Читать книгу: «Der Junge mit dem Feueramulett: Die Höhle der Drachen», страница 4
»Was ist mit euch los? Da geht es direkt zum Zentralen Platz. Wir sollten hinten herum. Die andere Seite.«
Aber Kard war schon losgelaufen. Fluchend lief Kyra hinterher. »Wenn wir da vorne in eine Patrouille laufen, bin ich weg. Dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt.«
Aber sie liefen in keine Patrouille. Kards Gefühl, oder hatte die Energie des Schlamms mit ihm gesprochen, hatte ihn nicht getäuscht. N’gar hatte damals recht gehabt. Es ist gut, seinen Gefühlen zu vertrauen! Auf dem Zentralen Platz hatten sich nur einige Govans versammelt, um Branu ihre Ehre zu erweisen. Weit und breit war keine Uniform zu sehen.
Die größte Anziehungskraft für Kard hatte an diesem Morgen der Altar von Charabnu, dem Gott der Träume und Träumer. Aus unerfindlichen Gründen, vielleicht hatte er sie aus einem Futtertrog im Beschlagnahmungsstall mitgehen lassen, hatte er eine Karotte in der Tasche. Er legte sie auf den Altar von Charabnu und dankte dem Gott. Danach sah er Kyra an. »Zu den Gsappas?«
Kyra nickte. Und übernahm die Führung.
»O-drei-vier.« Benji hatte den alten Plan auf dem Esstisch der Gsappas ausgebreitet und sie starrten auf die Linie, die den Quadranten O3 und O4 trennte.
»Die Arena der Drachen.« Onkel Gsappa war zu ihnen getreten und lugte den Kindern über die Schulter.
»Arena der Drachen?« Kard sah den alten Torak fragend an.
»Ja, das alte Amphitheater. Dort soll es früher Kämpfe und Opferungen gegeben haben.«
»Jetzt erzähl den Kindern doch keine Schauermärchen. Heute ist das ein schöner Ort. Da werden Konzerte gegeben. Dein Onkel Gsappa wird da auch bald auftreten. Mit dem Barden Weiße Schlange.« Tante Berta nahm ein zusammengerolltes Küchentuch und schlug Gsappa damit spielerisch auf den Bauch.
»Echt, Onkel Gsappa. Ich will auch dabei sein.«
»Ja, kein Problem, Glast. Ich besorge Hinterbühneneintrittskarten.«
»Und wir wollen Schauermärchen hören.« Kian und Shay hatten sich von dem Schrecken der Verhaftung schnell erholt. Kaum hatten sie ihre große Schwester um sich, war ihre Welt wieder in Ordnung.
»Schauermärchen? Die reine Wahrheit, nichts als die Wahrheit…«
»Alter Mann…« Tante Berta funkelte Gsappa mit gespieltem Zorn an.
Benji wusste genaueres. »Also. Zu Zeiten der sagenumwobenen Drachenkönige, denn aus dieser Zeit stammt dieses Amphitheater, ließ man hier schwer bewaffnete Wesen gegeneinander kämpfen. Oder auch mal gegen Faols oder Tiger.«
»Was sind denn Tiger?« Die Kinder machten große Augen.
»Riesige Katzen mit Streifen. Also in dem Buch, an das ich gerade denke, wird gesagt, dass es die im Süden der Südlichen Wüste gibt.«
»Also am Ende der Welt.«
»Riesige Katzen, das hast du dir doch ausgedacht, Benji.«
»Nein, Kyra, das stimmt wirklich.«
»Weil du es gelesen hast?«
Kard konnte nicht umhin festzustellen, dass das Necken zwischen Kyra und Kard ihm nicht gefiel. Was ist nur los mit mir? Kann man das nicht abstellen?
»Benji hat schon recht. So habe ich das auch gehört. Riesige Katzen mit Streifen.« Gsappa nickte bestätigend.
»Und denen wurde geopfert?«
»Nein, Kard. Geopfert wurde den Drachen.«
Kard schaute Gsappa ungläubig an.
»Ja, ich weiß schon. Heutzutage erzählt man sich ja meistens, dass Aidan, der letzte Drachenkönig, ein weiser und gerechter Mann gewesen sein soll. Aber wieso hat es dann den Krieg gegeben, den Flanakan gewonnen hat? Wie auch immer, erzählt wird jedenfalls, dass dort«, Gsappa deutete auf die Karte, »Menschen und Toraks und alle anderen Wesen den Drachen zum Fraß vorgeworfen wurden. Oder geopfert, wenn man das so sehen will.«
»Wie gesagt, Onkel Gsappa erzählt gerne Schauermärchen. Heute ist es ein beliebter Ausflugsort. Alle, die die Alte Stadt besuchen, schauen sich das an.« Tante Berta wuselte Kian beruhigend in den Haaren.
»Leute, das ist wirklich alles sehr interessant. Aber haben wir nicht noch andere Sorgen? Was ist mit Kendra?« Kyras Stimme zitterte ein wenig. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber in ihrem Inneren musste ein Sturm herumwirbeln.
»Und ihr habt keine Ahnung, wo man sie hingebracht hat?« Tante Bertas Stimme klang wirklich besorgt.
Kian und Shay schüttelten den Kopf. Gleich nachdem sie von den Wachen aufgegriffen worden waren, hatte man sie getrennt. Die Jungen hatte man in das Gebäude der Obersten Verwaltung gebracht. Das Mädchen, Kendra, an einen anderen Ort.
»Pass auf, Kyra. Ich spreche mal mit ein paar alten Bekannten. Die können mir sagen, ob für diesen Vollmond irgendwo ein illegaler Wettkampf stattfinden soll. Und ich habe euch ja bereits erzählt, dass die Wachen sich gerne etwas dazuverdienen. Und es wäre nicht das erste Mal, dass eine Gefangene bei den Buchmachern wieder auftaucht.«
»Gsappa, du hast gesagt, dass du mit diesen Leuten nicht mehr verkehrst.«
»Bertachen, mein Täubchen, das tue ich doch auch nicht mehr. Normalerweise nicht. Aber das ist hier ein Notfall.«
»Aber wehe…«
»Nein, nein. Ich selbst werde nicht wetten. Versprochen.«
Tante Berta fixierte ihren Mann mit einem drohenden Blick, nickte dann aber zustimmend.
»Ich kann noch diesen Abend vorbeigehen, Kyra. Dann wissen wir bald mehr.«
Kyra zögerte eine Weile. Verständlicherweise würde sie gerne sofort etwas unternehmen, um ihre Schwester ausfindig zu machen. Aber im Augenblick schien Gsappas Vorschlag die beste Option. Schließlich nickte sie zustimmend.
*
Immerhin auf Makral konnte Tsarr sich verlassen. Der Oberste der Schergen und Wachen war persönlich in der Alten Stadt, um die Umtriebe dort vor Ort einzudämmen. Die Strategie, mit den Schatten Zwietracht im Volk zu schüren, war in der Alten Stadt nicht ganz aufgegangen. Zwar gingen sich Menschen und Toraks wie überall sonst inzwischen auch gegenseitig an die Kehle. Aber Proteste gegen Wachen und Schergen hatten deshalb nicht abgenommen. Inzwischen waren die Wachen verdoppelt worden und an jeder Straßenecke stand ein Spitzel. Selbst die Straßenkinder wurden inzwischen eingesammelt, damit hier wieder Ruhe und Ordnung herrschte.
Außerdem brauchte Tsarr die Straßenkinder.
Denn wenn es im restlichen Reich schon schwierig war, Jungfrauen für das Opferritual zu organisieren, war das in der Alten Stadt unmöglich. Warum hingen diese Wesen nur so an ihren Bälgern?
Also hatte sie Makral gebeten, einige Jungfrauen zu besorgen. Denn um den Segen Goibas zu erlangen, würde sie erstmal einige dieser Gören der Göttin von Tod und Kälte opfern. Natürlich mochte es Goiba lieber, wenn man sich ihr freiwillig hingab. Aber letztendlich war sie nicht wählerisch. Ein schreiendes Kind war ein gutes Opfer. Ein Opfer, das ihr helfen würde, ihren Plan durchzuführen. Jetzt musste dieser dumme Vampyr nur noch den Jungen finden. Dann würde sich alles zum Guten wenden. Für sie. Für sie alleine. Und für sonst niemanden.
*
Obwohl sie nicht geschlafen hatten und hundemüde waren, machten sich die Freunde auf den Weg ins Amphitheater noch bevor Tante Berta ein Mittagessen servieren konnte. Es war grau und kalt in der Alten Stadt, dunkle Wolken hingen am Himmel und verdeckten die Sonne. Mitleidloser Wind fegte durch die Straßen und ließ alle schlottern, die nicht einen dreilagigen Faolsmantel ihr eigen nannten.
Madad weigerte sich, die Schneckenbahn zu nehmen. Kyra war dies ganz recht. Sie fühlte sich in dem unterirdischen Labyrinth nicht wohl. Also gingen sie zu Fuß, auch wenn das Amphitheater am östlichen Stadtrand lag.
Unterwegs trafen sie auf einige Respektlose. Rückwärtsgeher, die sich dem normalen Vorwärtsgehen verweigerten. Außerdem sprachen sie alle Worte rückwärts aus, sodass eine Unterhaltung mit ihnen so gut wie unmöglich war. Kard hielt Ausschau nach Oiklihd, Arschimaedes und Puetontagoras, aber die Riesenkaninchen-Rebellen waren nicht darunter. Soweit Kard die Rede der Respektlosen entschlüsseln konnte, schimpften sie über die ganze Welt, in der jetzt jeder gegen jeden kämpfte, sodass das Alleinstellungsmerkmal der Respektlosen bedroht war. Was für eine unsinnige Welt, in der alle respektlos waren. Um respektlos zu sein, müsste man nun respektvoll sein. Ein echtes Dilemma.
Obwohl sie sich Kard und den anderen angeschlossen hatte, steckte auch Kyra in einer Zwickmühle. Viel lieber wäre sie losgezogen, um ihre kleine Schwester zu suchen. Aber da sie im ersten Moment auch keine bessere Idee gehabt hatte, als auf mögliche Informationen zu warten, die Gsappa an diesem Abend vielleicht mitbringen würde, war sie den anderen gefolgt. Aber je weiter sie sich vom letzten bekannten Aufenthaltsort ihrer Schwester, das Gebäude der Obersten Verwaltung, entfernten, desto unruhiger wurde sie. »Wird das lange dauern?«
»Wissen wir noch nicht, Kyra. Wir wissen ja noch nicht einmal genau, was wir dort suchen sollen.« Kard verstand Kyra, aber er hatte gerade andere Sorgen. Wochenlang hatten sie sich auf der Suche befunden und jetzt könnte er vielleicht bald das Rätsel seiner Herkunft lösen.
Das Amphitheater war eine halbrunde, treppenähnliche Konstruktion, die sich gegenüber einer Steilwand befand, einem Ausläufer der Drachenberge, der wie eine Zunge in die Stadt leckte. In dieser Steilwand befand sich der Eingang zu einer kuppelähnlichen Höhle. Laut Gsappa waren hier früher die Stallungen der Drachen untergebracht gewesen. Auf der freien Fläche davor wurden die Schuppenwesen gefüttert. Offensichtlich ein Schauspiel, zu dem sich viele Wesen versammelt hatten.
Es gab kaum Ruinen rund um diese Stätte, offensichtlich war dieser Stadtteil noch nie eng besiedelt gewesen. Drachen als Nachbarn zu haben, schien nicht nach jedermanns Geschmack zu sein. Auf den letzten Metern waren ihnen auch keine Patrouillen oder überhaupt irgendwelche Wesen entgegengekommen. Die Gegend wirkte ausgestorben, als ob ein alter Fluch alles Leben hier verbannt hätte. Nur einige Schwarzkrähen zogen einsam krächzend ihre Runden am wolkenverhangenen Himmel.
»Bisschen gruselig hier, oder?« Benji schaute sich ängstlich nach allen Seiten um.
»Kacke, das kannst du laut sagen.«
»Ach was, Benji. Das ist nur die Kälte.« Aber Kard sagte das nur, um sich selbst ein wenig Mut zu machen. Denn Benji hatte recht. Es war gruselig hier! Selbst Madad schien seine Pfoten vorsichtiger als sonst auf den Boden zu setzen, als ob er befürchtete, ein schlafendes Ungetüm zu wecken.
Die treppenähnliche Steinkonstruktion zeigte deutliche Zeichen des Verfalls. Aber dafür, dass sie über einhundert Jahre alt war, war sie in erstaunlich gutem Zustand. Sie bildete eine geschlossene Barriere, die man umrunden musste, um auf den freien Platz davor zu kommen.
»Könnte es nicht sein, dass Kendra doch noch im Gebäude war, nur irgendwo anders?« Kyra hatte laut gedacht.
»Wir mussten aber raus, bevor wir entdeckt wurden.«
»Stimmt ja schon, Kard. Aber man hätte sie irgendwo anders unterbringen können.«
»Aber wieso hätten die das tun sollen?«
»Vielleicht galt sie ja nicht als Beschlagnahmung.«
»Gut. Kann sein. Aber können wir bitte später darüber diskutieren?«
Kard warf Kyra einen genervten Blick zu und wandte sich zu Benji. »Benji, was sagst du? Gab es neben den Koordinaten noch andere Hinweise in dem Rätsel.«
»Weiß nicht. ›Finde, was du suchst und suche, was du findest.‹ Scheint mir nur ein Wortspiel zu sein.«
»Gut, dann lasst uns hier einfach mal herumgehen, ob uns irgendetwas auffällt.«
Inzwischen hatten sie die Tribüne umrundet und waren durch ein Portal getreten, das auf den leeren Platz vor der Höhle führte. Die Mauer, die diesen Platz einschloss, war immer noch intakt. Sie hatte ungefähr die Höhe zweier Toraks. Wenn man hier drinnen gefangen war, gab es kein Entkommen. Auf der einen Seite warteten die Drachen, auf der anderen die Zuschauer. Und damals hatten bestimmt die Soldaten des Drachenkönigs darauf geachtet, dass niemand die Flucht über die Sitzreihen antrat.
Zaza schwebte über den Platz. Sie zeigte selten, dass sie eine Luft-Magierin war, aber dieser Ort schien selbst der tätowierten Torak-Frau nicht ganz geheuer. Nicht, dass doch noch ein vergessener Drache aus der Höhle auf sie zukam?
»Ziemlich öde hier. Was soll man hier schon finden?« Kyras Stimme klang gelangweilt.
Kard beachtete sie nicht weiter. Stattdessen versuchte er, sich ganz auf diesen Ort zu konzentrieren. Sein Amulett begann zu pulsieren. Ruhig und kalt. Seltsame Gefühle. Ich fühle Angst und doch Vertrauen. Als ob man einem verschollenen Freund gegenübertritt, den man für tot geglaubt hatte. Misstrauen? Hoffnung? Ich weiß es nicht? Gehe in die Höhle, hörte er eine innere Stimme.
In Conchar galten Drachen als Wesen aus einem Märchen. Gestalten, die keinen Wirklichkeitsgehalt besaßen. Gute Zutaten für spannende Geschichten. Aber nicht mehr. Und selbst, wenn es Drachen gegeben haben sollte, muss das vor so langer Zeit gewesen sein, dass dies mit der heutigen Zeit nichts mehr zu tun hatte. Auch wenn der Drachenzahn auf seiner Brust echt sein mochte, waren die Bestien schon vor langer Zeit aus Haragor verschwunden. Das war genauso, als ob Drachen nie wirklich existiert hätten.
Aber was war dann das hier für ein Ort? Einfach nur eine Theaterbühne? Hatten schon zur Zeit der Drachenkönige wilde Barden mit barbarischen Klängen die Menge begeistert? Oder stimmt die Geschichte von Onkel Gsappa? Auch wenn es keine Drachen mehr geben sollte, gab es keinen Ort, an dem Kard sie mehr spürte als hier.
Er trat unter die Kuppel.
Er bemerkte nichts. Keine alte Magie, keine Magie, die auf Branu oder Goiba zurückging. Es war einfach nur eine Kuppel. Mit glatten, dunklen Wänden. Auf denen Kratzspuren zu sehen waren.
Kratzspuren oder Schlieren im Fels? Natürliche Unregelmäßigkeiten? Kard trat näher an den Fels, betrachte die Rillen darin, strich mit den Fingern darüber. Wahrscheinlich einfach nur Einkerbungen, die Zeit und Wetter in den Fels getrieben hatten.
Langsam schritt er die Wand ab. An einer Stelle schien ein Stollen mit Schotter verschlossen zu sein. Oder war es auch nur eine natürliche Deformierung? Falls sich hinter der geröllartigen Felswand tatsächlich ein Stollen befinden sollte, könnte er zum Branubrabat führen. Die Richtung würde stimmen. Allerdings könnte ein möglicher Stollen natürlich auch sofort eine Kurve machen und sonst wohin führen. Aber auch hier spürte Kard keine besondere Verdichtung von Magie. Vielleicht wollte er hier einfach Zusammenhänge sehen, die es gar nicht gab? Ich will etwas finden! Ich weiß nur nicht was? Und plötzlich bekommt alles eine Bedeutung. Aber ich glaube, ich bilde mir das alles nur ein. Es war letztendlich doch nur eine Kuppel.
»Yo, was gefunden?«
»Nein, Madad, du?«
Der Cu verneinte. Auch Zaza, Benji und Kyra kamen nun zu Kard unter die Kuppel. Niemand hatte etwas entdeckt, das man als Hinweis deuten konnte.
»Dann können wir ja wieder gehen.«
»Geduld, Kyra. Irgendwas muss hier sein.«
»Geduld? Kard, meine Schwester ist immer noch verschwunden. Wer weiß, vielleicht wird sie gerade gefoltert, du kennst die Wachen. Und da soll ich Geduld haben?«
Kard versuchte ihr seinen Arm beruhigend über die Schulter zu legen, aber Kyra trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich würde gerne zurückgehen. Und dann zum Gebäude der Obersten Verwaltung. Irgendwie werde ich da schon hereinkommen.«
»Jetzt? Tagsüber? Kacke, das geht nicht.«
»Geht nicht, geht nicht. Aber hier herumlaufen und nach irgendwelchen Zeichen Ausschau halten, das geht, ja?«
»Schau Kyra, heute Abend…« Aber Benji kam nicht weit mit seinem Satz.
»Heute Abend ist Kendra vielleicht schon tot. Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl.«
»Sobald wir hier fertig sind…« Auch Kard wurde von Kyra unterbrochen.
»Sobald, sobald. Ich kann nicht mehr warten.« Kyra konnte kaum noch ihre Tränen zurückhalten. Die anderen sahen sich hilflos an. »Ich… dann gehe ich jetzt eben alleine. Ihr tut immer alle so schlau, aber keiner von euch hat jetzt eine Idee, wie wir meine Schwester retten können.«
»Vielleicht bekommt Onkel Gsappa heute Abend ja ein paar Informationen, die uns weiterhelfen?« Aber auch die Worte von Glast konnten das Mädchen nicht beruhigen.
»Uns? Ihr interessiert euch doch nur für euer blödes Rätsel. Kendra ist euch doch vollkommen egal.«
»Kyra, das stimmt nicht, wir wissen im Augenblick…« Kard hätte Kyra wirklich gerne geholfen.
»Ihr wisst sowieso überhaupt nichts. Schaut euch doch mal an. Ihr steht hier rum und schaut Löcher in die Luft. Ihr habt keine Ahnung, wonach ihr suchen sollt. Ihr habt überhaupt keine Ahnung von gar nichts. Vielleicht sucht ihr ja sowieso an der falschen Stelle. Woher seid ihr denn so sicher, dass man hier etwas findet? Wegen der Drachen? Die gab es doch nie. Das ist doch nur ein Märchen. Aber Kendra ist kein Märchen.«
»Aber Kyra, wir…«
»Ich bin euch wirklich dankbar, dass wir heute Nacht Kian und Shay befreit haben. Aber ich kann jetzt nicht mehr. Ich nehme jetzt die Zentrallinie und fahre zurück. Ich habe schon genug Zeit hier vergeudet. Kommt jemand mit?«
»Warte mal, Kyra.«
»Nein, Benji. Ich habe genug gewartet.«
»Du willst zurück mit der Schneckenbahn?«
»Genau. Mag ich zwar nicht. Ist aber jetzt schneller als zu Fuß.«
»Kard?«
»Was ist Benji?«
»Vielleicht hat Kyra recht.«
»Was meinst du?«
»Dass wir hier am falschen Ort suchen.«
»Wieso Benji? Alles passt, oder? Die Koordinaten. Die Arena der Drachen. Wir müssen nur richtig suchen.«
»Aber was, wenn wir das mit den Koordinaten falsch gedeutet haben.«
»Wieso? Wenn man die alte Karte liest, sind wir hier genau richtig.«
»Das Rätsel sagte: Zentrum O 3 4. Richtig?«
»Richtig.«
»Genau genommen sind wir hier am Ort O 3 4.«
»Auf was willst du hinaus.«
»Vielleicht ging es gar nicht um die Koordinaten?«
»Um was sonst?«
»Kyra. Welche Linie nimmst du zurück?«
»Die Zentrallinie.«
»Weiß noch einer, wie diese Route der Schneckenbahnlinie auf dem Stadtplan hieß?«
Kard und Madad schauten sich an.
»Zentrum?«
»Genau.« Benji nickte. »Die Bezeichnung in der Legende des Plans für diese Schneckenbahnlinie war Zentrum. Und es gibt auch eine Haltestelle, die so heißt. Nicht wahr, Kyra?«
Kyra nickte. »Zentrum. Das ist der Zentrale Platz. Ist doch klar.«
»Ist doch klar, ist doch klar. Du bist lustig. Nichts ist klar.« Kard war sich sicher, dass sie hier richtig waren. Oder irrte er sich?
»Im Rätsel hieß es ›Alte-Stadt-Karte-Davischi-Zentrum-O-drei-vier‹. Wir haben auf der Karte nur nach den Koordinaten O-drei-vier geschaut, das Wort Zentrum haben wir gar nicht beachtet! Vielleicht sind es doch keine Koordinaten. Oder irgendwie schon. Aber Zentrum muss auch eine Bedeutung haben. Und auf dem Plan gibt es die Schneckenbahn. Und es gibt die Linie Zentrum. Das könnte unsere Spur sein.«
Kard, der den Ausführungen Benjis mit großem Interesse gefolgt war, war noch nicht ganz überzeugt. »Gut, Benji. Du hast recht, das könnte eine Erklärung sein. Aber genauso gut könnte das hier der richtige Ort sein.«
»Kacke, aber hier ist nichts. Auch wenn ich nur eine kleine Luft-Magierin bin, kann ich hier nichts spüren. Gut, es gibt hier diese ganze Drachen-Aura. Aber Magie kann ich hier keine spüren. Und sollte es nicht ein wenig magisch sein, wenn es um Branu und Goiba geht?«
»Yo, Kard, Zaza hat recht. Kann ja nicht schaden, wenn wir mal zum Zentralen Platz gehen. Die Arena der Drachen läuft uns ja nicht weg.«
»Aber wenn wir nichts finden, kommen wir hier wieder zurück.«
»Machen wir«, bestätigte Benji.
Ich spüre hier etwas. Etwas, was die anderen offensichtlich nicht spüren. Aber ich weiß im Moment auch nicht weiter.
Benji bot Kard die offene Hand an. Er schlug ein und die anderen klatschten ebenfalls ab.
»Also? Wo ist der nächste Eingang zur Schneckenbahn?« Kard war nun überzeugt.
»Gleich dort hinten. Ich steige dann mit euch aus. Aber ich gehe dann zum Verwaltungsgebäude.«
»Gut, Kyra. Aber jetzt gehen wir erst einmal zusammen.«
*
Als Gsaxt die dunkle Gestalt unter dem Türsturz des Knochenbruchs sah, glaubte er zunächst, dass die Wachen ihm mal wieder einen Besuch abstatteten. Zur Sicherheit ging er hinter den Tresen und griff sich ein Schlagholz, das er seit der Verhaftung seines Bruders dort immer bereithielt. Als der Torak, der ohne anzuklopfen die Tür aufgestoßen hatte, mit einem Menschen den Schankraum betrat, war sich Gsaxt sicher, das nun seine Stunde geschlagen hatte. Aber wenn sie nur zu zweit gekommen waren, dann würden sie hier keine Freude haben. Denn er war nicht allein.
Die Gestalt schob sich durch die Lichtstrahlen, die durch die geschlossenen Fensterläden hineinsickerten. Gsaxt konnte keine Waffen erkennen. Keine Armbrust, keinen Schlagstock. Das machte ihn noch misstrauischer. Vielleicht waren es Schergen, die ihn unter Druck setzen wollten, den Knochenbruch endlich zu verkaufen. Oder eher gesagt zu verschenken. Denn sie wollten ihm weismachen, dass er die Kneipe sowieso nicht mehr lange halten könne, wenn er weiterhin gepanschtes Schoff ausschenkte. Die Schergen hatten insoweit recht, als er kaum noch Menschen unter seinen Gästen zählte. Das war früher anders gewesen. Aber die Gäste, die ihm treu geblieben waren, Toraks wie Menschen, beschwerten sich nicht über verdünnte Getränke. Eher darüber, dass es schon am frühen Abend nur noch Wasser gab. Denn viele der Winx-Bauern weigerten sich inzwischen, Torak-Kneipen zu beliefern. Zu ihrem eigenen Nachteil. Niemand konnte so viel Winx in sich hineinschütten, wie ein durstiger Torak.
Erst als Gsark direkt vor ihm stand, erkannte er seinen Bruder.
»Da staunst du, Kleiner, was?«
Sie fielen sich um den Hals. Beiden liefen die Tränen über die Wangen, aber keiner sagte etwas. Ein Torak wird doch nicht weinen. Und wenn doch, hat es keiner gesehen.
Dann klopften sie sich stumm auf die Schultern. Immer noch war kein weiteres Wort gefallen. Eine Zungenbewegung hätte sonst einen weiteren Tränenschwall ausgelöst. Gsark fasste sich als erster.
»Und das ist mein Freund Klaus.«
Gsaxt konnte Ohren und Augen nicht trauen. Da kam sein Bruder putzmunter durch die Tür geschritten und stellte einen Menschen als seinen Freund vor. War die Welt denn verrückt geworden?
»Dein Freund?«, musste Gsaxt ungläubig nachfragen. Sein Bruder nickte.
»Torak, Mensch, Ichto, Wahter. Alle gleich. Wir sind alle gleich.«
Gsaxt konnte es immer noch nicht glauben.
»Wir waren zusammen in den Schwefelminen, Bruder. Und ich sage dir, wenn du mit jemandem zusammen diese Hölle überlebt hast, wird dir erst einmal klar, was Freundschaft bedeutet.«
»Schwefelmine?« Der schlimmste Ort in ganz Haragor? Und von dort war sein Bruder entkommen? Denn es musste ihm die Flucht geglückt sein. Niemand war bisher aus der Sklaverei entlassen worden und war von dort lebend zurückgekehrt.
»Der Befreier hat uns gerettet«, machte sich jetzt Klaus bemerkbar.
Der Befreier? Wer oder was sollte das denn sein? Gsaxt verstand gar nichts mehr. Und sein Bruder nickte dazu nur zustimmend? Sein Bruder, der immer mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen gestanden hatte, auch wenn er früher dazu gerne einen lockere Zunge und eine schwingende Keule in der Hand gehabt hatte?
»Und das Beste ist, Gsaxt, dass du unseren Befreier sogar kennst. Es ist Kard. Du weißt schon. Der Junge, den Wallas mit dem Minas-Schwert losgeschickt hat. Das Schwert hat er zwar nicht mehr. Aber das braucht er auch gar nicht.«
Und dann erzählte Gsark von der Befreiungsaktion. Davon, dass Branu ihnen zuvor ein Zeichen gegeben hatte. Und dass der Junge dann über zwanzig Wachen im Alleingang besiegt hatte. Mit Hilfe Branus. Und des Feuers.
Klaus demonstrierte noch einmal, was sein Freund meinte, indem er die Geräusche von Explosionen imitierte, begleitet von ausholenden Armbewegungen, die den Widerschein der Feuerkugeln darstellen sollten. Der Torak bekam langsam eine Idee davon, wieso man Kard nun als Befreier vergötterte.
»Und, Bruder, wie ist es dir ergangen. Haben die Wachen wenigstens dich in Ruhe gelassen?«
Gsaxt nicht bedächtig. »Ich war nicht ganz untätig. Die Druckerpresse läuft auf Hochtouren. Aber inzwischen habe auch ich etwas umgedacht, lieber Bruder. Ich weiß nicht, ob du unseren Gast schon bemerkt hast. Darf ich vorstellen. Achilla.«
Aus einem Schatten löste sich eine Gestalt und trat einen Schritt auf sie zu. Eine Amazone. Aber das alleine war es nicht, was Gsark den Atem raubte. Es war auch nicht die enge Lederkluft, die wie eine zweite Haut um die Figur der Frau lag. Und es waren auch nicht die Tätowierungen auf den Oberarmen. Was ihm den Atem nahm, war das große scharfe Schwert, dass die Amazone in der Hand hielt.
*
Madad war grün angelaufen. Die Schneckenschleimausdünstungen machten ihm ganz schön zu schaffen. Aber er hatte den Kopf in den Pfoten verborgen und versuchte sich so, an die Situation zu gewöhnen.
Kard war hin- und hergerissen. Einerseits fühlte er, dass er seinem Ziel nahe war und er wollte so schnell wie möglich Gewissheit haben. Andererseits gab es Kendra. Was war, wenn Kyras Schwester tatsächlich in Gefahr war? Während sie im Rennschneckentempo durch die Tunnel der Alten Stadt düsten, zermarterte er sich das Gehirn, wie sie nun vorgehen sollten.
»Gut, Kyra. Wir machen es so. Wenn wir am Zentralen Platz ankommen, dann überprüfen wir, ob wir etwas mit diesen Koordinaten anfangen können. Und dann kümmern wir uns um deine Schwester, einverstanden?«
»Das ist nett von dir. Von euch. Aber es darf nicht zu lange dauern.« Kyras Gesichtszüge, die erst störrisch und ablehnend gewesen waren, wurden plötzlich viel weicher. »Ich habe einfach Angst, Kard. Kendra ist noch so klein und wer weiß, in welchen Schwierigkeiten sie gerade steckt.«
»Das verstehe ich, Kyra. Aber sieh auch mal meine Seite. Seit Wochen versuche ich nun dieses Rätsel zu lösen. Vielleicht werde ich dadurch erfahren, wer meine Eltern waren. Andererseits läuft mir die Lösung auch nicht weg. Aber wenn wir jetzt schonmal am Zentralen Platz sind, möchte ich gerne überprüfen, ob wir mit unserer Vermutung richtig liegen.«
Kyra nickte und nahm Kards Hand. »Danke.«
Kard drückte ihre Hand. Das fühlte sich gut an. Ihre Hand in seiner.
An der Haltestelle ›Zentraler Platz‹ kreuzten sich die Nord-Ost- und die West-Südlinie der Schneckenuntergrundbahn. In der riesigen Höhle liefen vier Spuren parallel, die Bahnsteige waren durch Treppen und Tunnel verbunden, überall waren Glühwürmchen aufgehängt, deren leuchtende Hinterleiber den Ort in flackerndes Licht tauchten. Ein Unmenge an Wesen rannte hier wild durcheinander. Kard wunderte sich, dass sie sich hier nicht alle über den Haufen liefen. Und es stank fürchterlich, Madad tat ihm wirklich leid.
Der Sage nach war das auch der Ort, an dem das viele Gold gefunden worden war, das den Beginn der Dynastie der Drachenkrieger begründet hatte. Eine andere Geschichte erzählte, dass der Ursprung des Goldes keine natürliche Goldader war, die das Wasser im Laufe von Jahrtausenden ausgewaschen hatte, sondern dass dies der Schatz eines Drachen gewesen sein sollte. Kard stellte sich vor, wie eines der riesigen Schuppentiere auf einem Berg voller glitzernder Metalle lag. Der Ort, an dem er sich gerade befand, würde gut zu diesem Märchen passen. Nur, dachte Kard weiter, wo wollte denn dieser sagenhafte Drachen das ganze Gold herbekommen haben? Bekanntermaßen rauben die Schuppentiere die Reichtümer anderer Königreiche. Aber welche Königreiche sollten das gewesen sein? Die Drachenkönige hatten das Reich doch erst gegründet? Oder gibt es noch etwas jenseits von Haragor? Aber ist das nicht das Reich der Götter?
»Pass doch auf, du Hinterwäldler.«
Gedankenverloren hatte Kard seinen Blick in dieser riesigen Höhle umherwandern lassen und wäre beinahe mit einem eiligen Passanten kollidiert.
Die Freunde standen auf dem Bahnsteig und blickten sich nun nach allen Richtungen um. Benji zeigte auf den westlichen Ausgang.
»Müssen wir da raus?« Zaza war Benjis Fingerzeig mit dem Blick gefolgt.
»Nein, Zaza. Schau mal, welches Zeichen da über dem Eingang ist. Oder genauer gesagt, welcher Buchstabe.«
»Ein W.«
»W wie Westen. Und es gibt noch den Nord-, den Süd- und den Ostausgang.«
Kard begriff. Über dem Osteingang prangte das O.
»Du meinst, das sind die Koordinaten aus dem Rätsel?«
»Könnte sein, oder? Es fragt sich jetzt nur, was wir mit den Zahlen anfangen.«
»Yo, ich sehe keine Zahlen.«
»Kacke, ich auch nicht.«
Die Kinder versammelten sich um den Osteingang. Eine Treppe führte hier hoch zum Zentralen Platz. Auf den ersten Blick konnten sie hier keine weiteren Hinweise entdecken. Schon wieder eine Sackgasse? Was sollten wir jetzt machen? Weitersuchen? Oder es später noch einmal probieren?
»Gut, Kyra. Dann erstmal Kendra.«
Die anderen nickten. Die Lösung des Rätsels musste warten.
»Und, Kyra, hast du einen Plan?«
Das Mädchen nickte.
»Einer von euch liefert mich bei den Wachen am Tor ab.«
Kard glaubte, sich verhört zu haben.
Ist sie jetzt völlig verrückt geworden?
»Spinnst du, Kyra? Was soll das bewirken?«
»Ich bin eine Beschlagnahmung. Ein Straßenkind. Wie meine Geschwister. Wenn ich drin bin, wird mir schon etwas einfallen.«
»Wird dir schon etwas einfallen? Das ist dein ganzer Plan? Das gefällt mir nicht, Kacke?« Die Torak sah das Menschenmädchen entsetzt an. Wie konnte man sich freiwillig in die Hände der Wachen begeben?
»Yo, was haltet ihr davon, wenn nicht irgendeiner Kyra am Tor abliefert, sondern eine Wache?«
»Bist du jetzt total übergeschnappt, Madad?«
»Mama sagt immer, der Schein trügt.«
»Was soll das jetzt schon wieder heißen?«
»Die Wache ist gar keine Wache. Sondern einer von uns.«
»Du vielleicht, Madad? Die Cu-Wache?«