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14.

Chira Walldorf war schon als junges Mädchen nett anzuschauen. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht mit ausdrucksstarken Lippen und verträumten Augen, aber mit einem kecken Blitz. Sie tollte um die Apfelbäume und spielte mit den Jungs Verstecken und Fangen. Im Sommer rannte sie barfuß über die Wiesen und ließ im Herbst auf stoppeligen Feldern Drachen steigen.

Dass sie später einmal zur Ikone der Mode reifen und als Model Karriere machen würde – auf diesen Gedanken musste man erst einmal kommen. Die Eltern gingen natürlich davon aus, dass sie im Dorf bleiben, eine Ausbildung machen, einen Mann kennenlernen, Kinder bekommen würde – was auch sonst!

Ein Foto zeigte sie auf dem Traktor ihres Vaters, der den Bauernhof schon in fünfter Generation bewirtschaftete. Sie lächelte spitzbübisch, als würde sie gleich den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken, das freche Knacken und Räuspern des Motors in Gang setzen und die Kraft spüren, wie sich die schweren Räder selbst durch härtesten oder tiefschlammigen Acker durcharbeiten. Mit Traktor verband sie nicht Arbeit, sondern Spaß.

»Bauer zu sein, ist kein Beruf, sondern eine Berufung«, predigte ihr Großvater. Er hatte oberhalb der Dielentür, vier Meter breit, 2,50 Meter hoch, ein Holzschild anbringen lassen, darauf stand:

»Wir sind mit der Scholle verwachsen,

wir nehmen alle Mühe auf uns,

um eine gute Ernte heimzuholen.«

Anfang Oktober feierte die Familie immer das Erntedankfest, erst in der katholischen Kirche, dann zu Hause mit der Familie und den Nachbarn. Üppig wurde der Altar in der Kirche mit Obst, Getreide und Feldfrüchten dekoriert. Abends gab es in der geschmückten Diele ihres Bauernhofes Kartoffelsuppe mit Speckwürfeln. Die Männer tranken Bier und Schnaps, die Frauen Weißwein und Wasser.

Die Diele war ausgelegt mit großen, vierkantigen Steinen. Im Erker hing ein Holzkreuz mit einem Palmenzweig, schräg gegenüber thronte der Kamin, in dem noch vor 50 Jahren die Schinken der geschlachteten Tiere geräuchert wurden.

Für Großvater und Großmutter war die Diele Küche und Schlafzimmer, ein Lebens-Raum der fortwährenden Berührung. Entweder berührten Geräusche oder Gerüche oder die Enge; kein Entkommen möglich. Aber sie kannten es nicht anders. Fast alle Bauern im Dorf lebten so. Dagegen hatte der Großbauer, dem auch die Gastwirtschaft am Ort gehörte, ein riesiges Haus. Die Dorfbewohner erzählten sich, dass er und seine Frau sogar eigene Schlafzimmer hätten und die Kinder versuchten zu erraten, wie viele Zimmer wohl in so ein Haus passten.

Als der Großvater nicht nur die Felder bewirtschaftete, sondern auch mit der Tierzucht begann, erst Schweine, dann Kühe und später auch Rinder, kam mehr Geld herein, und er begann damit, den Bauernhof zu vergrößern. Sein Sohn setzte dieses Werk fort. Immer gab es etwas zu erneuern oder zu verändern, erst die Scheune, dann den Schweinestall, dann wieder die Küche, und Chira und ihr Bruder bekamen eigene Zimmer.

Die Diele veränderte radikal ihren Zweck, aber ihr Alter verbarg sie nicht. Ein Alter, das viele Leben verinnerlichte und das die Patina einer intensiven Tradition vermittelte – auch wenn dieser Raum zum Kommunikationszentrum wurde für die Familie mit ihren Freunden, für den Postboten, Tierarzt, Pfarrer, Bürgermeister und die Vertreter des Bauernverbandes oder der Genossenschaftsbank.

Bei einem Kaffee oder einem Schnaps redeten die Männer und Frauen über die neuen Bürger des Dorfes, über die Nikolausfeier der Freiwilligen Feuerwehr und neuerdings auch über einen ehemaligen Olympiasieger im Springreiten, der von den Bauern für seine Reithallen, Pferdeställe, Führ- und Longieranlagen Grundstücke kaufen wollte. Aber er wollte nicht verstehen, dass ein Bauer niemals seine Scholle verkauft, und weil er es nicht verstand, hatte er sogar den Bürgermeister darum gebeten, er solle doch bitte auf die Bauern zugehen. Darüber wiederum lachten die Bauern, und sogar der Bürgermeister lachte mit.

Immer wieder verrutschte das Dielengespräch zu einer Tratscherei, und keiner wäre auf die Idee gekommen, den Austausch von Ansichten, Meinungen und Bewertungen als Gewäsch zu bezeichnen. Jedes Mal, wenn ein Satz mit den Worten begann, »hast du schon gehört«, spürten die Zuhörer die Heilkraft eines Geheimnisses, das ihnen gerade offenbart wurde und sie glücklich machte. In einem nächsten Schritt erfolgte die Verarbeitung des Geheimnisses:

»Wirklich?«

»Das kann doch gar nicht sein.«

»Das hätte ich niemals gedacht.«

Mittendrin saß häufig der Pfarrer, fehlplatziert wie ein Smoking in einer Kneipe. Er hielt sich zurück beziehungsweise tat so, als würde ihn das alles nicht interessieren. Er hatte eine Kunst entwickelt, innerliche Abwesenheit zu demonstrieren, aber hellwach bei der Sache zu sein. Menschen, die ihn kannten, glaubten fest daran, dass sich seine kleinen Ohren zu der Größe eines Rhabarberblattes ausweiteten, um selbst kleinste Flüstersignale aufzunehmen. Dem Pfarrer entging tatsächlich nichts. Aber der gute Mann erzählte keine Gerüchte weiter. Frostiger konnte der Tod für Tratsch und Klatsch gar nicht sein.

Als »unser Päpstlein« bezeichnete Chira ihren Pfarrer. Sie meinte das »sehr lieb«, weil er sich um die Menschen kümmerte und sie gerne anlächelte. Natürlich hatte er nichts von der Macht des wirklichen Papstes in Rom, aber er sah ihm ein wenig ähnlich, wenn man es eben so sehen wollte.

Ostersonntag saß die Familie immer vor dem Fernseher, um die Ostermesse des Papstes mit dem Segen »Urbi et Orbi« zu sehen. Anschließend gab es das festliche Osteressen, Rindfleischsuppe, danach Rollbraten mit warmem Kartoffelsalat, danach Schokoladenpudding mit Sahne oder Eis für die Kinder.

Sie wurde nach ihrer Ersten Kommunion Messdienerin, engagierte sich in der katholischen Jugend und war immer mit dabei, wenn Zeltlager oder Pfarrfeste organisiert werden mussten. Sie ging gerne in die Kirche, nicht immer, aber wenn sie in die Kirche ging, zündete sie eine Kerze vor der Jesus-Statue an und sprach dazu ein Gebet. Sie betete für Mama und Papa und ihren Bruder, für Oma und Opa, und auch für ihre beste Freundin, dass alle gesund bleiben und Spaß am Leben haben sollten. Manchmal dachte sie, sie müsste auch für Jesus beten, weil er immer so krank und leidend aussah.

Die Diele des Hauses roch nach Kamin und verbranntem Holz. Und die Katzen schlichen an dem langen Holztisch entlang. Der Hund der Familie, ein Bernhardiner, war ein Ausbund an Gutmütigkeit. Zumindest behielt er selbst dann die Ruhe, wenn die Kinder ihn am Schwanz zogen oder ihm eine Pudelmütze über die Ohren auf den Kopf stülpten. Er konnte nicht böse sein, oder es wirkte so, weil in seine Gutmütigkeit eine extreme Langsamkeit einfloss. Schließlich kam seine Rasse aus Bern, oder warum hieß die Rasse Bernhardiner? Man sagt, in Bern seien die Menschen etwas langsam. Ein Psychologe wollte sogar herausgefunden haben, dass die Berner nur 3,8 Kilometer pro Stunde laufen: also schleichen, und ein Sprachwissenschaftler behauptete, dass die Bewohner im Kanton Bern langsamer sprächen als der Rest der Schweiz.

Chira hatte von ihrer Mutter das Kuchenbacken gelernt. Kuchen mit Äpfeln, Quitten, Erdbeeren, Preiselbeeren, Pflaumen, alles, was der Bauernhof an Frische in einer Saison hergab. Noch lieber aber backte sie Brote. Es wurde ihr zur Gewohnheit, dass sie jeden Freitag neue Laibe backte. Als sie noch klein war und gerade erst in die Schule kam, war freitags immer Waschtag. Daraus wurde also ihr Brotbacktag. Der Duft des ofenwarmen Brotes zog durch die Räume. Ihr Vater aß das Brot am liebsten nur mit Butter, um den Geschmack nicht mit Wurst oder Käse zu verfälschen.

»Ich bin ein Dorfkind«, sagte sie später mal in einem Interview mit der Zeitschrift »Dorf und Dörfler«, als sie schon in die Beletage der begehrtesten Models aufgestiegen war. Sie erzählte, wie sie an den Wochenenden, wenn also keine Schule war, zu den Hühnern gegangen war, um die Eier einzusammeln, und wie sie der Sau Elma abends immer ein paar Streicheleinheiten gegeben hatte. Sie mochte die Luft, die Gerüche, die Felder und die Menschen, ein Schwätzchen vor der Kirche, Dorffeste, das Gefühl des Zusammenhalts. »Ich hatte eine wunderbare Kindheit mit lieben Eltern, das Leben im Dorf hat mich gefesselt, hier bin ich ein kompletterer Mensch als in der Stadt.«

Als sie 14 Jahre alt wurde, half sie fast jeden Samstag von sieben bis 13 Uhr im Hofladen ihrer Eltern mit. Sie verkaufte frische Eier, frisches Fleisch, frisches Gemüse und selbst gemachten Käse. »Bio ist ja ein blödes Wort, weil es jeder benutzt, aber was hier abging, war Super-Bio«, erläuterte Chira Walldorf ebenfalls in diesem Interview. »Darauf können meine Eltern so richtig stolz sein.«

Dieser Stolz traf auch das Empfinden der Kunden, die nicht nur ihren Appetit im Sinn hatten, sondern auch das Tierwohl. Sie wollten glückliche Rinder und Schweine, die freudestrahlend zur Schlachtung gingen, um den Menschen mit gutem Fleisch zu dienen. Dieses Glück sprach sich im Umkreis von 20 Kilometern herum. Eine solche Strecke waren die Bio-Käufer bereit, auf sich zu nehmen und die Fleischtheken der Supermärkte links liegen zu lassen.

Sieben Uhr morgens war noch nicht viel los im Hofladen. Aber ab halb zehn gab es fast immer kleine Staus vor dem Bauernhof, weil nicht jeder Super-Bio-Käufer einen Parkplatz fand. Der Stau setzte sich an der Theke fort mit mindestens fünf Reihen hintereinander. Aber es herrschte eine höfliche Artigkeit, kein Schubsen, kein Drängeln. Die Gesundesser konnten unmöglich ihren Nimbus als Tierschützer und Naturliebhaber mit kleinkariertem Egoismus aufs Spiel setzen.

Wer dann die erste Reihe erreicht hatte, musste hoffen, dass er das bekam, was er wollte. Weil alles frisch war, gab es die Produkte nur in beschränkter Anzahl. Was weg war, kam erst in einer Woche wieder nach. Pech gehabt. In dieser heiklen Situation tiefwirkender Enttäuschung kam es darauf an, den Kunden mit psychologisch geschickter Aufbaukommunikation eine Alternative schmackhaft zu machen. Darin war Chira eine Meisterin. Sie verkaufte an superglückliche Menschen Schweinelendchen, obwohl sie lieber Rinderfilet gehabt hätten. Die superglücklichen Menschen wunderten sich dann, warum sie nicht selbst darauf gekommen waren.

Während des Verkaufens warf sie immer mal wieder einen Blick auf die Kunden und fragte sich, wie die wohl drauf sind? Den Typen in der zweiten Reihe zum Beispiel befand sie als »anstrengend«. Sie malte sich aus, dass sie es ihm nicht recht machen konnte. Er machte einen willensstarken Eindruck. Markantes Kinn. Stechende Augen, die die Welt gesehen haben mussten. Coole Jacke. Gel in den Haaren. Ganz bestimmt kein Dörfler. Sie zählte ihre Risiken hoch, ihn bedienen zu müssen. Die Chancen standen eins zu drei. Er landete bei ihrer Mutter.

Der Mann mochte so um die 35 gewesen sein. Er fuhr einen Sportwagen, die Marke kannte sie nicht, so ein komischer Doppelname, irgendetwas mit Arthur, A …, ach ja: »Aston« und einem deutschen Vornamen. Sie überlegte, der Name würde ihr sicherlich später einfallen.

Während die Mutter die Bestellung abarbeite, schrie die Tochter laut auf. »Ich habe es. Aston Martin!«

Verdatterte Blicke.

»Oh, Entschuldigung.« Sie lief rot an, und der Bio-Mann, dessen Auto die erfolgreiche Namenssuche galt, lachte laut auf. »Ich dachte, das ist hier ein Bauernhof und keine Werkstatt.«

Regelmäßig im Frühjahr und im Herbst kam dieser Bio-Aston-Martin-Mann, um Rinderbraten und Gemüse zu kaufen. Für insgesamt sechs Männer. Freunde. Sie trafen sich zu einem Kochwochenende in einem gemieteten Haus. Es hatte eine Liebhaberküche mit einer Kochstelle, die wie ein Quadrat in der Mitte des Raumes stand. Darum versammelten sich die Hobbyköche wie Priester um den Altar, um sich dem Wertvollen zu widmen und sich dabei gegenseitig im Blick zu behalten. Abschmecken. Mit Champagner anstoßen. Weißt-du-noch-Geschichten erzählen. Auf die Uhr schauen. Wann können wir mit der Vorspeise beginnen …

Es vergingen Frühjahre und Herbste. Chira offenbarte mit Durchschreiten ihrer Pubertät eine anziehende Natürlichkeit, als müsste Attraktivität neu definiert werden. Das Verspielte in ihrem Gesicht entwich aller Kindlichkeit. Jetzt zeigte es Aufbruch und Sinnlichkeit. Ihr Leben stieg in eine neue Etappe ein.

Es war Anfang Mai, und der Mann mit dem Auto fuhr wieder einmal vor. Er trug zu seiner Jeans ein blaues T-Shirt, einen braunen Gürtel und braune Mokassins. Um seine Schulter hing ein cremefarbener Pullover. Noch etwas scheu drang die Sonne auf den Vorplatz des Hofladens, der im Herbst um diese Uhrzeit bereits viele Kunden einnahm. Aber sobald wärmere Luft über die Wiesen und Äcker strömte, verringerte sich die Kundenquote und damit der Fleischverbrauch. Offenbar bevorzugten die Menschen dann Fisch mit Salat oder Hähnchenbrust mit Salat oder Salat pur mit kaloriensparendem Buttermilchdressing.

Der Mann stand bereits in der ersten Reihe und wunderte sich über Chira. »Ich erkenne dich kaum wieder«, staunte er in Du-Form. »Was ist passiert?«

»Es ist nichts passiert, außer dass ich vor Kurzem 17 geworden bin. Sie können mir noch gratulieren!«

Sie lächelte dabei.

»Das mache ich doch gerne: herzlichen Glückwunsch.«

Kurze Stille. Intensive Blicke.

»Darf ich dir ein Foto schenken?«, fragte er.

»Ein Foto?«

»Ich fotografiere dich!«

»Wow, ja klar, finde ich spannend, aber bitte nicht von der Art ›Mädel vom Lande‹.«

Der Mann, der gerne kochte, einen Sportwagen fuhr und offenbar auch fotografieren konnte, hatte nur noch eine Frage:

»Wann hast du Zeit?«

»Morgen Nachmittag wäre es am besten. Dann spiegelt der Frühling seine schönsten Farben«, schwärmte sie.

»Wir können uns duzen, ich bin Karl.«

»Möchtest du wie immer Rinderbraten?«

Beide mussten lachen. Eine seltsame Albernheit lag in der Luft, und doch: Sein Blick war professionell.

Als Karl die Fotos in seinem Studio in Monaco entwickelte, konnte er sein Glück kaum fassen. Ein Glück, das des Zufalls bedurfte, aber auch seines geniereichen Instinkts. Keine Frage, er galt unter den Modefotografen als Koryphäe. Er selbst verfiel auch nicht einer Bescheidenheit, um dieses Lob nicht im Geringsten zu relativieren.

Er hing das Foto mit einem Magnetsteinchen an die Leiste, ging zwei Meter zurück, schlug sich in die Hände, gut gemacht, Karl, und zündete sich auf dem Balkon mit Blick auf den Jachthafen eine Churchill an.

15.

Sie zündete die Holzkohletablette an und legte den Weihrauchharz darauf. Ein dichter Qualm zog zur Decke und verbreitete einen süßlich schweren Duft.

Andächtig schaute sie dem aufsteigenden Weihrauch nach, der wie ein grauer Schleier im Wind zu tanzen schien. Sie schlug das Buch der Psalmen auf. Dort markierte sie mit dem rechten Zeigefinger den zweiten Vers von Psalm 141. Sie las ihn vor mit einer feierlichen Helligkeit in der Stimme, als müsste sie ihre Stimmbänder für die großen Worte einstimmen:

»Wie Weihrauch steige mein Gebet vor dir auf.

Das Erheben meiner Hände gelte vor dir als Abendopfer.«

Danach faltete sie die Hände und betrachtete sich in ihrem weißen Kleid im Spiegel. Sie sah aus wie eine Braut auf einer Beachparty, bereit für das feierliche Hochamt vergnüglicher Stunden, gesegnet mit Freude und Hoffnung, Aufbruch und Erwartung.

Und doch flüsterte sie, als trüge sie ein Trauerkleid:

»Mein Herr, mein Gott, hier stehe ich nun vor dir. Ich habe dir im Mai mein neues Antlitz geschenkt. Mehr kann ich nicht mehr tun, um dir zu gefallen. Warum bist du nur so fern? Ich höre dich nicht mehr. Es brennt in meinem Körper. Du hast mich verlassen. Du magst mich noch immer nicht.«

Sie beobachtete im Spiegel genau ihre Lippen beim Sprechen ihrer Worte. Sie schaute weiter zur Nase und von dort zu den Augen, dann zur Stirn und schließlich zu den Haaren. Sie ging einen Schritt zurück, um das Gesicht vollständig auf sich wirken zu lassen. Dann haute sie mit der rechten Faust auf den Spiegel.

Er zersprang.

Sie blutete. Das Blut tropfte auf ihr weißes Kleid. Es bildeten sich rote Punkte, als wären die Tränen aus Blut.

Schreiend ging sie in die Knie, klatschte mit ihren Händen auf den Boden. Dabei betrachtete sie die kleinen vierkantigen Fliesen, die sich abwechselnd in Weiß und Schwarz aufteilten. Sie stellte sich vor, wie der Teufel auf den schwarzen Fliesen wütete und der Engel auf den weißen Fliesen betete, und sie fürchtete, dass der Teufel auf die weißen Fliesen vordringen könnte, von Kachel zu Kachel, um den gesamten Boden zu beherrschen. Sie hatte keine Vorstellung, wie sie dann noch in diesen Raum zu ihren Schminksachen hätte gehen können, unmöglich, mit christlichen Füßen bösen Boden zu betreten.

Der Weihrauch, nun wie an dünnen Fäden gezogen, verlor sich von Minute zu Minute, aber sein Duft waberte noch in der Atmosphäre des Raumes, bis auch er sich auflöste.

Sie weinte. Sie wusste aber nicht, warum sie weinte und wohin das Weinen führen sollte. Langsam öffnete sich die Quelle einer unergründlichen Traurigkeit, und ihre Tränen verfärbten das Augen-Make-up zu einem grün-violetten Farbspiel, als würde ein Clown für seinen Auftritt zurechtgemacht.

Je intensiver sie in den zersprungenen Spiegel schaute, um die Konturen ihres Gesichtes zu begutachten, desto verschwommener wurde ihr Blick, die Augen konnten die Last nicht mehr tragen und fielen zu. Als würde sich der Sommer plötzlich in ein winterliches Abenteuer verwandeln, begann ihr Körper zu donnern und zu blitzen. Schnee fiel auf ihre Seele, und gletscherkalte Kristalle umarmten ihren Herzmuskel. Ihr Körper zitterte. Das Zittern rockte durch Sehnsucht und Fantasie. Sie sank langsam zu Boden, versuchte sich noch abzustützen, dem Schwindel folgte der Niedergang.

Das Licht, das sie noch milchig wahrnahm, war nur ein grauer Schleier, bis sich alles in Schwarz verwandelte, alles – das Bewusstsein, die Empfindung, der Geist. Sie schwebte durch einen Tunnel, und sie entschwebte der kalten Dunkelheit in ein Licht, das sie noch nie gesehen hatte, als würde das Licht aus Geigen mit schönsten Klängen bestehen. Ein Engel holte sie ab, er hatte das gleiche Gesicht wie sie. Er zeigte ihr den Himmel mit glücklichen Menschen, die alle das gleiche Gesicht hatten wie sie.

Langsam wachte ihr Körper auf, und sie stöhnte flüsternd: »Ich bin doch die Schönste«, aber keiner hörte zu, keiner sah sie.

Sie legte ihre Hände aufs Gesicht, sie spürte Stille, ein leiser, gleichmäßiger, warmer Atem zeigte Leben, und sie versuchte etwas zu fühlen.

Horch in dein Inneres.

Spüre dein Leben.

Sage: ja.

»Ja«, wiederholte sie, nahm ihre Hände vom Gesicht und vernahm einen friedfertigen Augenblick, nur ganz kurz, aber intensiv. Glück speiste sich in ihre Seele, als sähe sie nach Jahren zum ersten Mal wieder die Sonne, weil sie die Fensterläden geöffnet hatte; zunächst sah sie gar nichts, weil das gleißende Licht alles für sich einnahm: Farben, Konturen, Landschaften. Noch wirkte das Licht wie eine silbrige Wüste, Sand auf Sand mit einer unheimlichen Weite.

Ist mein Leben auf Sand gebaut?

Wie viel Zeit habe ich noch?

Wer bin ich?

Das Auge gewöhnte sich an die Sonne, und es erfasste langsam, aber doch wahrnehmbar eine neue Sicht auf das Leben.

Ich möchte alles erfassen und berühren, um zu erfahren, wie sehr ich lebe.

Sie wusste nicht, was sie denken sollte, weil ihre Gefühle das Denken übernahmen.

Liebes Gesicht, du bist wichtiger als mein Herz und meine Lunge, wichtiger als mein Bein und mein Fuß, weil du mich zaubern lässt. Mein liebes Gesicht, sei immer barmherzig zu mir, indem du dich von deiner schönsten Seite zeigst, die mich erlöst von aller Mattigkeit und Traurigkeit.

Sie übersetzte Leben mit Attraktivität. Die Kraft der Äußerlichkeit dominierte zunehmend ihr Verlangen, sich gründlich zu verändern.

Auf der Website der »Dr. Picard Klinik für Ästhetik« stand:

»Damit Ihr Traum Wirklichkeit wird. Sie möchten Ihr Aussehen verändern, um Ihrem Leben mit gesunder Ausstrahlung eine neue Natürlichkeit zu geben. Was Sie erhoffen, wird wahr. Für diese Wahrheit stehen wir mit der Exzellenz unseres Namens ein.«

Sie glaubte daran.

Was ihr Gesicht nach jedem Eingriff hervorbrachte, war ein Abschied von ihrer Vorherbestimmung, denn ihre Konturen, durch Gott und Gene erschaffen, gingen in ein anderes Gesicht über.

Was sie sah, begriff sie als eine neue Schöpfung. Ihre Identität, ihre Urkraft, ihr Sein, all das, was sie seit ihrer Geburt in ihrem Leben wirken ließ, konnte sie zwar nicht ungeschehen machen, denn was war, würde immer sein, aber sie konnte sich neu erfinden.

Sie betete.

»Lass mich heilig werden, gütiger Gott. Nimm mich als Engel auf Erden, lass mich strahlen für deine Herrlichkeit.«

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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304 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839267325
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