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Frank Wilmes

Ein letzter Frühling am Rhein

Kriminalroman


Zum Buch

Seelentod Kilian Stockberger, Leiter der Mordkommission Düsseldorf, und sein Team, ermitteln im Fall eines getöteten Models. Das populäre Werbegesicht lebte in einem Luxusdomizil am Rhein. Intensive Gespräche mit Nachbarn, Freunden und Personen aus ihrem beruflichen Umfeld zeigen den Beamten das Psychogramm eines Menschen auf, der zwischen Melancholie und Promi-Partys schwebte. Wem vertraute die Tote? Und wie gingen ihre Vertrauten damit um? Die Modewelt – eine verworrene Gesellschaft aus Wahn und Selbsterhöhung, aus frivolem Bürgertum und Boheme. Kommissar Stockberger ermittelt in einem mondänen Umfeld. Dabei schaut er in den Abgrund einer zerstörten Seele und gerät einem unglaublichen Mysterium auf der Spur. Doch erst der Hinweis eines Zeugen weist ihm den richtigen Weg und führt zu einem dramatischen Finale – an einem erstaunlichen Ort.

Frank Wilmes stammt aus dem Münsterland, dem Land der Bauernhöfe und Springreiter, der Schwarzbrote und Schinken, an der Kante zu Niedersachen und Holland. Seit mehr als 30 Jahren lebt er in Düsseldorf – eine Kunst- und Modestadt mit internationalem Flair, die sich selbst aber nicht so wichtig nimmt. Er hat als Regierungskorrespondent und als Wirtschaftsjournalist Staatschefs und Wirtschaftsführer kennengelernt, über sie Reportagen geschrieben und mit ihnen Interviews geführt. Privat beschäftigt er sich seit vielen Jahren mit den Launen des Zeitgeistes und mit der Geschichte der Klöster. Daraus entstand die Idee für seinen Krimi „Ein letzter Frühling am Rhein“.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © cydonna / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6732-5

Zitat

»So geht es all denen, die aus dem einsamen und beschaulichen Leben heraustreten und in Städten unter Menschen leben wollen, die von grenzenlosem Bösen erfüllt sind.«

Leonardo da Vinci

1.

Das Gewölbe der Kirche umschloss sie wie ein finsteres Zelt, und sie hatte den Eindruck, dass es nach Mittelalter roch, nach Hexen und Scheiterhaufen.

Sie zog ihre Lippen dunkelrot nach, prüfte die Kontur in ihrem Spiegel und holte aus ihrer Imitat-Gucci-Tasche ein Papiertaschentuch, das sie in ihren Handballen drückte. Später säuberte sie mit einem feuchten Tuch für Baby-Popos ihre von Pfützen verschmierten Sneakers aus glattem Leder und schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, weil sie glaubte, der Teufel könnte ihr in den Nacken springen.

Die Kerzen vor dem Bild einer erstaunlich faltenfreien Mutter Gottes vollzogen ungerührt ihren Dienst. Sie leuchteten zart für reichlich Mystik: Licht bedeutet Leben. Was hell erscheint, kann nicht böse sein. Nur in der Düsternis versteckt sich das Böse.

Sie kniete.

Sie faltete die Hände.

Sie hatte Angst, in den Beichtstuhl zu gehen.

Der Gedankenstrom kollabierte. Alles Denken, Träumen, Ahnen, Staunen und Verzweifeln gingen über- und durcheinander.

»Ich kann nicht mehr.«

Sie atmete tief, aber hektisch, dann stöhnte sie mit leiser Stimme.

»Mein Gott, wer bin ich?

Mein Gott, was erwartest du von mir?

Mein Gott, habe Erbarmen mit mir.«

Der Beichtstuhl war frei.

Der Pfarrer war bereit.

Sie kniete noch immer.

Die aschgrauen Wolken hingen tief im Himmel und zogen wie eine müde Elefantenherde weiter. Für einen Moment fand die Sonne eine Lücke. Sie erhellte die farbigen Kirchenfenster und rückte deren Figuren und Motive bedeutungsvoll in den Vordergrund.

Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat.

Jesus, der für uns gegeißelt worden ist.

Jesus, der für uns gekreuzigt wurde.

Der Organist übte für den nächsten Sonntagsgottesdienst. Die Pfeifen der Orgel trugen die Töne bis auf den Burgplatz, feierlich heiter und herausfordernd klar. Eine Musik, die nicht unterhalten wollte, sondern für einen höheren Sinn erdacht war. Zum Ruhme des Herrn.

Sie summte den Tönen hinterher.

Großer Gott, wir preisen dich.

Wir huldigen deine Güte.

Holst uns aus Sünde und Verdammnis.

In alle Ewigkeit.

Eine frierende Einsamkeit durchzog ihren Geist, der Trost hatte ausgespielt, die Hoffnung war nicht mehr zu hören. Das Leben versank ins Innere, tief und tiefer, als würde sie in einen Brunnen fallen und den Wind des Fallens spüren.

»Finde ich dort mein Glück?«

2.

Die zarte Frühlingssonne lugte über die Häusergipfel, als sie vor der mit Alu verkleideten Eingangstür standen. Keine Seiten- oder Blickfenster. Keine Klinke. Keine Briefkästen. Keine Namensschilder von den Bewohnern. Nur eine Klingel, die in einen Messingrahmen neben dem Eingang eingelassen war. Eine herzliche Anmutung mit einladendem Charakter sollte dieser Eingang auf gar keinen Fall vermitteln. Könnte diese Tür sprechen, sie würde sagen: Kommt mir nicht zu nahe.

Das Gebäude mit seinen schmalen und hohen Fenstern im massiven Mauerwerk grober, vierkantiger Steine war mindestens 200 Jahre alt. Ein paar Schritte um die Ecke verlief im Mittelalter die schützende Stadtmauer von Düsseldorf. Von außen betrachtet nur ein schlichter Bau ohne jeden kreativen Blitz. Kein Erker. Kein Türmchen. Kein Platz für das Vergeuden von Quadratmetern. Funktional ehrlich. Über dem Eingang waren mit scharfem Blick noch die verwitterten Buchstaben aus Stein in geschlungener Schrift erkennbar:

Ich war fremd und

ihr habt mich aufgenommen.

Nach dem Klingeln hörten sie ein leises Summen. Die Tür öffnete sich automatisch, aber ganz langsam, sodass ein hastiges Hineingehen nicht möglich war. Das muss sich eine Yogalehrerin in Trance ausgedacht haben, dachte sich Hauptkommissar Kilian Stockberger. Tief einatmen und entspannen. Langsam, langsam …

Ein gesichtsmäßig älterer Mann im dunkelblauen Anzug und dunkelblauer Krawatte stand hinter einem hölzernen Podest, als wollte er eine Rede halten. Er ging nur wenige Schritte auf die Besucher zu. Der Kommissar musste seinerseits mehrere Schritte auf ihn zugehen, um ein Gespräch in normaler Lautstärke führen zu können. Jetzt betrug die Distanz nur noch 1,50 Meter. Ein Begrüßungshandschlag war unter diesen Umständen nicht vorgesehen.

Der blaue Anzugträger öffnete leicht den Mund, als würde gleich ein Vogel mit einem Würmchen heranfliegen, um ihn zu sättigen. Dabei ließ er seinen aufgestauten Atem langsam durch die behaarten Nasenlöcher fließen. Immerhin versuchte er ein Lächeln. Ein Lachdolmetscher würde seine Mimik allerdings so übersetzen: Was willst du denn hier? Staubsauger verkaufen? Spenden sammeln? Ich habe keine Lust auf dich.

Er stellte sich als Portier vor, ohne seinen Namen zu nennen. Er sprach leise, um damit zu betonen, dass dieser Ort kein Allerlei vertrage. Wer hier lebt, hat Respekt verdient. Es fielen Worte wie Leistungsträger und Prominenz. Die brauchten Ruhe und Schutz vor falscher Aufmerksamkeit. Eine laute oder gar hektische Stimme würde seiner Aufgabe in keiner Weise gerecht. Er war sozusagen ein Aufpasser, ein Schutzbefohlener, ein Ordnungshüter für die wichtigen Menschen in diesem Haus. Ob der leise Mann auch laut fluchen konnte? Seine Stimme war wie eine Höhle, die die Welt nicht gesehen hatte. Sie verkroch sich ängstlich vor dem Leben. Er sprach im Rhythmus eines Ruhepulses mit ermüdender Geschwindigkeit.

Der Blick führte an ihm vorbei in den Besucherraum, der früher eine kleine Kapelle mit drei Fenstern aus Spitzbögen war. Statt farbiger mosaikartiger Muster enthielten sie nur milchiges Glas. Hier beteten die Nonnen noch vor ein paar Jahren sieben Mal am Tag. Stets begann der Morgen mit den gleichen Worten:

Herr, öffne meine Lippen.

Damit mein Mund dein Lob verkünde.

Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen. Halleluja.

Die Nonnen hatten ihr Kloster verlassen, weil sie es nicht mehr finanzieren konnten. Die meisten Räume standen leer. Der Nachwuchs fehlte. Die letzte Novizin war vor zwölf Jahren ins Kloster eingetreten. Das Durchschnittsalter der Schwestern lag bei 69 Jahren. Die Nachfrage nach Rollatoren überstieg zuletzt die Anzahl an Gebetbüchern. So verabschiedete sich das Haus von den Nonnen, von ihren Gebeten und ihrer Andacht. Die klösterliche Spiritualität aber wollte selbst nach vielen Jahren nicht aus den Mauern weichen. Sie kämpfte gegen den Einfall der Architekten und Raumausstatter, die aus dem Kloster ein Luxusdomizil gemacht hatten. Edel, teuer und mit Blick auf den Rhein. Kontemplation auf das neue Sein. Wer hier lebte, hatte es geschafft. Ein scharfer Kontrast zum Armutsgelübde der Nonnen.

Chira Walldorf, 28 Jahre alt, ein international beachtetes Model, lebte hier auf zwei Etagen, aber sie war selten zu Hause. Ihr Terminkalender las sich wie ein internationaler Flugplan. London. Rom. New York. Berlin. London. Paris. London. New York. Berlin. Mailand. Sie war das Gesicht von Haute-Couture-Modenschauen und bekannter Marken. Sie machte Werbung für eine französische Automarke und eine Hautcrème mit dem Namen »Vole«, die mit ihrer rosa geschwungenen Schrift verwöhnende Zärtlichkeit versprach – für Frauen, die sich mögen. Dazu der Slogan:

WEIL DU ES BIST.

Schon bald kalauerte der Spruch durch die Straßen und löste Albernheiten aus. Pubertierende Mädchen äfften ihren Lehrer nach: Du bekommst keine fünf, weil du es bist. Und man konnte kaum noch in eine Kneipe gehen, ohne den Spruch zu hören: Das Bier geht auf meinen Deckel, weil du es bist. Ein Psychologe hatte sogar ein Buch über die Alltagswirkung von Werbesprüchen geschrieben. Das Buch hieß: »Weil du etwas willst!« Erstes Kapitel: »Belohne dich!«

Chira Walldorf genoss schicke Partys, sehen und gesehen werden: dort, wo schön und reich aufeinandertrafen. Wer in diesem Olymp der gesellschaftlichen Avantgarde aufgestiegen war, musste all die B-Promis und Sternchen auf Distanz halten, weil sie nicht gut waren für das eigene Image. Glamour ist nicht zum Discountpreis zu haben. Glamour umfasst Ausstrahlung, Stil, Begehrtheit. Das ist nur mit A-Level zu schaffen.

Der Portier – Hausmeister sagte hier keiner – traute seinen Segelohren nicht.

»Wir sind von der Kriminalpolizei, mein Name ist Kriminalhauptkommissar Stockberger. Und das ist Oberkommissarin Winkler und Kommissar Reichenhall.«

Er möge bitte die Wohnungstür von Frau Walldorf öffnen. Er schaute kribbelig auf die Polizeimarke, versuchte cool zu sein und stellte eine typische Frage aus einem Fernsehkrimi.

»Darf ich fragen, worum es geht?« Er kicherte dabei ein wenig, selbst überrascht von seiner offensiven Frage, die allerdings ohne Antwort blieb.

»Bitte, lassen Sie mich vorangehen«, sagte er eifrig und dienerisch mit nervösem Augenzucken. Dabei grinste er. Er war jetzt der Mann, der der Polizei eine Wohnung aufschloss. Kein Träumer, ein Macher. Mit voller Entschlossenheit. »Bitte hier entlang.«

Der Fahrstuhl hielt nicht auf dem Flur, sondern öffnete sich direkt zur Wohnung. Die ersten Blicke fielen auf vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotos von Chira Walldorf in der französischen »Vogue« und in der deutschen »Madame«. Gegenüber der Garderobe hing ein körpergroßes Foto von ihr. Sie trug ein langes weißes Kleid ohne Schmuck. Lässig hielt sie in der rechten Hand, nach unten sinkend, ein Sektglas, offenbar ein Urlaubsfoto.

Schauspieler stellen ihren »Bambi« für die beste Hauptrolle oder als bester Nebendarsteller in eine Vitrine. So machen das auch Sportler mit ihren Medaillen von Olympiaden, Europa- und Weltmeisterschaften. Diese Zurschaustellung adelt Leistung und Stolz und holt den gestrigen Ruhm in die Gegenwart. Models zeigen ihr Kapital: das Gesicht. Es muss wirken, und die Wirkung ist das Nonplusultra einer Branche, die den Schein des Lebens über alle Unebenheiten hinweg perfektioniert. Perfekt ist das, was du siehst. Was du nicht siehst, geht dich nichts an.

Ihre fast dreieinhalb Meter lange Couch wirkte wie eine Bühne, die großes Theater erlebt hatte. Lust und Hingabe, Gelassenheit und Protest, Reden und Schweigen. Die Inszenierungen des Lebens brauchten diese Couch, um sich fallen zu lassen und das Leben zu spüren, allein, zu zweit, zu dritt, zu viert oder noch mehr, alles egal. Wichtig war allein: Wer hier war, musste dem Leben nicht mehr hinterherlaufen.

Rechts von der Couch befand sich eine Bar mit 20, 30 Gläsern. In Flötenform, kegel- und ballonförmig, schmal, zylindrisch und mit langem Stil – für Champagner, Weiß- und Rotwein, Whisky, Obstler und Cognac. Aber keine Biergläser. Bier ist das Volk, Champagner das Königreich.

Nur 500 Meter von der Wohnung thronten die bekannten und traditionswürdigen Altbier-Hausbrauereien, darum windeten sich kleine und große Lokale mit deutscher, italienischer, spanischer und türkischer Küche. Täglich gingen mehrere Tonnen Lebensmittel über die Tresen. Von der Schweinshaxe über Pizza bis zum Döner. Essen ging immer. Was den Leib füllte, fütterte auch die Seele. Feinschmecker wären hier allerdings so fehl am Platze wie eine Dessous-Show im Vatikan.

Frauen und Männer, Jung und Alt, Heimische und Touristen zogen durch die Gassen der Ablenkung und der Inspiration, des Träumens und Vergessens. Liebeshungrige, Neugierige, Verwegene. Aus den Lokalen dröhnte der Bass irgendeiner hektischen Musik. Die Menschen schrien sich an, um verstanden zu werden. Ein paar Meter weiter aber regierte schon wieder die Gemütlichkeit. Helene Fischer sang aus einer Box: Du fängst mich und lässt mich fliegen.

Manchmal wehte der Wind die Stimmen und die dumpfen Schläge der Musik hinüber zu ihrer Wohnung. Die Treppe in ihrer Maisonettewohnung führte zu einem ovalen Raum, den die Nonnen für ihre Exerzitien genutzt hatten.

Geistige Übungen, um Gott näher zu kommen.

Betrachten.

Besinnen.

Horchen.

Sie saßen auf Yoga-Hockern in der Runde. Ein Gong ertönte, und Weihrauch zog wie ein grauer Schleier zur Decke und verbreitete seinen balsamartigen Duft.

Auf die Atmung achten.

Ein und aus, tief und satt.

Deine Stirn ist glatt.

Du bist entspannt.

Erfasse deinen Geist.

Spüre deinen Glauben.

Öffne dich.

Rosenkränze hingen sanft zwischen den Fingern, als bräuchten die 59 Perlen der Gebetskette mütterliche Fürsorge.

Andacht und Hingabe verbündeten sich zur Askese. Sprechende, schweigende, singende Gebete – dann wieder eine Stille, die ein Stadtmensch nicht einmal erahnen könnte. Eine Stille, die keine nervöse Ruhe entfachte, weil sich nichts tut, sondern eine heilende Unruhe, weil sie neue Gedanken freisetzte, um das Leben für Gott weiter zu entwickeln.

Stille.

Lass dich fallen.

Und auffangen.

Der Sinn dieses Raumes hat sich in eine spröde Weltlichkeit verwandelt. Puristischer Schick statt Kerzen und Kreuze. Nichts lag dort herum. Eine Ordnung, die fast schon anstrengend wirkte, weil sie für das Auge nichts hergab. Vielleicht hatte diese aufgeräumte Sturheit auch nur den einen Sinn, ihr aufreibendes und üppiges Leben mit Kargheit und Klarheit einzufangen. Oder es war alles ganz anders. Die Putzfrau fühlte sich wie ein strenger Sheriff für Sauberkeit und Ordnung.

Verhaftet: Die Blumenvase ohne Blumen.

Verhaftet: Das Kleid auf dem Stuhl.

Verhaftet: Einige Bücher auf dem Parkettboden.

Ein Buch hatte sie vergessen: »Jahrmarkt der Eitelkeiten«.

Wer eitel ist, sollte seine Eitelkeit verstehen – das feine Gerippe aus Dominanz und Anmaßung, aus Selbstachtung und Lebenslust. Eine Eitelkeit ohne Sendungsbewusstsein ist nutzlos. Sie braucht eine Botschaft, die anmacht, provoziert und lenkt. Eine Nonne darf nicht eitel sein. Das Gebet kennt keine Eitelkeit. Demut als Lebensaufgabe. Gott dienen und preisen. Nur darum geht es im Kloster. Ein Model muss eitel sein, um all den Sehnsüchten ein Bildnis zu geben. Ein Bild sagt mehr als Tausend Worte. Ein Blick reicht, um die Sprache des Gesichtes zu verstehen. Triumph, Trauer, Offenheit, Stolz, Leidenschaft, Herz oder Herzlosigkeit, Liebe oder Abwehr. Mit dem Gesicht fängt alles an.

Die Dekokissen auf der schmalen Couch an der Schlafzimmerwand hatten augenscheinlich alle den gleichen Abstand und in der Mitte einen Knick. In dieser adretten Spießigkeit konterkarierten sie den Lebensstil der Bewohnerin, die Weltbürgerin und Zigarillo-Raucherin, die Entfesselte und Mutige, die Spielerin zwischen Hochmut und Gleichmut, zwischen Arroganz und Bescheidenheit.

Aber es sind ihre Kissen.

Die Seite mit ihrem Tagebucheintrag von gestern war noch aufgeschlagen.

»Die Leute verstehen nicht, dass ich doch nur Ich bin, sie glauben, dass ich Wir bin, für alle da, immer nett und offen, aber ich gehöre nur Gott, auch wenn es mir keiner glaubt.«

Vor den Fenstern ihres Schlafzimmers hingen weiche, fast durchsichtige weiße Vorhänge – zugezogen. Die Sonne offenbarte die feinen Strukturen des Stoffes. Auf der Wand tänzelten einzelne Punkte, Striche, Figuren. Schattenspiele im aufhellenden Hintergrund.

Eine heitere Frische durchzog die Frühlingsluft. Draußen schallte das Gelächter einer Jugendgruppe ins obere Stockwerk. Es waren Tage, die zur Verwegenheit herausforderten und sich triumphierend über das Notwendige und Angemessene hinwegsetzten. Das Leben erschien in seinen schönsten Farben, als hätte es nie ein Grau gegeben.

Chira Walldorf lag auf dem Bett.

Ihre langen Haare fielen nach links und rechts, als müssten sie nach dem Gerechtigkeitsprinzip jede Gesichtshälfte gleichmäßig berücksichtigen.

Auf ihrem leblosen Körper lag eine Karte.

ICH HABE MIR DEINE SCHÖNHEIT GELIEHEN.

DU LEBST WEITER.

IN EINER ANDEREN WELT.

DU MUSST DAS VERSTEHEN.

ICH WEISS, DASS DU JETZT GLÜCKLICH BIST.

DAS IST MEIN TROST.

3.

Auf dem Flur der Mordkommission roch es nach Bohnerwachs. Man hörte das leise Zischen der Röhrenleuchten an der Decke, einige flackerten nur kurz auf. Vor jeder Tür standen vier graue Plastikstühle, darauf Menschen mit abweisenden, gleichgültigen, nervösen oder verweinten Augen. Die Tristesse des Abgrunds – die Schuld – verortete sich genau hier. Was einmal war, Glück, Aufbruch, Leben, verkehrte sich nun in eine bohrende und bedrückende Finsternis. Mord ist schwarz, dunkel, schrecklich. Die Moral hat versagt.

Wer auf diesem Flur Zeuge oder Beschuldigter war, verriet kein Gesicht. Das Böse ist weder schön noch hässlich, die Spuren liegen allein im Motiv. »Jeder Engel kann zum Teufel werden.« Davon war Kilian Stockberger, der seit zwei Jahren als Kriminalhauptkommissar das Dezernat für Tötungsdelikte leitete, restlos überzeugt. »Das kann ganz schnell gehen. Wenn aus Liebe Hass wird, brennen schon mal die Sicherungen durch.« Für ihn war die Vernehmung eines Beschuldigten »großes Theater«. Dramaturgie, Gefühle, Ergriffenheit, Ausdruck, all das entwickelte sich bis zum Finale – bis zur Aufklärung eines Falles. Darin mischten sich Erfahrung und Routine, aber auch Anspannung und Neugierde. Fest stand allein, dass zwei Menschen aufeinandertrafen, von dem keiner etwas von dem anderen wusste, wie er dachte und sich fühlte, welchen Charakter er verbergen oder zeigen würde. Der erste Akt der Vernehmung: Kilian und der mutmaßliche Täter nahmen sich gegenseitig wahr, sie glucksten, steuerten und bremsten, der Kampf um die Deutungshoheit von Worten und Gesten begann. Welche Rolle nahm Kilian ein, welche der Beschuldigte? War der Vernehmer in der Lage, Emotionen und Geduld zielgenau einzusetzen? Er wusste, dass er sich mit einer »blöden Frage« oder einer Unbeherrschtheit die ganze Vernehmung kaputt machen konnte. Wenn der Beschuldigte bockig war und dichtmachte, war das Spiel erst einmal aus. Der zweite Akt der Vernehmung: Kilian kreiste den mutmaßlichen Täter vorsichtig ein, ließ ihm aber Luft zum Nachdenken. Er stellte analytische, bohrende, feinsinnige, geschickte, raffinierte, spitzfindige Fragen, aber nie Fragen, die den Beschuldigten bloßstellten. Die Kunst bestand für ihn darin, so zu fragen, dass der Beschuldigte sich mehr und mehr öffnete und schließlich alles erzählte. Selbst ausgebuffte Profi-Lügner hatte Kilian mit seiner beharrlich freundlichen Fragerei aus der Reserve gelockt. Außerdem achtete er penibel darauf, Ruhe mit Worten und Gesten auszustrahlen. Denn wer ruhig ist, vermittelt Vertrauen, als spreche der Vater zu seinem Sohn oder der Arzt zu seinem Patienten. Der dritte Akt: Das bedrückende Geheimnis des Beschuldigten fand seinen Weg über Selbstmitleid und Verzweiflung, Hingabe und Offenheit. Dann fiel der Satz, der sich wie erfrischendes Gewitter über den schwülen Tag legte: »Ich war es.« Dafür verteilte Kilian Streicheleinheiten. »Es ist gut, dass Sie sich freigemacht haben, jetzt atmen Sie erst einmal kräftig durch. Wie wäre es mit einem Kaffee oder einer Zigarette?« Er hatte das Geständnis, aber das reichte ihm nicht. Er wollte den Hintergrund des Abgrunds wissen, warum, wieso, allein, wo und wie? Erst wenn er alles wusste, war er seiner Rolle als Vernehmer gerecht geworden.

Finale.

Der Vorhang fällt, Applaus.

Das Licht geht aus,

die Masken sind gefallen,

leer die Bühne,

und all die Müdigkeit wabert durch die Luft.

Ein anonymer Hinweis brachte ihn und seine Kollegen zum Opfer. Irgendjemand hatte einen Brief in den Briefkasten der Polizei geworfen:

BITTE KÜMMERN SIE SICH

UM CHIRA WALLDORF.

SIE HAT ES VERDIENT.

Zuerst dachte Kilian, einen Notarzt dorthin zu schicken oder einen psychologischen Dienst. Denn da war ein Mensch in Sorge um einen anderen Menschen. Er fragte sich, was das mit ihm zu tun hatte? »Wir sind für tote Menschen zuständig, die irgendein Mistkerl getötet hat.« Es war ohnehin ein Zufall, dass der Brief auf seinem Schreibtisch landete, weil ihn die Poststelle falsch einsortiert hatte. Er schaute auf den Brief wie auf die Anzeige eines Sportwagens, den er gerne hätte und den er sich niemals leisten könnte. Er ahnte, dass diese »komische Sache«, wie er den schriftlichen Notruf beschrieb, nicht in die Schablone seiner Erfahrungen und seines durchtrainierten Misstrauens passte.

Wenn Kilian in sich gekehrt nachdachte, träumte er mit offenen Augen. Seine Frau Charlotte kannte das. Er schaute sie an, ohne sie bewusst wahrzunehmen. So ähnlich erging es jetzt seinem Kollegen Miko Reichenhall, der ihm aus drei Metern Entfernung zurief, dass Chira Walldorf doch diese Modetante sei. Keine Reaktion. Er kam näher und klopfte auf Kilians Schreibtisch. »Hallo, Chef, Chira Walldorf ist eine Weltberühmtheit.«

Während die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Overalls aus Vliesstoff mögliche Beweise sicherten, kniete sich der Gerichtsmediziner Albert Justus über die Leiche. »Oh, noch verdammt jung«, staunte er spontan.

»Um es genau zu sagen: 28 Jahre«, bemerkte Kilians Kollegin Cosima Winkler und schaute sich den Personalausweis genauer an.

»Schade für so ein junges Leben«, nuschelte der Mediziner und fragte, wer sie denn sei.

Die Kommissarin wunderte sich über die Frage. »Ist doch egal, wer das ist. Das hat doch mit deiner Arbeit nichts zu tun.«

»Mein Gott, bist du heute wieder empfindlich«, raunzte er zurück.

»Das ist Chira Walldorf, das Model«, mischte sich Kilian ein.

»Oh, dann kann ich mir ja die Aufzeichnung der Körpermaße sparen«, lächelte Albert provokativ in die Runde.

»Wie, was?« Cosima schaute ihn frech an.

Er schaute fröhlich zurück. »Also, wenn ich das recht überblicke, schätze ich ihre Maße auf 87-66-92.«

»Arschloch!« Sie verließ den Raum. Kilian blieb.

»Also, jetzt zur Sache, Albert, du kennst doch die Fragen aller Fragen?«

»Logisch, wann und wie.«

Kilian sah ihn ungeduldig an.

Albert war die Ruhe selbst. Er summte leise, als würde er über etwas brüten, über einen Hinweis oder einen Verdacht, aber er meinte nur: »Ich sehe keine Gewaltspuren.«

»Du siehst gar nichts?«, fragte Kilian ungläubig, schaute dabei zur Decke, als würde er dort seinen Glauben wiederfinden.

»Kilian, alter Kumpel, lass den Stress raus.«

»Oh«, intonierte er dann bedeutungsvoll, um eine Entdeckung anzukündigen.

Kilian drehte sich sofort zu ihm um. »Ja?«

»Wenn ich mir die Pupillen anschaue, den Schaum an und auf den Lippen und dann den Geruch bewerte, na ja, es könnte sich um Gift handeln.« Als Kilian spontan nichts sagte, ergänzte er: »Hast du verstanden: könnte!«

»Wie kam das Gift in den Körper? Durch Selbsttötung?«, fragte Kilian pflichtbewusst.

Er wusste zwar, dass der Brief, der auf der Leiche lag, ebenso wie der, der in den Briefkasten der Polizei geworfen worden war, nicht zu einem Selbstmord passte. Trotzdem wollte er nichts ausschließen. Er ließ nach Anhaltspunkten für einen Suizid suchen. Abschiedsbrief, angebrochene Medikamentenschachteln, Gläschen und Fläschchen mit giftigen Rückständen.

Später müsste er noch in ihrem Leben herumwühlen. Einsamkeit? Liebeskummer? Trauer? Depressionen? Alkohol- und Drogenprobleme?

Albert suchte auf den Venen mit einer Lupe nach Einstichspuren. Selbst wenn er welche gefunden hätte, müsste er gleichwohl die Obduktion abwarten, um verlässliche Informationen zu bekommen.

»Nee, das wird hier nichts mehr.« Er packte seine Utensilien in sein Alu-Köfferchen und versprach: »Morgen mache ich euch glücklich und sage, wann und woran sie starb.«

Nachdenklich offenbarte er beim Hinausgehen: »Wenn es sich tatsächlich um einen Giftmord handeln sollte, wäre das für mich eine Premiere. In meinen 26 Berufsjahren habe ich so etwas noch nicht erlebt, auch bundesweit kommt es eigentlich kaum vor.«

Kilian schaute aus dem Fenster. Er sah eine Gruppe älterer Menschen vor einem der Ausflugsschiffe auf dem Rhein. Ein paar Jugendliche stellten Plastikhütchen in Rot, Blau, Gelb, Grün und Lila hintereinander auf, um sie dann mit ihren Skateboards zu umrunden. Der Freitag hatte seinen Nachmittag erst zur Hälfte absolviert. Aber schon jetzt füllten sich die Terrassen der Restaurants. Die fahrenden Eisverkäufer in ihren VW-Bullis mussten aufpassen, dass sie sich nicht gegenseitig die Kunden wegnahmen. Obwohl die Sonne immer mal wieder hinter einer Wolke verschwand und sie schwächelte wie ein ausgepumpter Bodybuilder, saßen auf den meisten Nasen Sonnenbrillen, als müssten sich die Menschen ihrer lieblichen Jahreszeit vergewissern, die nicht nur Wärme bringt, sondern auch die Natur zum Leben erweckt.

Ihm gefiel dieser Anblick, weil der Mensch nicht für Matsch und Kälte geboren wurde. Er selbst brauchte den Aufbruch einer Jahreszeit, die ihn aus der Tristesse befreite.

Er dachte darüber nach, wie schön es doch wäre, wenn Charlotte ihn nach der Arbeit mit einem Aperol Spritz begrüßen würde, um auf den Frühling anzustoßen. Das hatte sie allerdings noch nie getan.

Er müsste Charlotte schon anrufen, um das Getränk konkret anzufordern. Aber damit wäre der Reiz des Moments verflogen, nämlich den Frühling mit seinen zarten Anmutungen und Zufällen ohne Plan und Ordnung einzufangen.

Er hörte aus dem hinteren Zimmer: »Die Leiche kann in die Gerichtsmedizin.«

Die Nachricht vom Tod der Berühmtheit ließ nur ein paar Stunden auf sich warten – wenn überhaupt. Plötzlich riefen scharenweise Journalisten in der Pressestelle des Polizeipräsidiums an, um Details zu erfahren. Der Pressesprecher musste sich selbst schlaumachen, worum es ging.

Die Online-Ausgaben der großen Zeitungen reagierten auf den Tod mit reißerischen, spekulativen oder sachlichen Eilmeldungen:

»Heute tragen die Engel Chanel«

»Schneewittchen-Mord im Kloster«

»Drogentod am Altar?«

»Chira Walldorf ist tot«

»Warum musste Chira Walldorf sterben?«

Diese mediale Wucht, die wie nach einem Dammbruch schlammige Wassermassen ins Tal drückte, überwältige Kilian, der in seinem ganzen Leben vielleicht acht Sätze mit einem Journalisten gesprochen hatte. Bisher konnte er unbehelligt von der Öffentlichkeit seine Fälle bearbeiten. Aber jetzt wurde er zu einer Figur des öffentlichen Interesses.

»Wer ist der Kommissar, der den Model-Mörder jagt?«, titelte eine Nachrichtenagentur. Besorgt rief ihn Charlotte an, er solle einen Anzug mit weißem Hemd anziehen. Diese Notfallbekleidung für repräsentative Anlässe hing permanent in seinem Büroschrank. Aber bisher gab es keinen Notfall. Er konnte auch nicht erkennen, warum die aktuellen Ermittlungen einen Anzug mit weißem Hemd erforderlich machten.

Beziehungsweise: Er wollte Charlotte bewusst falsch verstehen. Trotz gehörte zu seinem Charakter, und er war mit seiner Art das, was Menschen manchmal als sonderbar oder kompliziert bezeichneten. Die Norm, wie ein Mensch geheimhin sein sollte, um den allgemeinen Erwartungen zu entsprechen, passte nicht in seine Welt. Das machte sich freilich auch an kleinen Dingen des Alltags fest. Er scheute die Petitesse durchaus nicht. So hasste er es zum Beispiel, eine Parfümerie zu betreten. Er sagte, er bekomme in der warmen Raumluft Kopfschmerzen von den unterschiedlichen Düften, die sich die Kundinnen auf die Haut sprühen ließen, um den Geruch zu testen. Außerdem mochte er es nicht, wenn die Verkäuferin ihm ein Parfüm-Pröbchen zum Mitnehmen anbot, weil er nicht als eitel gelten wollte. Männer mit Parfüm waren für ihn eitel. Aber Charlotte meinte, er sollte von der Verkäuferin alles annehmen und sich dafür bedanken. Sie liebe es, wenn Kunden übertrieben »Danke« sagten, das gebe ihr das Gefühl, eine Wohltäterin zu sein. Und die Wohltäterin würde ihr dann beim nächsten Einkauf sagen: »Ach, Sie haben aber einen netten Mann!« Gefolgt von dem Satz: »Warten Sie noch kurz, ich gebe Ihnen noch ein paar Pröbchen mit, die müssen Sie unbedingt ausprobieren.« So funktionierte also Frauen-Kommunikations-Konsum, dachte sich Kilian.

399
477,84 ₽
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
304 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839267325
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Правообладатель:
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