Читать книгу: «Ein letzter Frühling am Rhein», страница 3

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7.

»Chira Walldorf – war es Mord aus Liebe?«, titelte das Leute-Magazin »Glitzglotz«, als könnte man aus Liebe einen lieben Menschen umbringen. Darüber musste das Volk reden. An den Kassen der Supermärkte. An den Biertischen der Kioske. In den Schrebergärten. Wo auch immer. Die Menschen fantasierten, wie der Mörder Liebe in Tod umwandelte. Das Schlüsselloch konnte gar nicht groß genug sein, um hindurchzublinzeln in eine unheimliche Welt.

»Glitzglotz«-Chefredakteur Thomas Gardner musste sein Schlüsselloch in einer Talkshow verteidigen, an der zwei weitere Gäste aus der Mode und der Psychologie teilnahmen. Die Vertreterin der Modebranche, eine Unternehmerin für Damenoberkleidung aus Ostwestfalen-Lippe, schaute ihn angewidert an, zögerte kurz und fragte ihn dann: »Herr Gardner, besteht der Sinn Ihrer Arbeit darin, Unsinn zu schreiben?«

Herr Gardner blieb ruhig. Er wusste, dass die Kamera genau im Moment der Kritik auf ihn gerichtet war. Er zeigte sich dem Publikum erhaben, souverän und gönnerhaft, allerdings eine Spur zu lässig. Denn darin lag eine Überheblichkeit, die nicht zu seinen Lesern passte.

Die Moderatorin der Talkshow wollte von der Psychologin wissen, einer Professorin für Neuropsychologie, wie sich der unerwartete Tod einer Berühmtheit auf die Volksseele auswirke, und ehe sie antworten konnte, lästerte Gardner, dass Neuropsychologie doch etwas mit Hirnschädigung zu tun habe. Er drehte sich zum Publikum und fragte, ob wir hier alle hirngeschädigt seien? Das Publikum lachte, und die Psychologin erwiderte spröde sachlich, dass sie sich mit den zentralnervösen Grundlagen des menschlichen Erlebens und Verhaltens sowie ihren Veränderungen befasse. Die Moderatorin verzog ihre Lippen, und die Psychologin führte weiter aus, dass der unerwartete Tod einer Berühmtheit wie Lady Di oder John Lennon oder …

»Lange her«, giftete Gardner.

»Wenn also ein berühmter Mensch plötzlich stirbt, sterben Träume, denn die Menschen projizieren ihre Träume auf den Star. Er personalisiert das Schöne, Gute, Wunderbare, das sich vom Alltag abhebt, und mit seinem Tod entlässt er die Menschen plötzlich mit Wunden in ihren Alltag.«

Gardner, der zu seiner Anzugfarbe immer ein gleichfarbiges Einstecktuch trug, wartete auf seinen Auftritt. Auf seine große Nummer, um den schlau quasselnden Frauen endlich Paroli zu bieten.

Er lächelte die Moderation mitleidig an und bemerkte triumphierend: »Liebe ist nicht immer lieb, Liebe muss Hass und Wehmut aushalten, und wenn das einmal nicht möglich ist, verliert die Liebe ihren Halt, und das endet wie in diesem Fall recht tragisch.«

Die Talkmasterin fragte ihn mit wachen Augen, wie er das genau meine. Denn »Wehmut, Liebe, Tragik, das ist alles nicht neu, das hören wir fast jeden Tag von irgendjemandem von irgendwoher«.

Er lächelte noch klarer dieses »Ach Püppchen, du hast keine Ahnung« und bemühte sich um ein bedeutungsvolles Erscheinungsbild. Sprechtempo verlangsamen, Brille in die Hand nehmen und Blickkontakt suchen. Als er sich seines bedeutungsvollen Ausdrucks ganz sicher war, konnte er endlich davon sprechen, dass ihm aus dem Umfeld der Toten Informationen zugetragen worden seien.

»Zugetragen«, lästerte das Püppchen, »wer hat denn da was getragen? Muss ganz schön schwer gewesen sein.«

Gardner, noch ganz angetan von seiner Andeutung, hätte sich mit seiner Antwort gerne fünf Minuten Zeit gelassen, um die Begierde des Püppchens und der Zuschauer nach einer konkreten Antwort auszukosten und die Neugierde in Ungeduld zu verwandeln. Sag’s endlich, sag’s endlich, sag’s endlich.

Mit seiner Online-Redaktion hatte er bereits vorher ausgemacht: »Wenn ich rede, dann haut die Schlagzeile heraus.«

Er wusste genau, wie er seine Leser packen musste, mit Themen, die zornig, wütend, neidisch oder eifersüchtig machten. Als raffinierter Schleimer der Volksmeinung beherrschte er ohnehin das hinterhältige Zusammenspiel aus Vorurteilen und Intoleranz, und das Spiel ging so: Mehrheit gegen Minderheit, und die Mehrheit gewinnt immer.

Endlich sagte er dann: »Wir gehen davon aus, dass sich Chira Walldorf im lesbischen Umfeld bewegt hat und dass dort die Ursache für den Mord gefunden werden muss.«

Ehe das letzte Wort gesprochen war, hatte »Glitzglotz« schon seine vorbereitete Schlagzeile scharf gestellt:

»Mordverdacht um Lesbenaffäre.«

Die Nachrichtenagenturen und Online-Ausgaben von weiteren Tageszeitungen nahmen die Schlagzeile sofort auf und machten daraus ihre eigene Headline.

»Gerüchte um Chira Walldorf: Liebte sie Frauen?«

»Musste das Model sterben, weil sie eine neue Geliebte hatte?«

»Drama um die Liebe?«

Kilian spürte, dass seine geduldige Gelassenheit zarte Risse zeigte, wie ein Muskel nach überhartem Training. Die Zeit saß ihm im Nacken, weil die Medien Druck machten. Sie schossen mit Schlagzeilen und Schlagworten. Immer schwang der Vorwurf mit, die Polizei tue zu wenig. Sie sei nicht wendig genug und viel zu brav. Beschützt uns endlich.

Immerhin, Kilian verstand nun, wie sich ein Politiker unter medialem Dauerbeschuss fühlt oder ein Bundesligatrainer, dem nach jeder Niederlage sein baldiger Rausschmiss vorausgesagt wird.

Kilian wusste selbst: Wenn ein Fall in zwei, drei Tagen nicht gelöst wird, wird es mit jedem Tag schwerer. Aber was sollte er mit dieser Erkenntnis anfangen?

»Es kommt, wie es kommt«, sagte er so daher. Er wollte keinen tiefen Gedanken aussprechen, sondern einfach etwas sagen, das nach Gelassenheit klang.

8.

Eine Analyse der Verbindungen auf dem Laptop von Chira Walldorf ergab, dass ihr Nachbar Jürgen Wolters in den vergangenen acht Wochen drei E-Mails an sie geschrieben hat. Er diente sich darin als ihr Anwalt an, der sich gerne um rechtliche Alltagsfragen kümmern würde. Sie hatte keine dieser E-Mails beantwortet.

9.

Als Modeverkäuferin einer Kette, die sich darauf spezialisiert hatte, die Haute Couture mit billigen Stoffen nachzumachen und an junge Leute zu verkaufen, legte die junge Frau aus dem Ruhrgebiet Wert auf einen »gewissen Status«. So redete kein Mensch in ihrer Stadt, aber immerhin: Um dem Reden ein Alibi zu verleihen, fuhr sie gerne nach Düsseldorf, um mal etwas anderes zu sehen, wie sie sich ausdrückte.

Natürlich gab es anschließend immer viel zu erzählen vom Bummel auf der sündhaft teuren Königsallee, wo all die Rang-mit-Namen-Boutiquen vertreten waren, und ihr fiel auf, wie überdreht die Verkäuferinnen dort wirkten. Vielleicht waren sie auch nur stolz darauf, für eine Luxusmarke arbeiten zu dürfen, die sie sich selbst niemals leisten konnten. Vielleicht wäre eine gewisse Heiterkeit auch unpassend. Wer für einen Pullover 1.850 Euro bezahlt, erwartet vom Personal respektvolles Verhalten. Angemessene Distanz. Ruhige Stimme. Jede Unebenheit im Aufritt würde das Kaufritual erheblich stören.

Ihr kleines Badezimmer mit einem überdimensioniert großen Spiegel war ihr Sehnsuchtsort. Er war umrahmt mit 16 Glühbirnen, um das Gesicht fasergenau auszuleuchten. Wie eine Sonne aus der Steckdose verbreitete dieses Licht Wärme für ein Gefühl der Genugtuung. »Das bin ich. Ich bin die Schönheit. Die Engel werden es bezeugen.«

Von oben betrachtet wirkte ihr Badezimmer wie ein Atelier. Ordnung würde nur stören. Chaos bedeutete Leben. Ein Leben ohne Anpassung. Wild. Frei. Selbstbestimmt. Lebe dein Leben und nicht die Erwartungen anderer Menschen.

Sie lächelte in sich hinein und die Konturen ihres Gesichtes offenbarten einen Stolz, der auf den großen Applaus wartete. Was in diesem Leben wirkte, war großes Theater. Die kriechende Raupe mutierte zum begehrten Schmetterling, und seine Flügel, olivgrün mit feinem Ockergelb, ach wie schön, schlugen heiter im weichen Wind.

»Ich bin die Schönste im ganzen Land«, sang sie heiter zu ihrem Ebenbild im Spiegel.

In Augenhöhe des Spiegels stand ein roter Samtplüschhocker wie in einem Hollywood-Filmstudio, als würde sich gerade Cate Blanchett oder Julia Roberts für die nächste Szene die Lippen nachziehen. Aber hier saß nicht Hollywood, sondern das Ruhrgebiet. Auf der schmalen Ablage unter dem Spiegel und dem Beistelltischchen neben der Toilette befanden sich all die Instrumente für die Vollendung ihres Gesichtes. Puderdöschen, Rouge, Pinselset mit breiten und schmalen Bürsten aus Echthaar, sechs Lippenstifte in Kirschrot, Rosé, Beerentönen, Pink und Orange. Lipgloss, Lidschatten mit matten und schimmernden Nuancen, Augenbrauenzupfer, Abdeckcreme, Kajalstifte, Glätteeisen, Lockenmaschine, Wimperntusche, Abdeckfarben, Nagellack, Scheren, Haarbürsten wiederum in Echthaar, Anspitzer für die Kosmetikstifte, Schwämmchen, Seifen, Haargummis in verschiedenen Farben.

Sie saß mit geradem Rücken auf ihrem Samtplüschhocker und betrachtete ihr Gesicht. Sie versuchte, sich an einem großen Gedanken zu orientieren, um ihren Gefühlen eine Stoßrichtung zu geben. Daraus wurde eine Kette aus Impulsen, Fiktionen und Offenbarungen: Die Menschen mussten sie einfach mögen, dachte sie.

Sie träumte. Ein Künstler malte ihr ins Gesicht das Bild einer Versonnenen, die Liebreiz und Begierde in verlockender Ausstrahlung auslebte. Er folgte damit all den Fügungen seiner Kreativität, um seinem Schöpfungsauftrag für sie gerecht zu werden. Aufbegehren, Wille, Struktur. Dafür überwand er Grenzen, um seine Idee von einem magischen Gesicht zu einem großartigen Erlebnis werden zu lassen.

Sie lächelte unterschiedlich in den Spiegel hinein, um zu sehen, welches Lächeln anmutend klar wirkte. Lachen ist das schönste Kompliment an das Leben. Lachen ist wie ein Vulkan, der statt vernichtender Lava eine sinnliche Fröhlichkeit in die Herzen der Menschen fließen lässt. Sie variierte dafür verschiedene Gesichtsausdrücke, bis sie ihre Form mit der passenden Botschaft gefunden hatte: keck, herausfordernd mit gütiger Weiblichkeit.

Sie war getauft worden. Sie war ein Geschenk Gottes. Sie bedeckte ihr Gesicht behutsam mit ihren Händen, als wollte sie es liebkosen, weil sich ihre Haut über Nase, Ohren und Wangenknochen zu einer idealtypischen Schönheitsfassade spannte. Was die Geburt hervorbrachte und über Kindheit und Pubertät bis heute formte, verbarg sich allerdings hinter einer Maske. Wer darauf schaute, konnte nicht ahnen, was sich dahinter verbarg.

Ihre Wahrheit.

10.

»Okay, kommt mal alle zusammen!« Dabei klatschte Kilian wie ein Trainer in die Hände, als müsste er sein Team anstacheln, alles aus sich herauszuholen. Kraft, Energie und Willensstärke, um den Mörder zu finden.

»Ich brauche keine Motivation, ich bin motiviert«, bemerkte Miko trocken.

»Wer ist das nicht?«, fragte Cosima herausfordernd.

Kilian schaute ernst. »Denkt dran, wir sind die Jäger, der Mörder ist der Gejagte. Er weiß nicht, welchen Vorsprung er hat. Ein Vorsprung, der jede Minute, jede Stunde und jeden Tag weg sein kann, und dann läuft alles auf das Finale zu. Die Angst sitzt ihm im Nacken. Wenn wir wissen, wer dieser Mensch sein könnte, ist, finden wir ihn auch. Dann gibt es kein Entkommen mehr.« Dabei ballte er seine Faust.

»Bist du unter die Wikinger gegangen?«, warf Miko belustigt ein.

Kilian verkniff sich einen Kommentar.

Cosima wollte gerade etwas sagen, bevorzugte aber dann doch einen Schluck aus dem Kaffeebecher.

Kilian schaute Cosima und Miko an. »Ich komme auf den Brief zurück, der uns zum Opfer geführt hat. Eine erste fototechnische Analyse und die Kameraaufzeichnungen haben ergeben, dass ein Mädchen diesen Brief in unseren Briefkasten geworfen hat. Das heißt wiederum, der Mörder oder – ganz allgemein gesprochen – ein schuldfähiger Erwachsener war es nicht.«

»Aber das ist ja unglaublich«, ereiferte sich Cosima, »dass eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind zum Komplizen machen.«

»Moment, nicht so schnell«, grätschte Miko in die steile These seiner Kollegin. »Wir wissen viel zu wenig, um dies oder das zu behaupten.«

Cosima stöhnte den Einspruch weg.

Kurzes Schweigen.

Kilian nippte an seinem Kaffeebecher, schaute in die Runde und animierte: »Lasst doch die Fotos von diesem Mädchen einfach mal auf euch wirken. Schaut euch alles genau an, als müsstet ihr die ›Mona Lisa‹ begutachten. Wie häufig schauen wir zum Beispiel auf ein Urlaubsfoto, aber wir schauen nicht mehr richtig hin, weil Urlaubsfotos immer gleich sind. Also: Pupillen scharf stellen, Gehirn anmachen.«

Kurzes Schweigen.

Cosima ergriff das Wort. »Also, das ist ein Mädchen mit weißen Söckchen und schwarzen Lackschuhen. Es trägt einen übergroßen Mantel, der Schal ist so lang, dass sie ihn mehrmals um Hals und Mund gewickelt hat, und sie trägt eine schwarze Kappe mit der Aufschrift ›Be nice‹. Sie sitzt aber so tief im Gesicht, dass man tatsächlich rein gar nichts sieht.«

»Wenn dieses Mädchen kein Kind ist, sondern ein verkleideter Liliputaner«, fragte Miko unsicher in die Runde.

»Dagegen spreche doch die foto- und videotechnische Analyse der Körpermaße«, entgegnete Cosima eine Spur zu lehrerhaft.

»Nee«, erwiderte Miko nunmehr kraftvoll, »die fototechnische Analyse kann nicht zwischen Kind und Liliputaner entscheiden.«

Cosima runzelte die Stirn. »Doch! Schau auf das gesamte Erscheinungsbild. Es ist völlig klar, dass es sich um ein Kind und nicht um einen kleinwüchsigen Menschen handelt. Schau auf den Gang. So geht doch kein Erwachsener.«

Kilian zog die Lippen breit, knetete mit den Fingern und ließ die Schneidezähne des Oberkiefers kurz hintereinander mehrmals auf die Schneidezähne des Unterkiefers fallen.

Seine Sinne, Gefühle und Gedanken haderten mit diesen komischen Aufnahmen von diesem komischen Kind, weil das Gesamtbild absurd wirkte.

»Das Kind trägt sogar Handschuhe, im Frühling, na klar, damit es keine Fingerabdrücke gibt«, fügte Cosima hinzu.

»Tja, an alles gedacht«, ergänzte Miko und fasste seinen Eindruck zusammen. »Das Kind, wenn es denn ein Kind war, schaut ständig auf den Boden, selbst, als es den Brief in den Briefkasten wirft. Die Anweisung war wohl: Da hängen Kameras, schau nicht in die Kameras! Das Kind ertastet ziemlich umständlich die Klappe des Briefkastens. Na ja, wie ein Blinder oder so ähnlich. Dann geht das Kind langsam zurück. Sehr langsam. Ich habe noch nie so ein langsames Kind gesehen. Es musste wahrscheinlich so langsam gehen, damit die vermummende Kleidung nicht verrutscht. Es kann natürlich auch sein, dass ein hastiges Weglaufen so aussieht, als hätte man etwas zu verbergen. Ah, das Kind trägt eine rosafarbene Tasche mit der Aufschrift ›Grizzly love‹. Ich weiß von meiner Nichte, dass junge Mädchen total auf diese Tasche stehen. Der Renner sind allerdings die Grizzly-love-Sneakers mit den knallbunten Schnürsenkeln und der gummiartigen Bärenkralle, die so cool locker vom Schuh abfällt.«

Kilian schaute sich ein weiteres Mal die Video-Aufzeichnungen an.

Der Gang.

Die gekrümmte Haltung.

Der Briefeinwurf.

Der Rückzug.

Er sah nichts, was ihn weiterbrachte.

Er fragte sich, was er übersehen haben könnte. Wie müsste er den Film anschauen, um neue Gesichtspunkte zu erkennen? Er versuchte, seine Sehgewohnheiten auszublenden. »Aber wie blendet man so etwas aus?«, fragte er sich ratlos. »Ich sehe doch, was ich sehe. Mit den gleichen Augen und dem gleichen Sinn und dem gleichen Kopf. Ich schaue ja genau hin, aber bin ich in der Lage, nicht nur das zu sehen, was ich sehe, sondern auch dahinter zu schauen wie bei einem Kinofilm, um den Regisseur zu verstehen, was er sich bei den Szenen und Dialogen, der Hintergrundmusik und der Kameraeinstellung gedacht hat?«

Kilian verstaute seine Hände in den Hosentaschen und entspannte sich mit Grimassen, verformte seinen Mund zu einem Kuss, zog die Stirn nach oben und wieder nach unten und schloss für einige Sekunden die Augen.

Dann stand er wieder vor der Wand mit den Fotos. Er vertiefte sich in den Vorsatz, die Fotos nicht anzuschauen, sondern sie zu betrachten. Anschauen war für ihn wie angucken und anstarren, um sich einen Eindruck ohne tieferen Sinn zu verschaffen. Betrachten verband er dagegen mit Einkehr und Hingabe, um dem Blick Raum und Zeit zu geben. Denn nur so, meinte er, hebe sich die Distanz zwischen Bild und Betrachter auf.

Meinte er tatsächlich.

Seine Pupillen scannten das Foto. Er musste mehrmals die Augen schließen, um die Pupillen zu entlasten. Je intensiver er sich in dieses Foto verlor, desto starrer wurde seine Aufmerksamkeit. Er hatte das Gefühl, dass sich alle Farben und Konturen zu einer Masse aus Weiß verdichteten. Für einen Moment überlegte er, wie er wohl einem Künstler wiedergeben würde, was er sah.

Sollte er antworten: »Ich sehe nur weiß?«

Der Künstler wäre beleidigt, weil Kilian nicht erkannte, was in diesem Weiß vor sich ging, die feinen Strukturen, Bewegungen, ein Aufbegehren, Mühsal, Kampf.

Wer das Bild nicht lesen konnte, taugte nicht für die Kunst. Er war Durchschnitt. Aber nur die Elite erkannte das Edle. Nur sie konnte die Gedanken des Malers lesen, sie deuten und der Welt öffnen.

Kilian sah immer noch weiß. Er gehörte nicht zur Elite der Kunstkenner. Er war nur Beamter, Leiter der Mordkommission, zuständig für Pragmatismus und »Das-ist-die-Welt«. Kein Platz für Spinner und Lebenskünstler, für inspirierte Intellektuelle und hoffnungslose Esoteriker. Sein Job war die nüchterne Selbsterkenntnis, dass er zu dienen hatte.

Er wunderte sich über seine Gedanken.

»Cosima, komm doch mal«, rief er ihr aus seinem Büro zu, »du bist ja Expertin für die Jugend-Marken-Kultur oder wie ich das nennen soll. Finde bitte alles zur Mütze mit dieser Aufschrift ›Be nice‹ und die Markenbezeichnung ›Grizzly love‹ heraus. Wie teuer diese Produkte sind, in welchem Alter sie gekauft werden und in welchen sozialen Gruppen, Gruppierungen oder Milieus sie zu einem Statussymbol geworden sind. Okay?«

Cosima salutierte ihm mit ironischer Beflissenheit. »Ja, Chef.«

Er rief auch Charlotte an, ob sie von »Be nice« und »Grizzly love« gehört hätte.

»Nein.«

Und er rief Tilda an, immerhin war sie eine Journalistin aus der Modeszene.

»Nein.«

Nein ist die Fratze der Aufklärung.

Nein ist ein Stoppschild.

Nein bedeutet: Such dir dein »Ja!« woanders.

»Mein Gott, ein Scheißfall, wenn es schon an solchen Kinkerlitzchen scheitert.« Kilian schluckte die Buchstaben wie eine Überportion Lebertran.

Cosima fragte sich, weshalb er so einen Wind um läppische Fragen machte. »Ein paar Klicks im Internet, und schon haben wir die Antworten.«

Kilian warf ihr ein angedeutetes Lächeln zu, seine Art, eine Kapitulation zuzugeben. Dann begann er aber schnell mit der Rückeroberung seiner Autorität, meistens mit einem Allerweltsatz: »Dann wollen wir mal.«

Sein Chefgehabe klang immer dann durch, wenn er mit seinen Gedanken und Worten in eine Einbahnstraße fuhr und daraus nicht mehr heil herauskam.

Cosima nahm seine Attitüden gar nicht mehr wahr. Er war durchaus ein emotionaler Mensch, aber berechenbar. Wenn er schlecht drauf war, wirkte er in allem sehr reduziert. Er sprach weniger, ging nicht zum gemeinsamen Mittagessen, machte die Tür seines Büros zu.

In heiteren Momenten oder in Momenten, wenn ihm der Sinn nach neckischer Ironie stand, nannte er Cosima »Divchen«, um das Wort Diva zu verniedlichen. Er bezog dieses Wort nicht auf ein affektiertes und blasiertes Verhalten, sondern auf ihren Kleidungsstil.

Sie verweigerte sich dem Cool-Image ihrer Kolleginnen, die sich alle Mühe gaben, dem Bullenklischee gerecht zu werden. Vernehmungen mit harten Jungs, eine Schießerei mit Gangstern, eine Verfolgungsjagd über hohe Mauern hinweg, geschafft, harter Job. Genau betrachtet, unterschieden sich Frauen und Männer in ihrem Dezernat kleidungsmäßig kaum voneinander. 80 Prozent Übereinstimmung bei Sportschuhen und Jeans. Kilian war mit seinem Jeans-plus-X-Outfit auf der sicheren Seite, weil er damit in keiner Weise auffiel.

»Du hast eine Modephobie«, stichelte Cosima, »weil du Angst davor hast, dich mal anständig anzuziehen.«

Er entgegnete ihr, dass er kein Opfer der weiblichen Geschmacksdiktatur sein wolle. Jeans mit blauer Jacke war für ihn ein gesunder Mittelweg zwischen Diktatur und Selbstbestimmung. Mittelweg hieß: Sei anders, aber falle dabei nicht auf.

Er dachte sich: Wer cool ist, braucht nicht schick zu sein.

Divchen dagegen dachte: Wer cool ist, kann es sich leisten, sich schick zu kleiden. Schick zu sein war für sie nicht nur eine Frage der weiblichen Ausstrahlung. Sie verband damit auch ein Statement, eine Botschaft, um ihre Persönlichkeit und ihre Sinnlichkeit unterschiedlich darzustellen, und das sei nun einmal mit einer blauen Jeans jeden Tag nicht möglich.

Kilian fand das amüsant. Miko war das völlig egal. Miko gab sich nicht einmal die Mühe, sich ein größeres Hemd zu kaufen, um seinen Bauch kleiner erscheinen zu lassen. Wenn er einen guten Einfall hatte, trommelte er zärtlich mit den Fingern auf seine Rundungen, und das Hemd spannte sich auffällig darüber. Er bemerkte es nicht. Er war frei von jeglichem Stilempfinden.

Cosima trug gerne unifarbene Hosenanzüge in Blau, Schwarz und Anthrazit. Das entsprach tatsächlich nicht dem üblichen Sichtfeld in der Kollegenschaft, aber sie wirkte dadurch nicht abgehoben oder aufdringlich, weil ihr natürliches Naturell alle Gegenargumente überspielte.

Nur einmal, und das führte nach vielen Monaten zu vereinzelten, aber feinen und gepflegten Lästereien, erschien sie im Präsidium mit Stresemann-Hose und Rüschenbluse, ein bisschen sexy 30er-Jahre, als stünde sie in der Filmkulisse mit Greta Garbo oder Marlene Dietrich. Sie hatte sich mittlerweile von all den Lästereien erholt, sie machte sogar selbst Witze darüber.

Wenn sie über den Flur ging, multiplizierte sich das Stakkato ihrer Trittgeräusche, und das Publikum aus Zeugen, Anwälten und Beschuldigten verfolgte das Geschehen wie einen herankommenden Zug, der in den Bahnhof einfuhr.

Saß sie einem Beschuldigten gegenüber, arbeiteten ihre Fantasie und ihre Schauspielkunst. Sie stellte harmlose Fragen und öffnete damit das große Buch der psychologischen Gesprächsführung.

Ein Lächeln bedeutete: Du bist doch sympathisch. Du Arschloch.

Ein leises Sprechen bedeutete: Immer mit der Ruhe. Komm in mein Spinnennetz.

Empfindsame Worte bedeuteten: Du bist nicht allein. Mach endlich dein Maul auf.

Sie liebte es, unterschätzt zu werden. Dann verschob sich die Skala des Beschuldigten von kluger Raffinesse zum grandiosen Trottel. Er redete sich um Kopf und Kragen, und der Anwalt kam gar nicht hinterher, den Wortausstoß seines Mandanten in eine andere Richtung zu lenken.

Sagte ein Beschuldigter von ganz allein, ja, ich war es, dann war sie die ehrlichste Spezialistin für Lob und Anerkennung. Eine Tat mochte noch so schlimm sein, aber wenn dem Bösen eine radikale Ehrlichkeit innewohnte, dann sagte sie dem Täter: »Sie haben ihr kostbarstes Gut nicht verloren, ihre Würde.«

Die richtig harten Jungs wurden ihr allerdings noch nicht vorgesetzt. Darum kümmerte sich der Chef immer noch selbst.

Miko hatte in der Kantine ein paar Nussecken gekauft und neben die Kaffeemaschine gelegt, »für alle«, wie er einladend bemerkte. Cosima fragte ihn, weshalb er ständig Hunger habe. Kilian wollte das wohl auch wissen. Er schaute wissbegierig in Mikos Richtung.

Er knöpfte sich den mittleren Knopf seines Hemdes zu, den sein gespannter Bauch aus der Umklammerung herausgeschleudert hatte, und fragte Kilian und Cosima, ob sie bereit seien, eine traurige Geschichte zu hören. Er würde sie auch ganz schnell erzählen.

Kilian hörte schweigend zu.

Cosima nickte und schaute dabei in ihren Computer.

»Also, in meinem früheren Leben lebte ich in bitterer Armut. Meine Eltern mussten hart auf den Feldern arbeiten, um die Familie vor dem Hungerstod zu retten. Der König und die Fürsten lebten prächtig, und ich träumte davon, statt Grießbrei ein knuspriges Hähnchen zu essen. Meine Eltern hatten kaum noch Kraft, den Tag zu überstehen. Sie starben sehr früh, und wenige Jahre später folgte ich in den Tod, weil ich nichts zu essen bekam. Meine Seele aber starb nicht. Sie wanderte durch die Gezeiten. Als ich wiedergeboren wurde, empfing mich meine Seele mit einem Festmahl, und meine innere Stimme schwor meinem Geist, lieber dick als dünn zu werden. Wie ihr seht, habe ich mein Versprechen gehalten.«

»Ooohhhhh, ist das eine traurige Geschichte«, alberte Cosima, »aber jetzt verstehe ich dich endlich. Ich melde dich bei den Weight Watchers sofort ab, und die bestellte Waage schicke ich auch zurück. Ehrenwort.«

Kilian zog demonstrativ seine Tür zu und sagte, so war er jedenfalls zu verstehen, »Kindergarten«.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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304 стр. 7 иллюстраций
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9783839267325
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