Читать книгу: «Ein letzter Frühling am Rhein», страница 2

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Da war er natürlich sehr viel klarer im Kopf. Er wollte sich nicht verstellen und irgendwelche Spielchen spielen, um das Verkaufspersonal für ein bestimmtes Verhalten zu gewinnen. »Ich bin authentisch«, betonte er mehrmals am Tag, besonders dann, wenn seine Frau nach seinem Empfinden mal wieder nicht authentisch war. Dabei fand er das Wort »authentisch« ziemlich bescheuert, weil es jeder »Plapperheini« benutzte und es deshalb völlig kraftlos wirkte. Den Widerspruch hielt er aber locker aus.

Er versuchte, auch »dynamisch« und »innovativ« weitgehend aus seinem Wortschatz zu verbannen, obwohl er sich selbst als dynamisch und innovativ bezeichnen würde, aber klar, wenn die größten Langweiler sich als dynamisch und die erfolglosesten Typen sich als innovativ hochjubelten, müsste er andere Worte für sich finden.

Ihn gab es nur exklusiv, und er musste ständig aufpassen, kein Opfer des Zeitgeistes zu werden. Der Zeitgeist mit seinen Moden und Stimmungen war für ihn ein gefährlicher Geselle, und seine Charlotte eine gefährliche Kumpanin des Zeitgeistes.

Angriff: »Zieh doch mal etwas Anderes an«, forderte sie ihn auf.

Die Verteidigungslinie stand sofort: »Ich bin nicht ein Clown, der sich verkleidet.«

Gegenangriff: »Ein Clown fällt wenigstens auf.«

Kilian war Dauer-Jeans-Träger. Manchmal kombinierte er seine Jeans mit einer blauen Jacke, wenn er das Gefühl hatte, dadurch nicht seine Authentizität zu beschädigen. »Bullen-Outfit« nannte das Charlotte, weil alle zivilen Polizisten so oder ähnlich herumliefen. Sie sagte, sie müsse übertreiben, weil ihr Mann auf sprachliche Feinheiten hinsichtlich der Mode nicht reagiere.

4.

Vor dem Haus der Ermordeten drängelten sich Fotoreporter und Kamerateams um die besten Plätze. Sie schubsten sich beiseite und motzten wirr durcheinander. Einige hatten eine Standleiter dabei, um über die anderen Köpfe hinweg die Linse auszurichten für das bewegende, animierende, herausfordernde Motiv. Optimal wäre ein Motiv gewesen, das Trauer und Anmut, Stille und Intimität im entscheidenden Bruchteil einer Sekunde einfängt, so etwa: Als die schwarz gekleideten Männer vom Bestattungsinstitut die anthrazitfarbene Leichenbahre aus dem Haus tragen, öffnen sich die Wolken und die Sonne strahlt wie ein Abschiedsgeschenk für Chira Walldorf. Schön kitschig. Aber die Leiche war schon in der Gerichtsmedizin, und auf das Wetter hatten die Fotoreporter ohnehin keinen Einfluss.

Der Nachrichtenstrom erfasste die Republik, als sei ein Modelmord wichtiger als eine Sozialreform. Wichtiger als der Trump-Putin-Gipfel. Wichtiger als ein Machtkampf um das Kanzleramt. Was die Menschen ins schockhafte Staunen versetzte und ihnen Anlass zum Tratschen gab, musste einfach bedeutungsvoll und damit wichtig sein. Die großen Modehäuser in Paris und Mailand gaben Beileidsbekundungen heraus. Artige Worte im feinen Kostüm des Schreckens.

»Wir trauern um ein großes Leben«, schrieb die wohl renommierteste Modelagentur »Z 10«. Großes Leben, stand da tatsächlich, als ob Chira Walldorf sich viele Jahrzehnte für junge Künstler eingesetzt oder Spenden für arme Kinder in Deutschland gesammelt hätte.

Der schillernde Modemacher Massimo Dutti beließ es nicht mit einer schriftlichen Erklärung. Mit Sonnenbrille trat er aus dem Palast seiner Haute Couture, obwohl die Sonne nicht schien. Er sagte mit belegter Stimme, monoton, aber doch unruhig, als müsste er mit genau 38 Buchstaben das Unbegreifliche einer plötzlichen Endlichkeit auf den Punkt bringen: »Wir sind alle bestürzt und unendlich traurig.« Er schaute für einen Augenblick in die Kameras, ging dann zurück durch die gläserne Tür, die einen massiven Türgriff hatte, der einem Rugbyball ähnelte.

Die Branche des Zeitgeistes kannte sich mit den Worten der Schmeichelei aus, mit all den Befindlichkeiten und Sehnsüchten, begehrt zu sein. Aber nun befand sie sich in einer beklemmenden Starre zwischen Ergriffenheit und Verwirrtheit. Ihr buntes, schrilles, heiteres Spektakel offenbarte müde, ratlose Worte und ebenso müde und ratlose Gesichter. Mode ist Leben. Extravaganz. Partys. Aber doch kein Leichensack!

Die sündhafte teure Modemarke »Patricia Home«, mit der die Tote zum Star-Mannequin wurde, setzte auf eine Hoffnungsprosa, um das Nicht-Mehr-Sein zu verarbeiten und sich von den Trauerworten der anderen abzusetzen:

Der Tod ist die Fratze des Lebens

Übermütig offenbart er sich

in einer Sekunde des Schmerzes

triumphiert im Dunkel der Angst

und merkt nicht

das neue Leben hat schon begonnen

im Kirschblütenland.

Das Kirschenblütenland war nun allerdings das Gerichtsmedizinische Institut. Zur Todesursache schrieb Albert formal nüchtern:

»Absichtliche Fremdbeibringung durch Gift. Die angewandte Dosierung führte innerhalb von zwei Stunden zum Tod. Der Tod trat zwischen 19 und 22 Uhr ein.«

Die Journalisten wollten mehr wissen. Sie gierten nach Details, um ihre Geschichten damit zu bereichern. Daraus wurde eine Sucht, die nicht informieren, sondern unterhalten wollte. Ein mediales Spektakel, das nicht nur von Fakten lebte, sondern auch von Spekulationen. Daran trug Staatsanwalt Martin Hummelberger mit seiner übervorsichtigen und zudem hölzernen Art wesentlich bei. Informationen, die längst durchgesickert waren wie etwa »Mord durch Gift«, behandelte er aus »polizeitaktischen Gründen« als Staatsgeheimnis. Das führte wiederum dazu, dass er eine Pressekonferenz, wie sie in aufsehenerregenden Fällen üblich war, ablehnte.

Was er freilich nicht beachtete, dass die Journalisten sich daran nicht störten. Sie bastelten ihre eigenen Nachrichten, befragten Nachbarn, Modehändler, Werbepartner und stöberten im Leben des toten Models herum. Jeder Krümel verdichtete sich zu einem krossen Brot, frisch aus dem Backofen. In all diesen Inszenierungen konnte man gar nicht groß genug denken.

Ein Kommentator schrieb: »In welcher Welt leben wir eigentlich? Ein Mensch, der das Schöne und Gute verkörperte, musste sterben.«

Spitzfindig fragte Charlotte ihren Kilian am anderen Tag, was denn ein gewaltsamer Tod mit Schönheit zu tun hätte?

»Quatsch mit Soße«, brummte er.

»Du bist ja ein Prachtanalytiker«, schob sie nach.

»Kauf dir einen Fisch und wickle ihn in dieses Scheißblatt ein.«

»Welchen Fisch möchtest du denn?«

»Steak mit Pommes.«

Kilian war durchaus begabt darin, sein Gemüt von empathisch auf dickfellig umzustellen. Darin mischte er allerdings häufig die Andeutung eines Witzes, um nicht so streng herüberzukommen.

Die Onlinemedien, Radio- und TV-Sender hatten sich an der ersten Nachrichtenwelle sattsam abgearbeitet. Die Wochenzeitungen und Magazine mussten nun mit eigenen Geschichten nachziehen und einen Dreh finden, um aus Alt Neu zu machen. Genau genommen fiel ihnen das auch nicht schwer, weil sie meisterlich darin waren, ihren Geschichten einen rührseligen, sentimentalen und weinerlichen Antrieb zu geben.

Ein Magazin, das donnerstags erscheint, verschob seinen Redaktionsschluss sogar von Dienstag auf Mittwochmorgen, um noch von der Mord-Model-Hysterie zu profitieren. Es kramte aus seinem Archiv alte Mordgeschichten hervor, layoutete dazu eine aufwendige Bilderstrecke mit wenig Text. Das wirkte. Dafür durfte natürlich der Schillerndste aller Modeschöpfer nicht fehlen. Ein Serienkiller schoss Gianni Versace vor seiner Villa »Ocean Drive« in Miami Beach zweimal in den Kopf. Über die Gründe zweifelt die Polizei selbst Jahrzehnte nach der Tat noch immer. Der Killer nahm sich später auf der Flucht das Leben.

Dagegen war der Mord an Mauricio Gucci in der »Via Palestro« in Mailand ein echter Klassiker. Die rachsüchtige Gattin Patrizia Reggiani konnte es nicht verwinden, dass ihr Ehemann sie nicht mehr wollte, und engagierte den Todesschützen. Vier Kugeln benötigte er für die Vollendung seines Auftrages. Anschließend schrieb die Witwe ein griechisches Wort in ihr Tagebuch: »Paradeisos«, Paradies.

5.

Die Spurensicherung sicherte 124 verschiedene Spuren, Fingerabdrücke, Echthaare und Haare von einer Perücke, Speichel, Schuppen, Schmutz, der mit Schuhen in die Wohnung hineingetragen wurde. Auffällig war, dass von den Gläsern im Glasschrank zwei Gläser komplett ohne Spuren waren. Solch eine penible Reinigung erfuhr auch der Boden in der Küche, der klinisch sauber erschien.

Die Sichtung ihres Smartphones ergab: Ihr letztes Gespräch führte sie noch am Morgen mit ihrem Bruder. Es dauerte keine zwei Minuten. Aus den weiteren Anrufen und Nachrichten ließ sich bis zu diesem Zeitpunkt nur erkennen, dass viele Verbindungen ins Ausland führten oder von daher kamen.

6.

»Wer sind diese Menschen, die im Haus von Frau Walldorf wohnen?«, wollte Kilian wissen, nachdem die ersten Routinebefragungen, die nach Auffinden der Leiche begonnen hatten, keine Erkenntnisse gebracht hatten.

»Bin schon dran«, antwortete Cosima mürrisch, als wüsste sie nicht selbst, was in welcher Reihenfolge zu tun ist.

»Ich will auch wissen, wer da so ein- und ausgeht, und besonders natürlich, wer alles am Todestag sich in diesem Haus aufgehalten hat.«

Am liebsten hätte sie gesagt: »Darauf wäre ich niemals von allein gekommen. Zum Glück gibt es da aber jemanden, der mir sagt, was ich schon längt weiß.«

»Ja, Herr Hauptkommissar, wird gemacht«, salutierte sie stattdessen mit übertriebener Befehlsbereitschaft.

Kilian schaute sie irritiert an. »Ist was?«

»Nein, ich bin einfach nur dankbar, dass du mir immer genau sagst, wann was zu tun ist.« Sie verband diese Worte allerdings mit einem Lächeln. Eine auflockernde Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass er Ironie genau in diesem Moment nicht verstanden hätte.

Sie legte sich einen Plan zurecht.

Erstens: Recherche im Polizeicomputer. Gibt es polizeibekannte Auffälligkeiten, Hinweise und so weiter.

Zweitens: Externe Recherchen in Zeitungen und Online-Diensten. Vielleicht gab es Berichte über oder Interviews mit einem Hausbewohner und damit erste Anhaltspunkte über Meinungen, Befindlichkeiten, Vorlieben, Affären.

Drittens: Einzelgespräche mit allen Bewohnern. Sie überlegte, was schlauer war: Sollten die Gespräche in den Wohnungen stattfinden oder im Polizeipräsidium? Für das Polizeipräsidium sprach: Hier lügt es sich schwerer, weil der Ort einschüchtert. Dagegen sprach: In einer Wohnung nähme sie mehr Details auf.

Sie entschied sich für die Wohnungen, zumal dieser Ort enormes Steigerungspotenzial besaß. Das Polizeipräsidium mit offizieller Ladung käme dramaturgisch an die Reihe, wenn aus einer Befragung eine Vernehmung würde.

Cosima schaute neugierig auf die Namen, als wären sie Schmuckstücke. Schick, teuer, außergewöhnlich.

Dr. Max Moritz, Zahnarzt, alleinlebend, 49 Jahre.

Hans Meiser, ehemaliger Topmanager, jetzt Pensionär, 73 Jahre, mit seiner Frau Klara, 55 Jahre, die sich einen Namen als Charity-Lady gemacht hat.

Der Diskobesitzer Hans Langbein, 62 Jahre, und seine Freundin Agnes Fiedler, 34 Jahre, die momentan nicht arbeitet.

Jürgen Wolters, Rechtsanwalt, 48 Jahre, und seine Frau Emma Seewald-Wolters, 51 Jahre, ebenfalls Rechtsanwältin.

Prof. Dr. Heinrich Zirschke, Theaterwissenschaftler, 60 Jahre, und seine Frau Annette Hahn-Zirschke, 48 Jahre, Inhaberin eines Yoga-Studios.

Simone Capella, Filmregisseurin, 55 Jahre, alleinlebend.

Ulli Holdt, Fußballmanager, 44 Jahre, und seine Frau Dr. Agnes Pauli, 44 Jahre, Urologin.

Noch hatte sie mit niemandem gesprochen, aber ihre Fantasie formte bereits ein konkretes Menschenbild. In dem Haus lebten narzisstische Menschen mit viel Geld, die nicht kapierten, wie das wahre Leben funktioniert. Natürlich wusste sie, dass es Vorurteile waren. Sie hatte in diesem Moment aber keine Lust, ihre Gedanken zu differenzieren. In ihrem Haus lebten Handwerker, Lehrer (auch ihr Freund war Lehrer), eine Richterin für Arbeitsrecht und irgendein Therapeut, keiner wusste so genau wofür, jedenfalls roch es aus seiner Wohnung häufig nach indisch Curry scharf und Meditationsräucherstäben mit holzigem Duft und leicht süßlicher Note. Er war der Haus-Guru, ansonsten waren die Nachbarn recht normale Menschen; normal hatte aus ihrer Sicht ohnehin den unschätzbaren Vorteil, »dass bei uns niemand ermordet wird.« Mitunter liebte sie simple Befunde, auch wenn sie ahnte, dass sie in Wirklichkeit nur Wünsche und Mutmaßungen enthielten. Ansonsten vertraute sie ihrem »gesunden Menschenverstand« in alltäglichen Lebensfragen. Würde es kniffliger, wäre das auch kein Problem. Sie konnte schwierige Zusammenhänge schnell erfassen. Das lag sicherlich daran, dass sie schon als Kind Schach spielte und in Mathematik immer Klassenbeste war. Klar, dass nach ihrem Abitur alle gutgemeinten Ratschläge darauf hinausliefen, sie sollte doch bitte unbedingt Mathematik studieren. Sollte – doch – bitte, diesen Dreiklang aus Verzweiflung, dass sie ihr Talent wegwirft, hat sie nicht mit Trotz ignoriert, sondern mit einem eigenen Berufswunsch konterkariert. Sie ließ sich vom Werdegang einer Bekannten inspirieren, die Polizistin geworden ist.

Sie suchte Dr. Max Moritz auf. Er hatte den Ruf eines Prominenten-Zahnarztes. Viele reiche Russen ließen sich zu ihm einfliegen. Im Service inbegriffen: Shuttle-Service in einer schwarzen Limousine, Unterbringung im Fünf-Sterne-Hotel und natürlich ein Dolmetscher.

Er wohnte in der ersten Etage. Der Flur hatte weiße Wände, schwarze Fliesen und Lampen im Art déco-Stil. Vor seiner Wohnung stand eine hellgrüne Bonsaizucht in einem Terrakottagefäß, so schüchtern wie ein Balletttänzer vor seinem ersten Boxtraining.

Cosima dachte über den Namen ihres Gesprächspartners nach. Wie konnten die Eltern ihr Kind nur Max – bei dem Nachnahmen Moritz – nennen? Wie konnte aus Liebe ein Witz werden? Dachten sie etwa an die Geschichten von Wilhelm Busch über Max und Moritz? Eine Freundin von Cosima wollte ihre Tochter Amelie nennen. Den Namen fand auch sie so richtig süß, aber ein Bekannter, ein Pathologe meinte, dass in der Medizin »Amelie« bedeute, dass Arme und Beine fehlen. Damit war es um diesen Namen geschehen.

In der Wohnung von Dr. Moritz fielen ihr sofort die Vasen, Kissen und Kerzenständer in unterschiedlichen Größen und Materialien auf. Er verfolgte einen erkennbaren Stil, eben kein geschmackliches Durcheinander. Die Bilder hingen so, dass sie sich nicht gegenseitig die Schau stahlen. Er hatte Sinn für eine klare Struktur und inszenierte die Wohnung ohne jede Überanstrengung für das Auge. Das Ambiente hatte etwas Selbstverständliches, weil der Bewohner sich in dieser Wohnung nicht verlor. Was Cosima sah und verinnerlichte, war nicht ihr Geschmack, aber sie mochte es doch irgendwie. Sie hatte keine Chance, diesen Widerspruch aufzulösen. Vielleicht ging sie innerlich auch nur deshalb auf Distanz, um ihre Ikea-Möbel schönzureden.

Sie begrüßte ihren Gesprächspartner mit einem kräftigen Händedruck.

»Schön, Herr Moritz, dass Sie Zeit für mich haben«, sagte sie brav. Denn dass er sich Zeit nehmen musste, war tatsächlich ein Muss.

»Der Doktor gehört eigentlich zu meinem Namen«, entgegnete er mit einem schmalen Lächeln.

Sie ließ sich nichts anmerken.

»Herr Dr. Moritz, Sie wissen, warum ich bei Ihnen bin. Es geht um den Tod von Frau Walldorf. Es ist sehr wichtig, dass Sie alles sagen, was Sie wissen. Wenn Ihnen später etwas einfällt, rufen Sie mich einfach an, okay?«

»Ja, ja, klar«, nuschelte er hektisch. Er wirkte dabei abwesend. Bilder und Worte flogen durch seinen Kopf wie vernarrte Vögel. Nachbarin / Tod / noch so jung / so schön / wie schrecklich / hoffentlich passiert mir so etwas nicht / hoffentlich ist die Tante von der Polente bald wieder weg.

Er berührte mit seinen Mittelfingern die linke und rechte Stirn, massierte sie und ging so durch den Raum. Cosima dachte wieder an Wilhelm Busch, und Dr. Moritz regte sich noch immer nicht, als müsste er sein Leben durchdenken oder einen einzigartigen Gedanken aufspüren. Dann kam doch der Moment. Er sagte fast entschuldigend: »Frau Walldorf sah ich kaum. Der Rhythmus unseres Lebens oder unserer Arbeitszeiten war total unterschiedlich. Aber glauben Sie mir, ich hätte mich gerne um Ihre Zähne gekümmert. Sie hätte zu meinem Profil als international angesehener Zahnarzt gepasst. Aber ich glaube, sie war bei einem Kollegen in Monte Carlo. Da wohnte sie zeitweise, oder wo auch immer.«

Er schaute die Kommissarin an, oder besser gesagt, er taxierte sie von unten nach oben und von oben nach unten. Es schien, als suchte er nach Andockmöglichkeiten, um das Gespräch aufzulockern. Die Chance, die ihr roter Pulli mit V-Ausschnitt ihm bot, ließ er liegen. Wahrscheinlich fiel ihm nichts zu Rot ein. Keine roten Tulpen. Keine roten Lippen. Kein roter Wein. Wahrscheinlich wusste er auch nicht, dass die Menschen meistens dann Rot einsetzen, wenn sie sich geschwächt fühlen und ihren Energiehaushalt füllen wollen. Wahrscheinlich war also die Polizistin seelisch nicht ganz auf der Höhe, aber er konnte diese Schwäche nicht ausnutzen.

Cosima fragte ihn, ob er einmal in der Wohnung von Frau Walldorf gewesen war.

»Nein«, antwortete er sehr bestimmt.

»Nie?«, fragte sie zurück.

»Niemals!«

»Dann berichten Sie doch einmal von Ihren wenigen Begegnungen mit Frau Walldorf.«

»Ja, gerne. Ich weiß aber nicht, was Sie unter Begegnung verstehen?«, fragte er umständlich zurück, um dann doch weiterzureden. »Was ist eine Begegnung? Ein Gespräch? Ein längeres Gespräch? Also, ich hatte mit ihr nur einige zufällige Hallo-Begegnungen. Ich schätze, dass eine Begegnung maximal zwei Sekunden gedauert hat.«

»Für ein Hallo brauchen Sie zwei Sekunden? Das geht doch schneller!«

»Ich sagte ja auch: maximal zwei Sekunden.«

Cosima merkte, dass ihr die Befragung aus dem Ruder laufen könnte. Er war zu indirekt, zu versteckt, zu defensiv. Das mochte durchaus daran liegen, dass er sie nicht ernst nahm. Er strich sich mehrmals mit der Hand durch seine langen Haare. Vielleicht war er auch nur deshalb nicht gut drauf, weil er sein Haargummi für den Pferdeschwanz nicht finden konnte. Denn er schaute häufig in den Spiegel. Einige Mal ging er nah heran, als wollte er einen Mitesser auf der Nase ausdrücken.

Sie überlegte, woran Dr. Moritz sie erinnerte. Sie fühlte, dass sie es gleich wüsste. Als er seine Haare zusammenband und sein langer Hals somit in den Mittelpunkt seiner Physiognomie rückte, zumal er ein T-Shirt trug und kein Hemd, schoss ihr durch den Kopf: Er sah aus wie eine Giraffe, was natürlich Blödsinn war. Aber sie bekam den Zwang, ihn für eine Giraffe zu halten, nicht mehr aus dem Kopf. Sie empfand das als amüsant.

Sie konzentrierte sich.

»Was wissen Sie über Frau Walldorf oder anders gefragt: Was redet man über sie?«

Die Giraffe saß aufrecht auf der vordersten Kante des Stuhls, schlug das linke Bein über das rechte Bein und entfernte Flusen von der kanarienfarbigen Leinenhose.

Cosima kam sich bei diesem Gehabe fast wie ein Kerl vor. Sie saß bequem und angelehnt. Sie weigerte sich, es auf einen Wettbewerb für elegante Sitzhaltung ankommen zu lassen. Denn den würde sie haushoch verlieren. Sie schaute auf die Vitrine mit Porzellanhunden, Porzellankatzen und einem Porzellanaffen.

Sie stellte sich vor, dass ihr gleich ein Butler mit weißen Handschuhen einen Earl-Grey-Tee mit einem Tropfen Milch bringe, dazu ein Plätzchen ohne Schokoladenüberzug, weil es weniger Kalorien hatte. Oder eine Zirkustruppe mit lustigen Clowns stürmte ins Wohnzimmer und verteilte Zuckerwatte. Oder ein Masseur bot ihr eine Nackenmassage an, damit sie ihre Fragen gelassener vortrage.

»Ach wissen Sie, Frau Polizistin, Sie fragen, was ich von Frau Walldorf weiß …«

»Oberkommissarin!«

»Okay, eins zu null für Sie, das war Ihre Retourkutsche für den Doktor. Ich mag aufgeweckte Frauen, die klar reden wie aus der Pistole geschossen. Oh sorry, das mit der Pistole lassen wir mal lieber. Also Frau Oberkommissarin, ich erwähne gerne Ihren Titel, aber ich muss schon sagen, das ist eine sehr lange Dienstbezeichnung, da muss ich ja dreimal Luft holen, ehe ich das Wort ausgesprochen habe. Was ich Ihnen aber unbedingt sagen möchte: In diesem Haus wird nicht getratscht. Wir leben quasi in einer tratschfreien Zone. Ich finde das sehr bemerkenswert.«

Cosima veränderte ihren Tonfall wie eine Lehrerin gegenüber einem Schüler, der schon wieder seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Sie ging in sich, bleib locker, zieh dein Ding hier durch, lass dich nicht von der Giraffe beeindrucken.

»Ich habe nicht danach gefragt, wie Sie oder die anderen Hausbewohner ein Gespräch führen, sondern, was Sie über Frau Walldorf wissen oder was man über sie sagt.«

»Natürlich wissen wir, dass Frau Walldorf eine Berühmtheit ist, äh, war, und wenn wieder eine große Story über sie in der Zeitung stand, war das ein Gespräch wert, oder wenn da Schaulustige vor dem Haus standen. Viele wussten ja, dass sie hier wohnt.«

»Wer hat sie denn besucht, ich meine, hatte sie häufiger Besuch, haben Sie Besucher gesehen?«

»Da fragen Sie den Portier, an dem müssen alle vorbei, die Hausbewohner und die Besucher.«

»Sie haben nie Besucher oder Besucherinnen gesehen?«

»Wer zu Frau Walldorf wollte, fuhr mit dem Fahrstuhl direkt zu Ihrer Wohnung, und im Eingangsbereich habe ich nichts gesehen, zumindest nichts Auffälliges. Ich sehe den Leuten ja nicht an, zu wem sie wollen.«

Sie schaute auf ein übergroßes Gebiss, mit Goldblatt überzogen. Es stand in einer schwarz lackierten Kommode auf einem Glasregal. Dr. Moritz arbeitete weiterhin hartnäckig daran, unsympathisch zu wirken. Er wirkte gönnerhaft. Er pflegte seine Allüren.

Nach dem Gespräch bedankte er sich bei Cosima für die Zeit, die sie sich für ihn genommen hatte.

Sie war sprachlos.

Beim Hinausgehen sah sie erst undeutlich, dann beim Nähertreten sehr deutlich ein gerahmtes Foto von Chira Walldorf mit der Aufschrift: »Für Max.«

Sie las es laut vor: »Für Max.«

»Ist doch schön«, erwiderte Dr. Moritz mit einer ungewohnten Helligkeit in seiner Stimme, als hätte er sie in diesem Augenblick nicht im Griff.

Sie schaute ihm in die Augen. Er schaute zurück. Blick auf Blick. Wer jetzt zuerst wegschaute, hatte verloren.

»Und nun?«, fragte er ungeduldig, um Bewegung in den Augenkontakt zu bringen.

»Nun müssen Sie mir das erklären«, entgegnete sie ihm hart, fordernd, scharf, als müsste sie den Fall jetzt festmachen, festbinden, festkleben.

Er lächelte herausfordernd und prüfte den Sitz seines Pferdeschwanzes. Offenbar wollte er in diesem Moment seinen Spielraum zwischen Verlegenheit und Überlegenheit ausloten. Vielleicht ärgerte er sich auch nur darüber, dass er das Foto vor dem Besuch der Polizei nicht weggelegt hatte.

Er lächelte erneut. Allmählich ging ihr dieser Max Moritz mit seinem Lächeln auf die Nerven.

Er reckte seinen langen Hals nach vorne: »Ach, entschuldigen Sie, ich bin wohl etwas begriffsstutzig. Das Foto gehört nicht mir, sondern meinem Freund. Der heißt auch Max.«

Er machte eine kurze Pause, weil er dachte, die Oberkommissarin würde direkt etwas sagen oder fragen wollen, weil das aber nicht der Fall war, setzte er seinen Satz fort.

»Oh, Sie dachten wohl, das wäre mein Foto, und ich hätte die Chira Walldorf eben doch persönlich gekannt. Gefährlich, gefährlich, so schnell kann man zum Beschuldigten werden, aber ich rede zu viel, sorry.«

Cosima schaute in ihren Notizblock. Das tat sie immer, um Abstand zu gewinnen oder Abstand zu demonstrieren. In diesem Fall bedeutete Abstand, auf sein Geplänkel nicht einzugehen und ihn das auch spüren zu lassen. Als würde sie ihre Frage vom Notizblock ablesen, fragte sie ihn mit einer Geste der Beiläufigkeit, wo denn sein Freund überhaupt wohne.

»Der Max wohnt nur am Wochenende hier. Während der Woche ist er auf seinem Bauernhof im Münsterland. Den hat er vor zwei Jahren gekauft, komplett umgebaut. Na ja, dort ist er von montags bis freitags, um Lieder zu komponieren, zu lesen und zu verstehen, wie Muse funktioniert, und am Wochenende will er Großstadt erleben. Aber sein erster Wohnsitz ist diese Wohnung, das können Sie beim Einwohnermeldeamt ganz schnell klären.«

»Das mache ich doch glatt«, bemerkte Cosima trotzig und wollte von Dr. Moritz wissen, weshalb Frau Walldorf seinem Freund das Foto mit Widmung geschenkt hatte.

Er zog zunächst seine Lippen übereinander, als wollte er auf diese Weise sein Lippenbalsam gleichmäßig verteilen. »Tja, gute Frage. Soweit ich weiß, hat er das Foto nicht direkt von ihr, sondern von ihrem Fotografen. Die kennen sich, und da hat mein Freund ihm wohl gesagt, komm, besorg mir von der Chira ein Autogramm, und der Fotograf hat noch für Max draufschreiben lassen. Das ist doch nett, oder?«

Auf dem Flur stöhnte sie die Luft, die sie in die Backen aufgesogen hatte, in einem Zug heraus, um ihre Erleichterung zu spüren, dass das Gespräch mit Dr. Moritz vorbei war. Sie schaute zur Decke, flehte den Satz in sich hinein: Bitte lieber Gott, lass mich heute Abend nicht von Giraffen träumen.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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9783839267325
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