beschränktheit des Geschichte Machens gesagt war, tritt hier erneut wieder auf, ganz deutlich bezogen auf den „Plan der Vorsehung“. Schelling hält es nicht für möglich, eine Zeit zu antizipieren, in der dieser Plan gänzlich realisiert wäre.34 Dass Schelling ein Philosoph der Freiheit bleibt, zeigt sein zusammenfassendes Bild für das Machen von Geschichte.

„Wenn wir uns die Geschichte als ein Schauspiel denken, in welchem jeder, der daran Theil hat, ganz frei und nach Gutdünken seine Rolle spielt, so läßt sich eine vernünftige Entwicklung dieses verworrenen Spiels nur dadurch denken, daß es Ein Geist ist, der in allen dichtet, und daß der Dichter, dessen bloße Bruchstücke (disjecti membra poetae) die einzelnen Schauspieler sind, den objektiven Erfolg des Ganzen mit dem freien Spiel aller einzelnen schon zum voraus so in Harmonie gesetzt hat, daß am Ende wirklich etwas Vernünftiges herauskommen muß. Wäre nun aber der Dichter unabhängig von seinem Drama, so wären wir nur die Schauspieler, die ausführen, was er gedichtet hat. Ist er nicht unabhängig von uns, sondern offenbart und enthüllt er sich nur successiv durch das Spiel unserer Freiheit selbst, so daß ohne diese Freiheit auch er selbst nicht wäre, so sind wir Mitdichter des Ganzen, und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen.“35 Geschichte als Stegreiftheater, aber so, dass die Schauspieler nur Bruchstücke des Dichters sind, ja dass der Dichter überhaupt mit seinem Drama identisch gedacht werden muss, nichts außerhalb von ihm ist, so dass die „Selbsterfinder“ zugleich ihn mit-erfinden! Setzen wir den „Dichter“ des Welttheaters mit „Gott“ gleich, dann gib es nur ein philosophisches System, das in dieser Weise den transzendenten Gott verabschiedet hat und ihn in der Welt aufgehen lässt: Den Spinozismus. Das und wie Schelling zum Anhänger Spinozas geworden war geht aus dem berühmten Brief an Hegel vom 4. Februar 1795 hervor: „Ich bin indessen Spinozist geworden! Staune nicht. Du wirst bald hören wie? Spinoza war die Welt… Alles, mir ist es das Ich. (….) Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. Nun fragt sich’s nur, wo dies Unbedingte liegt, im Ich oder Nicht-Ich. Ist diese Frage entschieden, so ist Alles entschieden. Mir ist das höchste Prinzip aller Philosophie das… absolute Ich, , d.h. das Ich…das durch Freiheit gesetzt ist. Das A und O aller Philosophie ist Freiheit.“36

Was 1795 noch in Auseinandersetzung mit Fichte formuliert ist hat nun den Weg vom absoluten Subjekt zur Identitätsphilosophie eingeschlagen, eben weil es mit dem Setzen von „Freiheit“ so einfach nicht war. Das ist ein erneut gewendeter Spinozismus, bei dem nun die starre „Substanz“ geschichtsphilosophisch dynamisiert wird. Was Hegel später einklagt,37 hier ist es schon getan und zwar so, dass keine „große Gestalt“ im Namen des „Weltgeistes“ und im Wissen ihrer Notwendigkeit mache unschuldige Blume zertritt,38 sondern dass Geschichte ein offener Prozess bleibt, in der die Offenbarung des Absoluten gebunden ist an die Erfindungsgabe der Akteure. In diesem geschichtsphilosophischen Synergismus bleiben Mensch und Gott in reiner Tätigkeit vereint. So lange „Geschichte“ ist, so lange währt auch diese Offenbarung in der Geschichte; wäre die Offenbarung vollendet, endeten zugleich Freiheit und Geschichte.

Schelling hat die Offenbarung der absoluten Identität in Perioden eingeteilt. In der ersten Periode erscheint das Herrschende nur erst als „Schicksal“, „d.h. als völlig blinde Macht, kalt und bewußtlos“, die auch das Größte und Herrlichste zerstört. Die Geschichte vom Untergang der alten Reiche erzählt davon. In der zweiten Periode wandelt sich das „Schicksal“ in das „Naturgesetz“, das auch in der Geschichte die ungezügeltste Willkür zwingt einem „Naturplan“ zu dienen: Die Geschichte von der römischen Republik bis zu einem künftigen Völkerbund wird diese Periode ausfüllen – wir sind noch mitten darin. Erst dann, nach dem Entstehen dieser allgemeinen Rechtsverfassung wird sich was zuerst Schicksal und Natur hieß, als Vorsehung offenbaren: „Wann diese Periode beginnen werde, wissen wir nicht zu sagen. Aber wenn diese Periode seyn wird dann wird auch Gott seyn.“ In den Stuttgarter Privatvorlesungen sagt Schelling deutlicher, was darunter zu verstehen ist: „Dann ist Gott wirklich Alles in Allem, der Pantheismus wahr.“ – Eine Formel, die den Spinozismus mit dem Gedanken der Apokatastasis nach 1. Kor. 15 v. 28 in der Auslegung des Origenes verbindet.39 Doch das ist ein Jenseits der Geschichte.

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