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IV. Geschichtsphilosophie und Kulturgeschichte

Nun bin ich kein „Geschichtsphilosoph“; ich betreibe die Aufarbeitung ihrer Einsichten nicht als Selbstzweck. Es geht mir um eine neue, von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleitete Kulturgeschichte. „Kulturgeschichte“ hat im Rahmen der zünftigen Geschichtswissenschaft nicht unbedingt einen guten Klang; das hängt zusammen mit ihrer Entstehungsgeschichte als Betätigungsfeld für Außenseiter, das hängt auch damit zusammen – Jacob Burckhardt bildet das beste Beispiel dafür – dass sie, bei aller Kritik an Hegel, den Kontakt zur Geschichtsphilosophie nie ganz hat abreißen lassen. Die zünftige Geschichtswissenschaft hingegen hat im Prozess ihrer Professionalisierung im 19. Jahrhundert das Band zwischen sich und der Geschichtsphilosophie zerschnitten. Was auf den ersten Blick wie eine Befreiung aus dem dialektischen Streckbett des Weltgeistes aussieht, musste aber teuer bezahlt werden, denn in der Folge hat sich die Geschichtswissenschaft dem bloß politischen Spektrum bei der Letztverankerung ihrer Fragestellungen ausgeliefert. Sie ist sozusagen vom Niveau des Weltgeistes auf das Niveau der Volksgeister hinabgestiegen – und sie hat es gerne getan. Fragen nach der Verlaufsform der Geschichte als Ganzer wurden als unwissenschaftlich ausgeschieden und damit auch die Einsicht in das Unterworfensein unter den nicht-machbaren Prozess. Ganz im Gegenteil: Das vermeintliche historische Machen-Können auf dem politischen Felde beherrschte das deutsche Denken im Zeitalter des Werdens des Nationalstaates – und die Historiker machten begeistert mit.

Seither sind die Geschichtsschreiber – Ausnahmen bestätigen die Regel – in ihrer Mehrzahl verhinderte Politiker, deren Weltbild in den Wertvorgaben der politischen Richtungen changiert. Hayden White hat diesen Vorgang treffend gekennzeichnet: „Die ‚Theorie‘, auf der die ‚Verwissenschaftlichung‘ beruhte, war nichts anderes als die Ideologie des mittleren Bereichs im sozialen Spektrum, den einerseits die Konservativen, andererseits die Liberalen repräsentierten.“25 Diese Verankerung an Wertvorgaben ist im Verfahren der Rickert-Weberschen „Wertbeziehung“ zur Methode der Historiker erhoben worden. Ganz gleich, ob sie diese Grundlagen explizit der Untersuchung voranstellen, oder ob der Leser sie aus dem Tonfall der Narration erschließen darf – über diese kulturell/politische Letztverankerung ihres Fragens ist die Geschichtswissenschaft nicht hinausgekommen: „Was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen.“26

Gegen dieses Verfahren ist prima facie gar nichts einzuwenden; es gilt als die methodische Grundlage einer soliden Geschichtswissenschaft. „Objektivität“ ist nur in Anführungszeichen zu haben, und die Pluralität der Wertbeziehungen garantiert eine Überprüfung der Resultate im wissenschaftlichen Streit. Allerdings gibt es – auch und gerade bei Max Weber – ein kleines Problem. Ab und zu tauchen Begriffe auf, wie etwa der des „Schicksals“, den man bei einem so rationalen Denker gar nicht erwartet hätte, Begriffe, die ich gerne als Hintergrundmetaphern bezeichnen würde. Denn über den Werten waltet noch etwas anderes. In „Wissenschaft als Beruf“ äußert sich Weber 1919 ganz zeitgemäß zu den Wertgrundlagen der Gegner des großen Krieges: „Wie man es machen will, ‚wissenschaftlich‘ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt. (…) Und über diesen Göttern und ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine ‚Wissenschaft‘.“ War vielleicht die Welt doch nicht so entzaubert, wie Weber gedacht hatte, so dass er nun nach einem göttlichen oder dämonischen Äquivalent für Begriffe sucht, die er vormals in Anlehnung an Heinrich Rickert und Emil Lask stolz aus dem Tempel der Wissenschaft hinausgewiesen hatte?27 Und was ist damit gewonnen, wenn man zwar eine emanatistische Vernunft vor die Tür setzt, dafür aber durch die Hintertür ein Schicksal wieder hereinlässt? Denn auf den ersten Blick ist erkennbar, was es mit diesem „Schicksal“ auf sich hat: Es ist der ent-teleologisierte, nun irrational gewordene Ausdruck für die Übermacht des historischen Prozesses, für die Nicht-Machbarkeit des Ganzen bei rationaler Typisierung des Einzelnen.

Man kommt offenbar, nur darauf sollte hingewiesen werden, ohne Begriffe für das „Ganze“ der Geschichte nicht aus. Die Reduktion auf die Wertbeziehung lässt sich nicht stringent durchhalten, weil ihr die Form der Geschichte nicht entspricht. Man kritisiert die Geschichtsphilosophie nicht ungestraft. Was als „Teleologie“ – und zwar zu recht – kritisiert wird, taucht unbegriffen als „Schicksal“ hinter dem Rücken wieder auf. Max Weber ist nicht so eindeutig, wie manche möchten. Bedenklich ist nur, dass sich seine Methode zu einem vermeintlichen Wissen verfestigt hat, das vor allem eines weiß: Geschichtsphilosophie ist dogmatisch und antiquiert. Alle Vorurteile, die man über die „altdeutsche Geschichtsphilosophie“ zusammenkramen kann werden ausgebreitet, zumal dann, wenn Beiträge zu diesen Fragen nur zur Kenntnis genommen werden, wenn sie im eigenen Hausorgan erscheinen.28 Letztlich ist auch die Abwehr von „Geschichtsphilosophie“ nur ein Nebenkriegsschauplatz auf einem Felde, bei dem es um etwas ganz anderes geht: um die Definitionsmacht, was als „Geschichtsschreibung“ gelten darf und was nicht.

Um wenigstens ein Missverständnis auszuräumen: Keinesfalls kann „Geschichtsphilosophie“ ein privilegiertes Wissen für sich in Anspruch nehmen; es ist auch nicht an ihre alten Antworten anzuknüpfen, sondern es geht um die Rettung der Problemstellung, die diesen Antworten zugrundelang und immer noch zugrunde liegt. Nur müssen die Antworten heute anders aussehen. Der Rückgang von Hegel auf Kant, die Einbeziehung von Cassirer und Ricœur zeigen ja gerade, dass ein teleologisch geschlossener Horizont auch in einem Denken, das sich auf das „Ganze“ von Geschichte erstreckt, weder möglich noch wünschenswert ist.29 Wenn das aber so ist, wenn die auf das Ganze von Geschichte projizierten Erwartungshorizonte (so wie Kant es gesagt hatte: Wir können auf das Ganze zwar unsere Ideen, nicht aber unser Handeln erstrecken; vgl. Anm. 4) sich wechselseitig kritisieren, dann kommen wir zu einem neuen Pluralismus, der sich von dem Rickert-Weberschen Pluralismus der Wertbeziehungen durch die Reichweite seiner Entwürfe unterscheidet. Weber wollte „Ordnung“ in das „Chaos“ bringen; er konzentrierte sich auf das Handeln, ließ aber ungewollte Nebenfolgen des Handels übrig. Der hier vorgeschlagene aus einer erneuerten Geschichts-philosophie vorgetragene Ansatz konzentriert sich von vornherein ebenso sehr auf die „ungewollten Nebenfolgen“ des Handelns – allerdings auch der Bewegung von Dingen, wie Marx es ins Auge gefasst hatte – behauptet aber nicht mehr, sie auf den Begriff bringen zu können, als ob er der Weltgeist wäre (vgl. Anm. 14).

Auch diese erneuerten geschichtsphilosophischen Entwürfe müssen sich der rationalen Überprüfung stellen. Schon bei Max Weber ist, zumindest als ungewollte Nebenfolge des wissenschaftlichen Arbeitens, die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass sich Ansätze, die von verschiedenen Wertgesichtspunkten ausgehen, in ihren empirischen Befunden partiell überschneiden. Dass er den Kampf der Kulturbedeutungen ins Zentrum stellt, und gegen die „mittlere Linie“ wettert, hat damit nichts zu tun, sondern ist seiner Auseinandersetzung mit Schmoller geschuldet.30 Wenn wir dieses Problem nicht mehr mit Weber, sondern mit Paul Feyerabend formulieren, lautet es so: Wenn der Falsifikationstest von als Hypothesen aufgefassten Theorien nicht nach dem Popperschen Modell optimal ist, sondern ein Maximum der Kritik nur mit Hilfe von Alternativtheorien erreicht werden kann, dann ist eine pluralistische Theoriekollektion vorzuschlagen, die „aus einer ganzen Menge sich teilweise überschneidender, mit den Tatsachen vereinbarer, aber miteinander unverträglicher Theorien besteht.“31 In diese Kollektion von Theorien müssen sich auch die erneuerten geschichtsphilosophischen Entwürfe einordnen. Was sie leisten können wird sich herausstellen, wenn sie mit den Tatsachen vereinbare neue Gesichtspunkte erschließen.

Ein Stück geschriebener Kulturgeschichte, das sich von einer geschichtsphilosophischen Fragestellung anleiten lässt, soviel lässt sich zumindest sagen, wird keine seiner Fragen aus der Reichweite des politisch-kulturellen Spektrums beziehen. Sie wird nicht konservativ, liberal, sozialistisch, ökologisch, feministisch oder körperbezogen sein. Sie wird nicht von der postmodernen Vorliebe für die Differenz ausgehen, sondern wieder von einem machthabenden, nicht-verfügbaren Ganzen, das nach wie vor über allen diesen Differenzen lagert, und das einer neuen Erzählung bedarf. Eine große Erzählung im Sinne von Lyotards Kritik ist dafür nicht erforderlich, denn um die „Fabel aller Fabeln“ kann es nicht mehr gehen. Nicht mehr von Totalität solle geredet werden, schlägt Paul Ricœur vor, sondern nur noch von Totalisierung, nicht mehr von einer vollkommenen, sondern nur noch von einer unvollkommenen Vermittlung mit dem Ganzen. Für den von ihm propagierten „posthegelianischen Kantischen Stil“ gilt aber auch die Erneuerung eines Begriffs der „Menschheit“ als dem Subjekt dieser Erzählung. Mit Kant ist er der Meinung, „daß jede Erwartung eine Hoffnung für die ganze Menschheit sein muß; daß die Menschheit nur durch ihre Geschichte eine Gattung ist; daß es Geschichte umgekehrt nur gibt, sofern die als Kollektivsingular verstandene Menschheit als ganze deren Subjekt ist.“32 Lässt man dieses Subjekt fallen, liefert man sich dem Kampf der Differenzen aus. Da dieses „Subjekt“ aber nach wie vor dem fremden Subjekt einer nicht-verfügbaren Geschichte unterworfen ist, gilt auch, dass diese Erzählung von der condition humaine in der Geschichte handelt; es ist eine Geschichte von Menschen, „die versuchen, ihre Geschichte zu machen, und die die Übel erdulden, die aus diesen Versuchen hervorgehen.“33

1Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Akademie-Ausgabe, Berlin 1902 ff., im Folg. zit. AA Bd. VIII, S. 16-31.

2Martin Heidegger: Nietzsche: Der europäische Nihilismus, Gesamtausgabe Abt. II, Bd. 48, Frankfurt/M 1986, S. 185.

3G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, Hg. J. Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 48.

4Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA Bd. VIII, S. 310.

5Herta Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich?, in: Dies. (Hg.): Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt/M 1996, S. 7-63.

6Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, München 1991, Bd. III, S. 332 und S. 411 f.

7J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M 1975, 2 Bde., Bd. II, S. 512.– Sigmund Freud: Trauer und Melancholie, in: Gesammelte Werke, Frankfurt/ M 1963 ff. Bd. X, S. 430.

8Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: Ders. (Hg.): Geschichtszeichen, Weimar 1999, S. 114.

9Ricœur, a.a.O., Bd. III, S. 314 f. – G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, a.a.O., S. 28. – Allerdings antizipiert Hegel in der „reflektierenden Geschichtsschreibung“ praktisch das spätere neukantianische Verfahren der „Wertbeziehung“ und drückt zumindest das Unbehagen an einer letztlich auf politische/kulturelle Gegenwartsprobleme bezogenen Geschichtsschreibung aus. Vgl. dazu: H. D. Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, a.a.O., S. 8 ff.

10Hegel, ebd., S. 48.

11Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III, a.a.O., S. 318.

12Frank R. Ankersmit: Die postmoderne ‚Privatisierung‘ der Vergangenheit, in: Nagl-Docekal, a.a.O., S. 201.

13J. W. Schelling: System des transcendentalen Idealismus, Werke, Hg. M. Schröter, München 1927, Bd. II, S. 594.

14Ricœur, ebd., S. 319.

15Ricœur, ebd., S. 329 f.

16Ricœur, ebd., S. 332 und S. 412.

17Pauline Kleingeld: Zwischen kopernikanischer Wende und großer Erzählung. Die Relevanz von Kants Geschichtsphilosophie, in: Nagl-Docekal, a.a.O., S. 185 und S. 190.

18Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.a.O., Bd. VIII, S. 27.

19H. D. Kittsteiner, Zur Konstruktion der historischen Zeit bei Karl Marx, in: Listen der Vernunft, a.a.O., S.121 ff.

20Ankersmit, a.a.O., S. 204.

21Georg Lukács, Die Theorie des Romans. a.a.O., S. 137.

22Ricœur, a.a.O., S. 333.

23Ricœur, ebd., S. 345.

24Vgl. zu dieser hier verkürzt wiedergegebenen Argumentation: H. D. Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens, a.a.O., S. 107-114.

25Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M 1991, S. 183.

26Max Weber: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hg. J. Winckelmann, Tübingen 1968, S. 184.

27Max Weber: Wissenschaft als Beruf, ders., Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 604 und S. 15.

28Vgl. dazu: Hans-Ulrich Wehler: Die Hybris einer Geschichtsphilosophie, in: Rechtshistorisches Journal 18, (1999) Hg. Dieter Simon, Frankfurt/M, S. 540-547.

29Vgl. Kittsteiner, Geschichtszeichen, a.a.O., S. 107 ff.

30Weber, Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 154.

31Helmut F. Spinner: Gegen Ohne Für Vernunft, Wissenschaft, Demokratie, etc*. Ein Versuch, Feyerabends Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst zu verstehen, in: Hans Peter Duerr (Hg.): Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends, Bd. I, Frankfurt/M 1980, S. 35-109; hier S. 48.

32Ricœur, Zeit und Erzählung, a.a.O., Bd. III, S.401 und S. 438.

33Ricœur, ebd., S. 409.

2. Freiheit und Notwendigkeit in Schellings ‚System des transcendentalen Idealismus‘
Ein Beitrag zur Aktualität geschichtsphilosophischen Denkens
I. Einladung zur Geschichtsphilosophie

Tot Gesagte leben länger. Auf dem XVIII. Deutschen Kongreß für Philosophie „Die Zukunft des Wissens“ 1999 in Konstanz gab es eine Sektion für „Geschichtsphilosophie“. Die Initiative dazu kam von Hertha Nagl-Docekal aus Wien, die einige Jahre zuvor die Frage aufgeworfen hatte, ob Geschichtsphilosophie heute noch möglich sei. Einige Vorträge aus Konstanz sind in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie überarbeitet abgedruckt. Herbert Schnädelbach schlägt vor, statt nach dem Sinn der Geschichte zu suchen vom Sinn in der Geschichte zu sprechen. Johannes Rohbeck redet einer Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie vor dem Hintergrund einer kulturellen Integration der Technik in den globalen Geschichtsprozess das Wort.1 Auch der Autor dieser Zeilen ist der Auffassung, dass mit der Bewusstwerdung einer neuen Stufe der ökonomisch-technischen Globalisierung die Frage nach dem Ganzen des historischen Prozesses neu wieder aufgerollt wird und dass Lyotards Kritik der „großen Erzählung“ obsolet geworden ist – eine Kritik, die noch aus den Jahren der Abwendung der französischen Intelligenz von der spezifisch kommunistischen „großen Erzählung“ der Geschichte stammte. Natürlich ist diese Erzählung hinfällig, in Frage steht aber, wie eine Geschichtsphilosophie nach einer Geschichtsphilosophie aussehen kann, die zuletzt von den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts okkupiert worden war. Vorarbeit für diesen Fragenkomplex hat Paul Ricœur geleistet.

Geschichtsphilosophie des alten Typus ist tatsächlich unmöglich, sie ist die unmögliche Form einer unmöglichen Totalisierung, wie Ricœur es im III. Band von „Zeit und Erzählung“ beschrieben hatte. Ricœur schlägt vor, „Trauerarbeit“ an Hegel zu leisten, um zu Kant zurückkehren zu können. Denn was bei Hegel gewusstes Wissen zu sein scheint, das Theodizeemotiv des begriffenen „Bösen“ in der Geschichte und die sich „hinter dem Rücken“ der agierenden Personen herstellende „Vernunft“, das ist bei Kant eine bloß hypothetische Hilfskonstruktion für die Frage, ob man angesichts der Dichotomie von Welt und Moral nicht verzweifeln müsse. Im Rahmen dieses „posthegelianischen Kantischen Stils“ spricht Ricœur dann nicht mehr von „Totalität“, sondern nur noch von einer möglichen „Totalisierung“. Er behält aber das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung im Auge, ebenso wie den Umstand, dass Geschichte nicht unter der unmittelbaren Verfügung dieses Kollektivsubjekts steht.2

Ausgeblendet mit der „Totalität“ ist dann auch die geschichtsphilosophische Teleologie; man kann von der „epistemischen Bescheidenheit“ der Kantischen Geschichtsphilosophie sprechen und betonen, dass für Kant teleologische Prinzipien nur im regulativen Gebrauch möglich waren.3 Deutlich wird bei diesem Rückgang von Hegel auf Kant in jedem Fall, dass das Ärgernis der Geschichtsphilosophie in ihrer teleologischen bzw. a priorischen Konstruktion der Geschichte lag. Übersehen wird dabei zumeist, dass diese „Teleologie“ kein willkürliches Konstrukt war, sondern dass sie eine Antwort auf ein Problem darstellte, das im späten 18. Jahrhundert gleichzeitig in der anglo-schottischen Politischen Ökonomie und der deutschen Geschichtsphilosophie erkannt wurde: Zwar wächst die Beherrschung der Natur in zunehmenden Maße, doch dieser Vorgang vollzieht sich im Rahmen eines historischen Prozesses, der eine ganz neue Dynamik aufweist und der als Ganzer nicht unmittelbar machbar ist. Die Geschichtsphilosophie nahm dieses Problem wahr, suchte aber zugleich eine Lösung und verfiel auf eben jene teleologische Konstruktion, in der an eine höhere Instanz, eine „Naturabsicht“ oder eine „Vorsehung“ delegiert wurde, was die handelnden Menschen selbst nicht herstellen konnten: Ein vernünftiges Ziel des historischen Prozesses im Ganzen. Geschichtsphilosophie bot sich als eine adäquate Philosophie – auch und gerade für Historiker an – weil sie die grundlegenden Probleme des Geschichte-Machen-Wollens und doch nicht Machen-Könnens angesprochen hatte. Durch ihre Lösungsversuche allerdings hat sie sich bereits im 19. Jahrhundert in ein theoretisches Abseits gestellt. Im Rückblick kann man so sagen: Die Fragen der Geschichtsphilosophie waren nachhaltiger als ihre Antworten.

Bei den Fachhistorikern ist von Geschichtsphilosophie ohnehin nicht viel übrig geblieben. In der Verfachlichung ihrer Wissenschaft im 19. Jahrhundert emanzipierten sie sich gerade von jener ungeliebten Philosophie, wenngleich ein Strang des historischen Wissens, die Kulturgeschichte, den Bezug zur Geschichtsphilosophie nie ganz hat abreißen lassen. Doch war Kulturhistorie ein Tummelplatz für Außenseiter; die akademische Historie wählte „politische“ Kriterien für die Letztverankerung ihrer Ausgangsfragen an die Geschichte. Sie ging mit dem Neukantianismus4 zur Wertphilosophie eines Windelband, Rickert und Max Weber über. Die in diesem Spektrum zugelassenen Kulturwerte der universitär akkreditierten Historikerzunft waren begrenzt: „Die ‚Theorie‘, auf der die ‚Verwissenschaftlichung‘ beruhte, war nichts anderes als die Ideologie des mittleren Bereichs im sozialen Spektrum, den einerseits die Konservativen, andererseits die Liberalen repräsentieren.“5 Die politische Machbarkeit der Geschichte im Rahmen des Nationalstaates und des Konzerts der Großen Mächte zog alle Aufmerksamkeit auf sich; damit war für die Mehrzahl der Historiker das Interesse an „Geschichte“ schon abgedeckt. Die Nicht-Verfügbarkeit des Ganzen von Geschichte verflüchtigte sich in diffuse Hintergrundmetaphern. Sie spielten seit der Gründung des Deutschen Reiches im nationalpolitisch „normalen“ Verlauf des Geschehens nur eine verdeckte Rolle, traten aber in den Vordergrund, als die Ereignisse den Erwartungen nicht mehr entsprachen.

Man könnte im Gefolge des I. Weltkrieges geradezu von einer „Wiederkehr des Schicksals“ sprechen. Wenn Max Weber in „Wissenschaft als Beruf“ 1919 den Kampf der Kulturwerte der Gegner des Großen Krieges beschreibt, bemüht er eine solche Hintergrundmetapher. „Wie man es machen will, ‚wissenschaftlich‘ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und der deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. (…) Und über diesen Göttern und ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine ‚Wissenschaft‘.“6 Was ist das für ein „Schicksal“, das da waltet? Es handelt sich – wie man an Oswald Spenglers Erfolgsbuch „Der Untergang des Abendlandes“ sehr schön zeigen kann, um einen nun ent-teleologisierten „Begriff“ für das nicht verfügbare Ganze des Geschehens. Sich dennoch gewaltsam-tatkräftig in dieses Schicksal hineinzustellen, es im Sinne der „Selbstbehauptung“ zu wenden, das wird nun zu einem zentralen Thema des deutschen Denkens. Schon Spengler verheißt den Deutschen, wenn sie nur – mit Nietzscheanischem amor fati – das Schicksal auf sich nehmen, in der unausweichlich kommenden Zivilisation einen Sieg des „Blutes“ über das „Geld“. Für den NS-Philosophen Hans Heyse kündigt sich noch Gewaltigeres an: „Denn Geschichte heißt: im Vollzug oder in der Verletzung der Seins- und Lebensordnungen, in Erhebung oder Fall das Schicksal vollziehen…“.7 Natürlich kann man auch das „Geschichtsphilosophie“ nennen – richtiger wäre es allerdings, es als ein Geschichtsdenken zu bezeichnen, das sich aus dem Vergessen der Relevanz der geschichtsphilosophischen Fragen herleitet. In der Einladung zur Mitarbeit an diesem Heft wird zur Suche nach „geschichtsphilosophischen Restbeständen“ aufgerufen, wenn – völlig zu Recht – die Kontaminierung gerade der deutschen politischen Geschichtsschreibung mit „Geschichtsphilosophie“ angesprochen wird. Doch sollte zugleich bedacht werden, dass es sich hier nicht mehr um genuine Geschichtsphilosophie handelt, sondern um eine ihrer Schwundstufen, die als Legitimationsideologien in den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zur Hilfe gerufen wurden, um das eigene Handeln als eine welthistorische Notwendigkeit zu drapieren.

Vor diesem Hintergrund stellt sich, bevor die Geschichtsphilosophie be- oder abgeurteilt wird, zunächst einmal die Aufgabe, zu erkennen, was sie ursprünglich war. Dazu trägt die gegenwärtige Diskussion unter deutschen Historikern kaum etwas bei. Das war nicht immer so. Ernst Bernheim hatte in sein „Lehrbuch der historischen Methode“ noch ein Kapitel über Geschichtsphilosophie eingefügt, schon verbunden mit der Klage, die Fachhistoriker kümmerten sich leider kaum um diese Dinge. Max Weber wusste noch, gegen wen er sich abgrenzte; schließlich hatte er Heinrich Rickert und Emil Lask gelesen. Anders heutige „Weberianer“. Geschichtsphilosophie gilt ihnen als Gespenst aus der Schreckenskammer des deutschen Idealismus; man darf über sie schreiben, ohne sie zu kennen.8 Auch wer sich wesentlich differenzierter äußert, blendet Geschichtsphilosophie aus der Genealogie der Geschichtswissenschaft aus. Der Historismus und seine Probleme begrenzen den Erfahrungs- wie den Erwartungshorizont. Ranke, Droysen und Dilthey bilden das traditionelle Marschgepäck; Georg Simmel und der unvermeidliche Max Weber stehen für die „Revolution der Denkart“ um 1900, an die in der gegenwärtigen Krise wieder anzuknüpfen sei. Dass eine Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft ausgerechnet etwas mit der Geschichtsphilosophie zu tun haben könnte, scheint so unausdenkbar, dass es gar nicht erst in Erwägung gezogen wird.9

Die Fragen also, ob eine Geschichtsphilosophie heute möglich ist und was sie für die Geschichtswissenschaft – vor allem für eine erneuerte Kulturgeschichte – bedeuten kann, muss nach Lage der Dinge außerhalb der Historikerzunft diskutiert werden. Wenn man davon ausgeht, dass die Konstruktion einer Teleologie der Anlass für die Ächtung der Geschichtsphilosophie war, wird man nach nicht-teleologischen Möglichkeiten einer Philosophie der Geschichte fragen müssen, die zugleich die ursprüngliche Einsicht in die Nicht-Verfügbarkeit des Geschehens aufrechterhält. Zu diesem Zweck können einzelne zentrale Kategorien der Geschichtsphilosophie einer Prüfung unterzogen werden; am Beispiel der Kantischen Kategorie des „Geschichtszeichens“ liegt dafür ein erster Versuch vor.10 In diesem Beitrag soll ein anderer Anlauf versucht werden: Was hat es mit der Vorstellung von einer a priorischen Konstruktion auf sich, und gibt es in den Geschichtsphilosophien selbst (denn sie sind kein monolithischer Block) Möglichkeiten einer nicht a priorischen ‚ gleichwohl heute noch rezipierbaren Beantwortung der Frage nach der Condition humaine im Rahmen eines unverfügbaren historischen Prozesses. Diese Frage soll an einigen Textpassagen bei Kant und Schelling durchgespielt werden.

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