Читать книгу: «Ein letzter Frühling am Rhein», страница 4

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11.

Es gab Rotwein, Weißwein, Sekt, Wasser, helle und dunkle Weintrauben, Radieschen, französisches Landbrot, Baguette, Butter, Öl, Salz, Feigensenf und acht verschiedene Käsesorten, darauf jeweils eine eingesteckte Fahne mit dem passenden Namen: Brie, Edamer, Camembert, Schaf- und Ziegenkäse, Holländer, Gorgonzola und Parmesan.

Dr. Robert Kirsch und seine Frau Tilda waren zu Besuch bei Kilian und Charlotte. Robert war ein alter Freund von Kilian. Er hatte Psychologie studiert und seine Doktorarbeit über die »Dominanz der Eitelkeit im Spiegel der Eifersucht« geschrieben. Er ging der Frage nach, wo die Grenzen verlaufen zwischen der natürlichen Freude über die eigene Attraktivität und der übertriebenen Sorge, dass mich keiner mehr mag.

Robert war erst über Umwegen zur Psychologie gekommen. Er hatte bereits ein Jahr als Studienrat für Chemie und Biologie gearbeitet, als er spürte, dass Schule ihm nicht lag, genauer gesagt, dass ihm die Eltern der Schüler nicht lagen. Die Eltern dachten immer, sie hätten die liebsten und klügsten Kinder, die ständig von anderen Kindern geärgert und vom Lehrer benachteiligt würden. Er musste sich eingestehen, dass sein pädagogischer Idealismus nicht ausreichte, um über den Unterricht hinaus Krisenmanagement gegenüber den Eltern zu leisten.

Seine ehemalige Freundin, eine Verhaltenstherapeutin, weckte sein Interesse an der Psychologie. Er konnte sich noch gut an ihre erste Patientin erinnern, eine junge Frau mit einer Spinnenphobie. Wenn sie eine Spinne sah, bekam sie rote Flecken im Gesicht, zitterte und redete wirres Zeug, um damit ihre Angst wegzureden. Der Therapieplan sah vor, dass die Patientin nach vier Wochen in der Lage sein sollte, eine Gummispinne zu berühren, nach acht Wochen einer Biospinne beim Krabbeln angstfrei zuzusehen und nach zwölf Wochen sie in die Hand zu nehmen. Es hatte nicht funktioniert. Sie blieb spinnefeind, aber immerhin bekam sie ihre Hysterie in den Griff.

Robert entschied sich für die Psychologie, weil er den Menschen in seiner charakterlichen und seelischen Substanz verstehen wollte: Wie er denkt. Warum er es denkt. Wie er Dinge wahrnimmt und verarbeitet. Wie sich Ticks und Macken entwickeln. Woher sie kommen. Wie genau das Scheitern eines Menschen in allen Details funktioniert und warum Menschen aus dem Leben gehen, die anscheinend – augenscheinlich – alles haben.

»Jeder Mensch«, formulierte er in einem klug klingenden Tonfall, »ist ein Mysterium, dessen Beurteilung uns immer wieder zu Anfängern macht.« Er genoss solche Sätze, weil sie spontan Eindruck hinterließen, obwohl er damit wahrhaftig nichts Neues aufgedeckt hatte. Er hätte auch sagen können, dass die Psychologie wissenschaftlich nicht schnell genug vorankomme, um die Menschen genauer zu verstehen. Aber das wollte er so natürlich nicht sagen. Er wusste, dass die Psychologie immer nur Annäherungen bot, aber keine logische Lösung.

Später machte er sich einen Namen als Buchautor und Gastredner über die menschlichen Abgründe des Tötens. Per Zufall kam er dazu. Er lernte auf der »Forensischen Nacht«, einer Veranstaltung des Gerichtsmedizinischen Instituts, die Leiterin der Gerichtsmedizin kennen. Sie hielt einen Vortrag über »TV-Mord und Wirklichkeit«. Das Mordthema ließ ihn seitdem nicht mehr los. Er forschte nach »Charakterlichen Indizien für spezifische Mordmerkmale«. Er bemerkte im besten Schlagzeilen-Deutsch: »Jeder kann zum Mörder werden.«

Meistens trafen sich Kilian und Robert ohne ihre Ehefrauen. Dann redeten sie über Politik und Fußball, über den Job und komische Mitarbeiter. Sie erzählten sich Anekdoten von früher, meistens Frauengeschichten, in denen Kilian und Robert die begehrtesten Männer waren, die die schönsten und klügsten Frauen um den Finger wickeln konnten. Solche Erinnerungen, wie wahr sie auch sein mochten, lösten tiefe Zufriedenheit aus. Heute fiel dieser Erzählstrang aus. Kilian und Robert saßen sich gegenüber, Charlotte und Tilda auch. Charlotte besaß eine Boutique in der Vorstadt. Sie hatte sich auf spanische Designer spezialisiert. Salida, Soltomar oder Suerta. Dass sie alle mit »S« begannen, war reiner Zufall, beteuerte sie, und dass kaum eine Kundin diese Namen im Kopf hatte, spielte auch keine große Rolle, Hauptsache, sie klangen nach Lebensgefühl und Begehrtsein.

Sie konnte sich noch haargenau an die ersten Kollektionen erinnern. Die Blazer sahen aus wie Armee-Jacken, schwer und schwarz. »Heute sehen die Jäckchen ja wie seidige Papiertüten aus, leicht, leicht, leicht und in allen Farben«, meinte sie. Wer ihre Boutique betrat, musste die Piratin in sich entdecken. Raus aus der artigen Damen-Bürger-Rolle, rein in das Rebellen-Anderssein. Sonst wirkte ihre Mode wie ein karnevalistisches Kostüm. So schräg, als würde ein Biedermann eine rote Brille tragen. Sie selbst war kein farbenfroher Modemensch. Sie kombinierte Schnitte und Stoffe – alles in Schwarz, manchmal aber wechselte sie auch ins andere Extrem: alles in Weiß.

Den Riesenumsatz machte sie nicht, sagte sie ungefragt, aber die Boutique war ihr Ding und dieses Ding war mehr als ein Job. Es war eine Aufgabe von unschätzbarem Wert. Denn genau genommen verkaufte sie keine Mode, sondern Ausstrahlung, Selbstbewusstsein, Glück. Das sei wie mit einer Kneipe. Die Menschen gingen nicht in die Kneipe, um ein Bier zu trinken, sondern um andere Menschen zu treffen. Auf die Kommunikation komme es an, das Bier sei da nur ein Zusatznutzen.

Trocken bemerkte Kilian dazu, dass er ein »sinnlicher Beamter« sei und stolz darauf sei, ein Glücks-Beamter zu sein. Er liebte es, mit seinem Staatsdiener-Image zu spielen, weil sich Beamter nach Besoldungsgruppe, Beförderung, Pensionen, Ärmelschoner und stressfreier Arbeit anhörte. Vielleicht würde er seinen Beamtenstatus am liebsten verstecken, wenn er im Gewerbesteuerarchiv der Stadtverwaltung oder als Sportlehrer in der Grundschule arbeiten würde. Aber als Leiter der Mordkommission sendete er beamtenuntypische Assoziationen: Sie vermitteln den tiefen Morast von Dramen und Tragödien, von Leid und Kummer, und alles endet mit der Strafjustiz, mit Urteil und Gefängnis.

Tilda war Modejournalistin. Sie schrieb für Tages- und Wochenzeitungen, manchmal auch für die teuren Modemagazine, auf Hochglanz gedruckt, damit die Mode-Anzeigen der renommierten Luxusmarken so klar hervorstachen wie ein Karpfen in der Badewanne. Das Papier der Seiten enthielt leichte Duftnoten, als würde man in eine gedruckte Parfümerie gehen. Genau genommen schrieb sie nicht über Mode, sondern über das gesellschaftliche Drumherum der Haute Couture. Über Launen und Stimmungen der Branche, über die Stars der Branche, die sich nicht Modedesigner nennen ließen, sondern Modeschöpfer. Vielleicht hätte sich Picasso Bildschöpfer nennen sollen statt Maler. Sie schrieb auch über Magermodels, drogenabhängige Models, über todessüchtige Models. Sie schrieb über die Schatten, die die Modewelt im Sonnenschein nicht bemerkte.

Models kannte Robert nur aus den Frauenzeitschriften, die Tilda mitbrachte. Als er noch jünger war, hießen sie Cindy Crawford, Linda Evangelista, Naomi Campbell oder Claudia Schiffer. Wer danach kam, keine Ahnung, ihm fiel nur noch Agyness Deyn wegen ihres platinblonden Pixie-Schnittes ein.

Regelmäßig reiste Tilda zu den Pariser Modenschauen, zur Mailänder Modewoche, zur London Fashion Week und zur New York Fashion Week. Jedes Mal, wenn sie die Koffer packte, grummelte Robert den Standardsatz: »Du hast es gut, du kommst herum.«

Sein Bart machte ihn älter, als er war. Seine extreme Schlankheit passte nicht zu seiner Gesamtstatur. Großer Kopf, hagerer Körper, Sportler. Er lief und lief. Wie an einer Schnur gezogen, zog es ihn in die Wälder, »um Kilometer zu fressen«, wie er das ausdrückte. Er aß fast nur vegetarisch, Alkohol trank er nur selten, so selten, dass er spätestens nach einem Glas Wein bereits die Fahruntüchtigkeit erreichen würde. An dem Rotwein auf dem Tisch nippte er nicht einmal, und beim Anblick des Käses dachte er wohl nicht an Geschmack, sondern an Kalorien.

Robert pflegte sorgsam seine Marotten. Manchmal erweckte er den Eindruck, eine Gegenposition nur aus Trotz zu beziehen, um damit einen »Gegner« herauszufordern und ihn die Enge zu treiben.

Kilian kannte aus seinen Vernehmungen dieses Schauspiel aus Mimik, Gestik, Rhetorik, das Anschleichen und Verstecken, all die Hintergründe menschlicher Angriffslust.

Robert war auch genial darin, die Themen so zu lenken, dass er im Mittelpunkt stand. Ganz gewiss war er an diesem Käse-Wein-Abend der Redezeitkönig. Wenn er redete, merkte er manchmal nicht, dass er wie ein Fahrlehrer redete, der einem Formel-Eins-Rennfahrer den optimalen Bremszeitpunkt vor einer Kurve erklären will.

Roberts aktuelles Buch »Der Mörder in dir« erreichte sofort eine Startauflage von 150.000 Exemplaren. An all den Honoraren und Nebeneinkünften schien er prächtig zu verdienen. Er fuhr einen grünen Porsche 4 S mit cremefarbenen Sitzen. Er behauptete, er brauche dieses Auto, um jung zu bleiben. Er sei kein Opel-Typ. Das wiederum empfand Charlotte als »gestrig«. Sie fragte, ohne mit einer Antwort zu rechnen, ob ein Auto denn heute noch dazu tauge, Klassenbewusstsein zu zeigen.

»Es geht nicht um eine soziale oder gesellschaftliche Klasse, sondern um Lebensart«, belehrte Robert sie.

»Ach so«, bemerkte sie hinterlistig ironisch.

»Soll doch jeder fahren, was er will«, antwortete er nach kurzem Zögern. Seine Kapitulation war wohl überdacht. Mit Luxus zu prahlen, bedeutete Machtverlust. Die wirkliche Macht leitete sich aus Respekt ab. Respekt war das größte Kompliment für einen Menschen.

»Ich fahre ein scheiß Auto, Marke Biedermann«, fügte Kilian amüsiert hinzu und wusste selbst nicht genau, wie er das meinte, als Akt der übertriebenen Bescheidenheit oder als provozierendes Stilmittel gegenüber dem übermächtigen Porschefahrer?

»Also, ich trinke Wein«, bekundete Tilda ihren Trinkwunsch, »Robert trinkt ja Wasser und fährt uns dann auch heim.«

Er hob sein Wasserglas wie einen Siegerpokal: »Prost, auf einen schönen Abend.«

»Ja, schön, dass ihr mal wieder bei uns seid«, frohlockte Charlotte im schönsten Gastgeber-Eröffnungs-Small-Talk. Sie lächelte und schaute dabei jedem in die Augen. Augen lügen nicht. Fühlt sich auch jeder wohl hier?

»Mensch, Kilian, da hast du ja momentan einen ganz schönen Fall am Bein«, durchbrach Tilda das artige Summ-Summ-Geplänkel.

»Ja, dieser Schneewittchen-Mord«, ergänzte Robert so beiläufig erhaben, als möchte er nichts Weiteres über diesen Fall erfahren, weil er erstens nicht als neugierig gelten mochte und zweitens genau wusste, dass er gleich sowieso seinen großen Auftritt als Fachmann und Menschenkenner haben würde.

Charlotte tat ihm prompt diesen Gefallen: »Robert, was hältst du von dieser Sache, alles merkwürdig, oder?«

Er war kein Mann für eine knappe Antwort. Er dozierte lieber, von oben nach unten, und Kilian, Charlotte und Tilda waren für die nächsten ausufernden Minuten seine Studenten.

Seine Zuhörer waren froh, dass er im Sitzen sprach und sich nicht stehend an der Stuhllehne als imaginiertem Rednerpult festhielt. So hatten sie wenigstens das Gefühl, an einem Tisch im Wohnzimmer zu sitzen und nicht in einem Raum irgendeiner Bildungseinrichtung.

Robert atmete kräftig durch, seine Mimik, in der sich Konzentration, Expertise und Bildung abzeichneten, bereitete seine Zuhörer auf wirklich Wichtiges vor.

Sie erhielten Einblick.

Einblick wie Offenbarung. Er öffnete das Verborgene und warf ein Licht auf die Wahrheit.

Kilian ließ indessen die Luft des Gähnens langsam durch die Finger ziehen, damit es keiner bemerkte. Was sein Freund gleich sagen würde, erfüllte mindestens den Anfangsverdacht der Langeweile. Ihn zu langweilen war allerdings ein schweres Vergehen. Langeweile kam ihm wie Totschlag seiner Zeit vor. Robert jedoch lebte auf.

»Um den Fall wirklich beurteilen zu können, müsste ich wissen, durch welches Gift die Frau gestorben ist. Handelt es sich zum Beispiel um das relativ herkömmliche E 5, käme eine breitere Zielgruppe in Frage. Handelt es sich dagegen um ein raffinierteres Gift wie etwa eine intravenöse Succinylcholin-Injektion, die sich im Körper nicht nachweisen lässt, könnte man auf Personen mit Heilberufen schließen, Apotheker oder Ärzte oder Krankenschwestern. Generell können wir sagen, dass Männer anders töten als Frauen. Männer schießen oder schlagen, wählen also die härtere Variante, während Frauen den sanfteren Weg des Giftmordes wählen. Ich muss dazu etwas ausholen. Wenn ein Mensch erschossen, erdrosselt, erstochen oder erschlagen wird, ist eine absichtliche Tötung offensichtlich, das heißt, der Arzt kann nicht irrtümlich den Todesschein auf natürlichen Tod ausstellen. Beim heimtückischen Giftmord ist das anders. Der muss entdeckt werden. Und das wiederum bedeutet, dass viele Morde durch Frauen unentdeckt bleiben.«

»Oh«, hob Tilda neugierig die Stimme, als wäre sie überrascht.

»Ja, mein Schatz, so ist das. Kleiner Tipp am Rande: Wenn sich das Gift blau vermischt, dann empfehle ich euch, das Zeug in Blaubeerquark zu rühren. Dann fällt es nicht auf.«

Keiner lachte.

Er zog seine Augenbrauen zusammen und knitterte dabei seine Stirn zu Falten. »Aber ich komme vom Thema ab.«

Kilian kannte das Gift, das zum Tod führte. Er schwieg.

Robert strich sich über seinen rechten Oberschenkel, als wolle er seine taubenblaue Hose glattziehen. Er trug fast immer taubenblaue Anzüge mit weißem Einstecktuch, dazu braune Schuhe mit braunem Gürtel. »Das sieht richtig schick aus«, lobte Charlotte jedes Mal und immer in Gegenwart ihres Gatten Kilian, der nie schick aussah.

Tilda war wieder bei der Mordsache. »Es könnte doch sein, dass Drogen im Spiel waren. Ich kenne ja die Typen aus der Modeszene, die dröhnen sich manchmal zu und wissen dann nicht mehr, wer sie sind.«

Alle schwiegen.

»Ach Quatsch, was ich da sage«, zeigte sie sich selbst den Vogel, »aber ich will nicht ausschließen, dass dieser Mord etwas mit der Modebranche zu tun hat, mit all den Emotionen, Verwerfungen und Enttäuschungen. Ihr seht immer nur Trallala, ach wie schön, aber ihr schaut nicht hinter die Kulissen, ihr seht keine Einsamkeit, keine Übermüdung, keine Magermodels, ihr seht nur das Produkt, Glitzer, Glamour und so weiter.«

Charlotte machte eine weitere Flasche auf. Robert trank weiterhin stilles Wasser.

Tilda überlegte, ob sie alles gesagt hatte, was sie sagen wollte, und ob sie das Gesagte auch richtig betont hatte. Nichts wäre schlimmer, als die Wirksamkeit guter Gedanken durch eine falsche Modulation verpuffen zu lassen.

»Dann lass uns mal auf das Leben anstoßen«, schlug Charlotte vor.

Das aufkommende Lachen wirkte wie eine törichte Albernheit gegenüber all den schweren Themen des Abends. Die Runde kam sich zeitweise vor wie auf einer Beerdigung mit Sarg, Kränzen, stillem Händeschütteln und den schweren Glocken der Friedhofskapelle. Aber anschließend beim Leichenschmaus setzte bereits wieder plappernde Fröhlichkeit ein.

12.

Miko freute sich über seine Entdeckung. »Schaut her, die Frau Walldorf hatte einen Stalker. Und jetzt hört genau hin. Der wurde vom Gericht angewiesen, ihrem Haus in einem Umkreis von einem Kilometer nicht näher zu kommen und auch sonst jeden Kontakt strikt zu vermeiden.«

»Und, was sagt uns das«, fragte Cosima eher beiläufig, als nehme sie den Stalker-Fall nicht ernst.

»Das sagt uns, dass er ein Besessener ist, und wer besessen ist, der hat sich nicht mehr unter Kontrolle.«

Cosima fragte ihn mit geschlossenen Augen, als sei sie mit ihren Gedanken gerade woanders, was er denn mit dem Stalker anstellten wollte.

»Kilian wollte von uns wissen, ob Frau Walldorf Feinde hatte. Hier hast Du einen Feind.«

»Oh Gott, dann habe ich ja viele Feinde, wenn man eben auch die dazu rechnet, die nicht ganz dicht im Kopf sind«, sagte sie so dahin.

»Und was bin ich für Dich«, fragte Miko vergnüglich.

»Du bist mein Lieblingsfeind.«

Miko gefiel diese Antwort, weil Cosima genau das Gegenteil damit meinte. Diese Art der Kommunikation, mit Ironie zu spielen, damit zu locken und zu necken, beherrschten beide prächtig.

Er blätterte weiter durch die Akte des Stalkers. Weil die Polizei in einer anderen Sache Diebesgut bei ihm vermutet hatte, erwirkte sie eine Hausdurchsuchung und machte Fotos von der Wohnung. An einer Wand hingen übereinander und nebeneinander Bilder von Chira Walldorf, überzeichnet mit einem wilden Gekritzel, als hätte ein Kind erstmals einen Stift in der Hand gehabt, um damit etwas anzufangen. Auf manchen Bildern standen Worte wie »Hässlich grässlich« oder »Saublöde Visage« oder »Ritz dir eine Falte auf die Stirn«.

Das Gesicht des Stalkers erinnerte ihn an einen römischen oder antiken Jüngling, wie er in etlichen Büchern abgebildet ist oder als Bildhauerei in einem Museum steht. Er hatte markante Wangenknochen und kurzgeschnitten Locken. »Ist das ein schöner Mann«, fragte Miko seine Kollegin.

»Er ist dann schön, wenn er ein Typ ist.«

»Verstehe ich nicht.«

»Miko, ich weiß, dass Du das nicht verstehst«, antwortete Cosima mit übertrieben fürsorglicher Stimme.

Beide mussten lachen.

Ihn ließ die Frage nicht los, was der Stalker von Frau Walldorf wollte. Glaubte er wirklich, sie würde ihn lieben und sich auf eine Beziehung mit ihm einlassen? War er beleidigt, weil seine Liebe verachtet wurde? Schlug dann eine Mischung aus Kränkung und mangelndes Selbstwertgefühl in Mord um? Miko stutzte über seine Gedanken, abwegig fand er sie aber nicht. Häufig in seinem Polizistenleben war er Psychopaten begegnet mit einer braven Umhüllung bürgerlicher Normalität. Was sie sagten, wie sie es sagten, wie sie sich kleideten, wie sie ihre Freizeit gestalteten, sie wirkten zufrieden und innerlich aufgeräumt. Doch in ihren Köpfen bildeten sich Nester mit gefährlichen Raubvögeln, die nur darauf warteten, Beute zu machen. Dann verwandelten sich die Körper zu einer Masse ohne Seele – zu einer Drangsal der bösen Tat.

Miko bestellte den Stalker ins Präsidium ein.

13.

Der Tag begann heiter. Die einfühlsame Radiostimme vom Wetterdienst kündigte für den kommenden Samstag Höchsttemperaturen von bis zu 24 Grad an. Es war die Zeit des Übergangs. Der Frühling witterte schon den Sommer und würde bald Wiesen, Gärten und Gefühle mit einem frischen Aroma der Lebensfreude übergeben. Miko schüttelte sich, um wach zu werden. Ihn plagte die Frühjahrsmüdigkeit. Cosima pries ihm die Wirkung einer kalten Dusche an, die er wegen der Kälte aber ablehnte.

Er wohnte nur einige Fußminuten vom Präsidium entfernt. Und von dort waren es wiederum nur wenige Fußminuten bis zum Landtag und zum Rhein mit seiner Promenade, die in die Altstadt führte und zur Wohnung von Chira Walldorf. An diesem Morgen stellte er Cosima und Kilian Dr. Robert Kirsch als »Experten« vor. »Er wird uns unterstützen, um ein Täterprofil zu entwickeln.«

Cosima und Miko hörten brav zu, machten einen interessierten Gesichtsausdruck, und Miko fragte Dr. Kirsch, was für einen Doktor er habe.

»Ich habe in Psychologie promoviert.« Dabei schaute er professionell freundlich.

Später lästerte Miko gegenüber Cosima: »Ich habe die Ehrendoktorwürde für praktische Appetitkunde verliehen bekommen.«

Kilian und Robert zogen sich zurück und tranken einen Kaffee.

»Mensch, Kilian«, meinte Robert plötzlich, »ich dachte immer, es sei ein Klischee, dass Polizeikaffee ungenießbar ist, aber das ist ja die pure Wahrheit.«

»Der Kaffee ist auch nicht für uns gedacht, sondern für herzkranke Zeugen.« Kilian freute sich über seinen gelungenen Konter.

Kilian erklärte ihm Vordergründiges und Hintergründiges über den Fall. »Der Tatort war ein Lebensort der Getöteten. Sagen wir mal so: erster Wohnsitz. Sie war als Model in der Welt ständig unterwegs. Fest steht, dass der Lebensort bewusst als Tatort ausgewählt worden ist. Denn der Hergang der Tötung, Giftmord, war so gewählt, dass das Sterben in dieser Wohnung stattfinden musste. Wie sie auf dem Bett dalag, ausgeruht schlafend mit sorgsam gekämmten Haaren, so sieht ja kein normal sterbender Mensch aus, das alles wirkte sehr, sehr theatralisch.«

Robert machte sich Notizen, schrieb Worte auf wie »Bühne«, »Inszenierung«, »Dramaturgie des Sterbens«, »schöne Tote«.

Er hatte schon ein Grundgefühl für diesen Fall parat, weil die Umstände des Todes nur in eine Richtung zielten konnten, aber er behielt den Gedanken noch für sich.

In seinem Büro ging er die Tatortbilder erneut durch und verinnerlichte den Tathergang.

Er versuchte, eine Struktur, einen Sinn, eine Richtung zu erkennen. Aber dafür war es jetzt noch zu früh. Er brauchte mehr Informationen. Merkwürdigerweise gingen ihm ein paar Märchen durch den Kopf. »Hänsel und Gretel«, »Schneewittchen« und »Der Räuberbräutigam«, grausame Geschichten über Liebesentzug, Verzweiflung und Tod, irgendwann folgte ein glückliches Ende. Er dachte darüber nach, wie sein Fall heißen würde, wenn es ein Märchen wäre. Vielleicht »Goldhaarliebe« oder »Komm ins Zuckerliebesland« oder »Weine nicht um mich«.

Er konnte den Gedanken, dass dieser Mordfall ihm wie ein Märchen vorkam, nicht abschütteln, zu merkwürdig, fantastisch, unwirklich erschienen ihm die einzelnen Sätze, deren er habhaft werden wollte, denen er ihr Geheimnis entlocken wollte.

ICH HABE MIR DEINE SCHÖNHEIT GELIEHEN.

»Wie kann man Schönheit leihen? Und warum sollte man sie leihen? Für welchen Anlass?«

Er wurde aus seinen Gedanken selbst nicht mehr schlau. Er spürte, wie ihn das Verharren an der Oberfläche schmerzte. Es war kein körperlicher Schmerz, sondern eine Ungeduld, die sich nicht entladen konnte und dadurch Druck in seinem Innersten aufbaute.

DU LEBST WEITER. IN EINER ANDEREN WELT.

»Du lebst weiter. In einer anderen Welt? Welche Welt soll das nur sein?«

DU MUSST DAS VERSTEHEN.

»Sie muss ihren Tod verstehen? Wie kann man einem unschuldigen Opfer zumuten, seinen gewaltsamen Tod verstehen zu müssen?«

ICH WEISS, DASS DU JETZT GLÜCKLICH BIST. DAS IST MEIN TROST.

»Das Opfer soll glücklich sein, weil es versteht, tot sein zu müssen, damit seine Schönheit ›verliehen‹ werden kann? Das ist für den Täter tröstlich.«

Er schrieb mit einem roten Stift auf ein großes Blatt Papier die Worte

DAS IST PSYCHO

399
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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304 стр. 7 иллюстраций
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9783839267325
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