Читать книгу: «Der Junge mit dem Feueramulett: Die Höhle der Drachen», страница 2

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»Aber jetzt gehen wir erstmal los und suchen Kyra, oder Kard?«

Kard stimmte Madad zu. Und bekam dabei ein flaues Gefühl in der Magengegend. Was ist los mit mir? Es ist nur ein Mädchen. Eine alte Freundin.

Madad grinste ihn an.

»Was?«

»Kard ist verliebt. Kard ist verliebt.«

»Halt die Schnauze, du dummer Cu. Bin ich nicht. Ich weiß nicht, wieso du auf diese Idee kommst.«

»Ach, Kacke. Die Liebe. Damit kannst du mich auch jagen. Die Welt ist schon kompliziert genug, da kann man so etwas nicht auch noch gebrauchen, oder?«

»Aber die kleine Zaza fand den großen Gsark doch ganz nett, oder?«

»Madad! Was bildest du dir eigentlich ein? Und was bitte geht dich das an?«

»Nichts. Geht mich nichts an. Habe halt nur so eine feine Nase. Die beste Spürnase von Haragor. Falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte. Und ihr Menschen duftet einfach anders, wenn ihr verliebt seid.«

»Ja, Madad hat recht. Das habe ich auch gelesen. Streng genommen geht es dabei aber nicht um die Liebe. Sondern um sexuelle Botenstoffe.«

Kard und Zaza schauten sich entsetzt an.

»Kacke, er hat das S-Wort benutzt.«

»Ja, Zaza. Du bist auch kein kleines Mädchen mehr, oder? Man kann das alles sehr wissenschaftlich betrachten. Auch Bienen und Blumen verströmen solche Lockstoffe.«

»Lockstoffe? Bienen? Blumen? Sag mal, Benji, kann es sein, dass du zu viele Bücher gelesen hast?«

»Um was geht es hier? Ich will auch mitreden.«

»Es geht um die Liebe, Glast. Zwischen Männchen und Weibchen.«

»Wieso nur zwischen Männchen und Weibchen? Gibt es doch auch zwischen Männchen und Männchen und Weibchen und Weibchen.«

»Da hat Glast natürlich recht. Bist du dann vielleicht das erste Torak-Männchen, das sich in ein anderes Torak-Männchen verliebt hat?«

»Ach, Madad, was du schon wieder denkst.«

Aber Glast war puterrot angelaufen und hatte auf dem Absatz kehrt gemacht, um seiner Tante in der Küche zu helfen.

*

Tsarr hasste es zu reisen. Aber alle paar Jahre stieg sie in ihre schwarze Kutsche und durchpflügte ganz Haragor, um ihre Großnichten und sonstigen Verwandten, die über das Land verteilt in den Tempeln Goibas ihren Dienst verrichteten, daran zu erinnern, wer die Chefin war. Ab und zu schaffte sie es sogar bis Amazonien oder gar Ichtien, damit man auch dort nicht vergaß, wer die Zügel in der Hand hielt. Die Alte Stadt vermied sie wenn möglich und überließ es lieber Flanakan selbst, diesem chaotischen Haufen ab und zu zu zeigen, dass jeder Spaß seine Grenzen hatte.

Flanakan hatte allerdings keinerlei Verwunderung gezeigt, als sie von ihrem Vorhaben, in die Alte Stadt zu reisen, um den Umtrieben dort vor Ort selbst Einhalt zu gebieten, berichtet hatte. Obwohl er von ihrer Abneigung gegen das Reisen im Allgemeinen und gegen Reisen in die Alte Stadt im Besonderen wusste und obwohl ihre letzte Reichsinspektion erst im Jahr davor stattgefunden hatte. Jetzt kannten sie sich schon so lange, über einhundert Jahre, und trotzdem wurde sie aus diesem Bastard noch immer nicht schlau. Ihre Allianz war eine Zweckgemeinschaft und nicht auf Liebe gegründet. Liebe, bei Goiba. Wenn sie dieses Wort schon hörte, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Die Liebe war der Anfang allen Übels. Man bekam wirre Gedanken, fühlte sich in dem einen Augenblick im siebten Himmel und im nächsten todunglücklich. Kurz gesagt, man verlor die Kontrolle. Und das war das letzte, was Tsarr wollte.

Mit Verbitterung kam ihr das graue Haar wieder in den Sinn. Wer bitte schön wagte es, ihr hier die Kontrolle zu entziehen? Der Tod mochte seine Berechtigung haben. Für alle Wesen Haragors. Aber nicht für sie. Tsarr, Oberste Priesterin von Goiba, Göttin des Todes.

Zum Glück hatte sie noch eine Jungfrau gefunden, die sie Goiba opfern konnte. Und die ihr dabei das Elixier der Jugend schenkte. Diese störrischen Eltern. Heutzutage wurde es immer schwerer, Eltern zu finden, die ihren Sprössling voll Freude der Göttin darboten. Was heißt schwer? Schwer ist gar kein Ausdruck. Unmöglich. Wenn man nicht mit ein paar Argits nachhalf. Was war nur aus dieser Welt geworden?

Sie hatte einen Telegrammfalken vorausgeschickt. Die Oberste Verwaltung sollte bis zur ihrer Ankunft gefälligst einige Jungfrauen eingekerkert haben. Sie würde das frische Blut brauchen. Goiba würde es brauchen. Goiba bekam nie genug, sie war eine unersättliche Göttin.

Und diesen unfähigen Vampyr würde sie natürlich auch ganz schön zusammenstauchen! Nicht an Fledermäuse zu denken. Nun ja, er würde ihr noch nützlich sein können da oben. Einer musste ja die Drecksarbeit machen. Sie würde sich dort schön im Goiba-Tempel einrichten und die Opfer annehmen, die ihr das Volk, zu Ehren Goibas natürlich, darbieten würde. Wie hieß die Oberste Goiba-Priesterin der Alten Stadt nochmal? Matharadan? Keine Verwandte. Deswegen konnte sich Tsarr auch nicht gleich an sie erinnern. So eine Verrückte, die als Kind lange im Dunklen Wald gelebt hatte, vollkommen alleine. Am Branubrabat hatten sie Jäger damals in einer Höhle gefunden. Umringt von Ratten, die das Kind aus unerfindlichen Gründen nicht aufgefressen hatten. Also war sie eindeutig eine von Goiba Gesegnete. Tsarr erinnerte sich an ein Treffen mit der Matharadan vor einigen Jahren. Ihren Versuch, in ihre Gedanken einzudringen, hatte sie mühelos abgewehrt. Und als Gova des Waldes verstand sie sogar etwas von der Magie des Lebens. Dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Diese Frau könnte eine mächtige Verbündete bei ihren Plänen werden. Danach konnte man sie ja in die Wüste schicken. Tsarr musste innerlich lächeln. Jemanden in die Große Wüste zu verbannen, war eine schöne Idee. Für die Priesterinnen von Tod und Kälte waren diese trockenen und heißen Weiten eine grausame Marter. Mal sehen. Erst einmal musste sie in die Alte Stadt. Und diesen verdammten Jungen finden.

*

»So, auf geht’s. Wir schauen mal zum Viadukt, was meinst du, Kard?«

»Kennst du den Weg noch?«

»Klar doch. Bin ich hier der beste Fährtenleser oder was?«

»Wohin wollt ihr?« Zaza war neugierig geworden.

»Eine alte Freundin besuchen. Sie lebt auf der Straße.«

»Oh, bei Branu, die Arme. Bei dieser Kälte.« Glast war wirklich besorgt.

»Kann ich mitkommen? Die Alte Stadt nachts, das ist bestimmt aufregend.«

»Klar, Zaza kann mitkommen, oder Kard? Aber heute wird nicht mehr gezockt.«

»Gezockt?« Zaza war etwas überfordert.

»Ja, Zaza. Zocken. Wir sind hier in der Alten Stadt. Da dreht sich alles ums Glücksspiel. Großes Casino und so.«

»Hier, ich habe euch ein paar dicke Jacken besorgt. Für Kard und Benji ein paar Kindersachen. Die sollten für euch die richtige Größe haben. Ist das nicht süß?«

Tante Berta ist wirklich ein Schatz. Warme Kleidung war angesichts der Temperaturen dort draußen eine gute Idee. Lieber in Torakkinderklamotten herumlaufen, als mit dunkelblau gefrorenen Gliedmaßen im Graben zu liegen.

»Erstmal zum Zentralen Platz, Leute. Von dort finde ich den Weg.«

»Kann ich euch zeigen, ist gar nicht weit von hier.«

Auch für Glast hatte Tante Berta eine dicke Winterjacke hervorgezaubert und Zaza ging ebenfalls nicht leer aus.

»Sieht man zwar meine Tattoos nicht mehr, aber besser als erfrieren, Kacke.«

Der Zentrale Platz lag leer und verlassen da. Auf den Altären der göttlichen Geschwister lagen noch die Opfergaben des Tages. Es gab tiefgefrorenes Gemüse und steife Katze. Vor ihren Mündern bildeten sich Atemwolken, die im Licht der Glühwürmchen gut sichtbar waren. Es war kalt und feucht und das Echo ihrer Schritte wurde von den Häusern und Tempeln, die den Platz umgaben, zurückgeworfen. Kard fühlte sich von den Altären umzingelt, die ihm wie Grabsteine vorkamen, die jeden Moment über ihm zusammen brechen konnten. Er war froh, dass Madad sofort wusste, welche Richtung sie einschlagen mussten.

»Hier lang, Leute.«

Sie folgten dem Cu, der zielsicher zwischen den eng stehenden Häusern entlanglief. Als ihnen eine Patrouille entgegenkamen, sprangen sie schnell in den Schatten einer engen Gasse. Man ging der Willkür der Wachen besser aus dem Weg. Ein Torak und ein Mensch waren offensichtlich nicht so schlau gewesen. Zusammengekettet stolperten sie den Uniformierten hinterher, angetrieben von der Peitsche eines Schwarzgekleideten, der das Leder immer wieder auf das Pflaster der Gasse klatschte. Das Geräusch alleine ließ einen sofort ein wenig schneller gehen.

Schließlich kamen sie zu dem Viadukt, in dem sie damals Kyra und ihre Geschwister kennengelernt hatten. Aber es war niemand zu sehen. Kein Feuer brannte, keine hellen Kinderstimmen waren zu hören. Nur ein dunkles Bündel, das an die Wand des Tunnels gelehnt lag, war zu erkennen. Kard bückte sich, ging ein paar Schritte hinein und rüttelte daran. Aber es waren nur einige Decken. Kard wollte gerade zurückgehen, als sich ein Schatten von der Wand löste und ihm ein Messer an die Kehle setzte.

»Raus hier, das ist mein Revier.«

Kard erstarrte. Das Messer schnitt in seine Haut, noch ein wenig mehr Druck und es würde anfangen zu bluten.

»Kyra?«

Der Druck des Messers ließ etwas nach.

»Wer bist du?«

»Ich bin es. Kard.«

Der Schatten musste wohl erst etwas nachdenken, denn die scharfe Schneide drückte im unverändert den Kehlkopf zur Seite. Kard ließ eine kleine Feuerkugel entstehen, die das Viadukt dann in ein gelbliches, flackerndes Licht tauchte. Der Schatten sprang darauf hin zurück ins Dunkle.

»Kard? Der Junge mit dem Schwert?«

Es war Kyra. Kard erkannte jetzt ihre Stimme.

»Genau, dieser komische Junge mit dem komischen Schwert.«

Plötzlich hatte Kard zwei Arme um den Hals und er spürte, wie sich ein Körper gegen den seinen drängte. Aber es war kein Angriff, wie Kard im ersten Moment vermutet hatte. Und wenn doch, war es ein sehr schöner Angriff. Kard wurde umarmt.

»Hey, ich habe doch gesagt, dass ich wieder vorbeigucke, wenn ich in der Gegend bin.«

Kard hörte Kyra schluchzen. Was war aus dem frechen und stolzen Mädchen geworden, an das er sich erinnerte? Da stimmt etwas nicht. Einen kurzen Augenblick klammerte sich Kyra noch an ihn, dann lösten sich ihre Arme.

»Tschuldigung.«

»Kein Ding.«

Kard war etwas verlegen. Was soll ich denn jetzt sagen? Die Umarmung hatte irgendetwas in ihm ausgelöst, er wusste nur nicht genau was. Im flackernden Licht der Feuerkugel konnte er erkennen, dass Kyra dreckig und abgemagert war. Und trotzdem ist sie ziemlich hübsch. War ihm das eigentlich schon früher aufgefallen?

»Was ist los, Kyra?«

»Sie haben Kendra, Kian und Shay.«

»Sie? Die Wachen?«

Kyra nickte, schaute dabei zu Boden. Biss sich auf die Lippen. Versuchte, neue Tränen zu unterdrücken.

»Yo, ist das unsere Kyra? Ja, ist das denn unsere Kyra?« Madad hatte sich herangeschlichen und stand nun schwanzwedelnd vor dem Mädchen.

»Ach, da ist ja auch der Puschel. Und er kann immer noch sprechen.« Kyra beugte sich hinunter und umarmte Madad. Der wurde zu einer professionellen Teppichklopfmaschine, so schnell ging sein Schwanz hin und her.

»Hey, Leute. Sie ist da. Das ist Kyra.«

»Hallo Kyra. Hallo Kyra.« Dumpf hallten die Stimmen von Zaza und Glast in den feuchten Unterstand. Die wuchtigen Toraks waren lieber draußen geblieben.

»Leute, dann können wir ja zurück. Ich bin schon ganz durchgefroren. Und ich will nicht der erste Torak sein, der in diesem Winter erfriert.«

Kyra schaute Kard fragend an.

»Komm mit, Kyra. Das da hinten ist mein Freund Glast. Wir wohnen bei seiner Tante und seinem Onkel. Supernette Toraks.«

Kyra schüttelte den Kopf.

»Dann gibt es erstmal eine warme Suppe. Und dann erzählst du uns alles, einverstanden?«

Sie sieht aus wie ein verängstigtes Tier, das man aus seinem Bau lockt. Und auch wenn der Bau kalt und feucht ist, ist es besser, als draußen gefressen zu werden.

»Hey Kyra, wir sind bei dir. Madad und ich. Und zwei echt starke Toraks.«

Schließlich schien Kyra sich ein Herz gefasst zu haben. Sie nickte und folgte Kard hinaus auf die Straße.

Kaum hatten sie das schützende Dunkel des Viadukts verlassen, wurde Kyra wieder zu dem wachsamen Straßenkind, das Kard kannte.

»Wohin müssen wir?«

»Scherbenbruchgasse.«

»Alles klar. Mir nach.«

Und schon hatte Kyra die Führung übernommen. Statt die normalen Wege zu gehen, bewegten sie sich nun durch enge Seitengassen und offene Abwasserkanäle. Der Vorteil war, dass man keinen Wachen begegnete. Der Nachteil war, dass man als Torak irgendwo steckenblieb.

»Kann mal einer von hinten drücken?«

Kard drehte sich um. An einer Stelle, an der sich die Ecken zweier Häuser beinahe berührten, klemmte Glast zwischen den Steinen und blickte ihn hilflos an.

»Oh, daran habe ich nicht gedacht. Ist ein bisschen eng hier für Toraks.« Kyra verzog entschuldigend die Mundwinkel.

»Haben wir gleich.«

Kard konnte hören, wie etwas Schweres sich erst von ihnen entfernte und dann wieder schnell auf sie zukam. Es gab das dumpfe Geräusch eines Aufpralls und dann wurde Glast von den Hauswänden wieder ausgespuckt. In dem Spalt sah man nun Zaza mit triumphierenden Lächeln.

»Kacke, ich ziehe dann wohl mal lieber den Bauch ein.« Zaza drehte sich zur Seite und schob sich unter ziemlichen Schnaufen durch die Engstelle.

»Tschuldigung, Leute. Normalerweise bin ich immer die Größte. Kommt nicht wieder vor, versprochen.«

»Das sind bestimmt Wege, die in keinen Stadtplan verzeichnet sind.«

»Das ist übrigens Benji.«

»Hallo Benji, ich bin Kyra.«

»Ist sehr kalt, frierst du nicht? Wahrscheinlich wird es einer der kältesten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen unter Flanakan.«

Benji ist aber gerade sehr besorgt.

»Wem sagt ihr das?« Kyra hatte die Arme um sich geschlungen, um sich etwas zu wärmen.

Kard sah auf das dünn bekleidete Mädchen. Sie hatte zwar Hemd und Hose, aber die Jacke, die sie anhatte, sah ziemlich dünn aus.

»Alle da? Dann geht es weiter.« Kyra lief voran und die Wege wurden jetzt etwas breiter, so dass auch ein Torak durchkam, wenigstens wenn er ab und zu den Bauch einzog. Kard hatte zwar bald die Orientierung verloren, aber er vertraute Kyra, dass sie sie sicher zurück zu den Gsappas führen würde.

»Bei Branu. Noch so ein abgemagertes Ding. Hinsetzen. Ich hole die Suppe.«

Tante Berta war wirklich wunderbar. Die Menschen kletterten auf die Stühle und schon bald hatte Kyra einen dampfenden Teller vor sich stehen. Sie begann mit einer Schnelligkeit die Flüssigkeit in sich hineinzulöffeln, als wollte sie einen Wettbewerb gewinnen.

»Langsam, Kindchen, du verbrennst dich noch. Ist genug da. Keine Hektik. Wirst hier schon nicht verhungern.« Tante Berta schaute das abgemagerte Kind an ihrem Tisch mit großen Augen an.

›Nicht verhungern‹ schien ein gutes Stichwort zu sein. Kyra hob den Kopf und sah Tante Berta mit fragenden Augen an. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar zu werden schien, dass sie hier niemand fortjagen würde. Die Löffelbewegungen wurden langsamer.

Nach dem zweiten Teller war Kyra so weit, dass sie erzählen konnte, was passiert war. Ihr Wangen leuchteten zwar und man sah ihr an, wie gut ihr die warme Mahlzeit getan hatte, aber in ihren Augen spiegelte sich Angst und Hoffnungslosigkeit. Erst vor wenigen Tagen waren sie und ihre Geschwister beim ›Einklauen‹ erwischt worden. Sie hatten sich an den Geldbörsen derjenigen bedient, die vor den Wechselstuben vor dem Großen Casino standen, um sich für den Abend im Paradies des Glücksspiels herauszuputzen. Verraten hatte sie ein Scherge, der sich ebenfalls als Straßenkind ausgegeben hatte und der mit ihnen zusammen auf Beutezug gewesen war. Plötzlich waren sie umzingelt gewesen. Sieben menschliche Wachen. Jung und beweglich. Frische Rekruten aus Conchar. Sie hatte entkommen können, aber Kendra, Kian und Shay hatten die Wachen mit sich genommen.

»Oh, das ist schrecklich. Die Armen. Das ist eine echte Tragödie.«

Kyra sah Glast an und nickte langsam.

Kard war wütend. Wieso verhaften die Wachen jetzt schon Kinder? Nicht allein, weil es sich um Kendra, Kian und Shay handelte. Also Freunden. Sondern auch, weil er sich über die Ungerechtigkeit aufregte. Im Großen Casino wurden die Leute so richtig ausgeraubt. Aber das war für die Oberste Verwaltung kein Problem. Schließlich verdiente sie mit daran. Und auch die Wachen würden ihren Anteil bekommen, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt in die falsche Richtung sahen. Aber kleine Kinder, die beim Stehlen erwischt wurden, behandelte man wie Schwerverbrecher. In dieser Welt ist einiges aus dem Gleichgewicht.

»Ich weiß noch nicht einmal, wo man sie hingebracht hat.« Kyras Stimme klang verzweifelt.

»So viele Möglichkeiten gibt es da nicht.«

»Wieso? Was meinst du damit?«

Kyra sah Benji in einer Mischung aus Zweifel und Hoffnung an.

»Yo, der Benji ist ein ganz Schlauer. Der hat so viele Bücher gelesen, da würde mir der Kopf platzen.«

Das Straßenkind musste lächeln. Ein Cu mit geplatzten Kopf, das war ja witzig.

»Wie meinst du das, Benji?«

Auch Kard war neugierig geworden.

»Laut Verwaltungsverordnung werden Kinder nicht hingerichtet oder in den Kerker geworfen.«

Kyra schaute Benji fragend an.

»Normale Kinder kann man freikaufen. Normale Kinder, die Eltern haben.«

»Meine Eltern sind froh, dass sie uns los sind. Die würden uns gegen ein Fass Winx eintauschen.«

»Den Fall gibt es natürlich auch. Waisen, Straßenkinder, Obdachlose. Da übernimmt dann die Oberste Verwaltung die Vormundschaft.«

»Vormundschaft? Was soll das sein? Ein Sportverein? Wie Grasball-Mannschaft? Kann man sich da bewerben?«

»Nein, Glast. Vormundschaft bedeutete, dass die über dich bestimmen können.«

»Oh, wie bei Sklaven?«

»Genau, wie bei Sklaven. Und dann sind wir auch schon bei meiner Vermutung, was mit deinen Geschwistern wahrscheinlich geschehen ist.« Benji schaute Kyra vielsagend an, die ihn ungläubig anstarrte.

Benji kann wirklich beeindruckend sein, wenn er mit seinem ganzen Bücherwissen angibt.

»Sklaven? Meinen Geschwister? Das sind Kinder. Was wollten die mit Kinder-Sklaven?«

»Die Staatliche Minengesellschaft kann immer ein paar Kindersklaven gebrauchen. Geschickte kleine Hände, da wird sich schon eine Verwendung finden.«

»Oder sie landen bei den Wettbüros.« Gsappa hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt und die letzten Worte Benjis mitbekommen. Die Freunde sahen den Torak fragend an.

Kinder? Wettbüros? Kard verstand nicht, auf was Gsappa hinauswollte.

»Keine schöne Sache. Aber wir sind hier in der Alten Stadt. Hier dreht sich alles um das Glücksspiel.«

»Ach, du wieder. Mach den Kindern doch nicht so eine Angst.« Tante Berta hatte sich neben ihren Mann gestellt und sah ihn nun vorwurfsvoll an.

»Ist aber so. Die nehmen Kinder für Wettkämpfe.«

Tante Berta rollte mit den Augen, als habe Gsappa von Gespenstern erzählt.

»Das bringt der Obersten Verwaltung nämlich mehr ein, als wenn man sie nur zur Minengesellschaft gibt.«

»Das bringt mehr ein…?« Glast wollte den Worten seines Onkels nicht glauben.

»Ja, das ist leider so. Die werden von der Verwaltung verkauft. Und landen dann bei den Buchmachern, die die Wetten organisieren.«

»Und was sind das so für Wetten?« Kard ahnte schon, dass die Antwort nicht besonders erfreulich sein würde.

»Meist so Kämpfe.« Gsappa schaute zu Boden, als ob er sich für das Vorgehen der Verwaltung schämen würde.

»So Kämpfe?«

Gsappa schien nach Worten zu suchen. Er knetete die Hände, setzte mehrfach an, um etwas zu sagen, aber so richtig kamen ihm die Worte nicht über die Lippen.

»Jetzt sag schon, Onkel Gsappa. Wir sind keine kleinen Kinder mehr.«

»Na ja. Gegen Hunde und so.«

»Gegen Hunde?« Kard erinnerte sich an das Aquarium mit den Kampffischen im Großen Casino. Und an die geifernden Ichtos, die sich am Blut berauscht hatten. »Um Leben oder Tod?«

Gsappa sagte nichts. Er nickte nur.

»Aber manche werden auch in die Minen geschickt, oder? Die sind doch viel zu klein. Kli und Kla werden bald zehn. Die lassen doch keine Zehnjährige gegen Hunde kämpfen?Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Unser Gast hat bestimmt recht. Gsappa, du und deine Schauermärchen. Ich habe auch schon von Kindern gehört, die dann zu kinderlosen Familien gekommen sind. Also, nicht gleich das Schlimmste denken.«

Kyras Gesicht hellte sich angesichts dieser Aussicht gleich auf. »Und kommen viele Kinder zu solchen Familien.«

»Nun ja…« Tante Berta sah Kyra mit so einem Gesicht an, dass man glaubte, sie wolle gleich alle hier umarmen. »Nicht viele, Kyra, so weit ich weiß. Aber schon einige. Also nicht nur ein paar. Sind schon einige, die zu solche Familien kommen.«

Kard nickte heftig. Genau, solche Familien gibt es. Davon hatte man im Waisenhaus damals auch viel gehört. Die berühmte kinderliebende Familie. Er selbst hatte allerdings nie erlebt, dass so etwas passiert war. Dass man als Waise eine neues Heim gefunden hatte. Wenigstens nicht, wenn man schon etwas älter war. Also kein Baby mehr. Wenn man noch ein süßes Baby war, dann sah die Welt noch anders aus. Aber sobald man reden und Widerworte geben konnte, war das vorbei. Deswegen hatten sie immer nur stumm genickt, wenn einmal ein solcher Besuch stattfand. Aber von den älteren Kindern wurden dann wiederum nur die Kräftigen mitgenommen. Die man gut zum Arbeiten gebrauchen konnte. Als Knecht bei den Tok-Rinder-Höfen. Oder als Erntehelfer bei den Winx-Bauern. Süß und winzig oder groß und nützlich. Die Geschwister von Kyra waren keins von beiden.

»Wann haben die Wachen sie mitgenommen?« Gsappa schaute das Menschenkind nachdenklich an.

»Vor zwei Tagen.«

»Vor zwei Tagen erst. Dann sind sie wahrscheinlich noch im Verwaltungsgebäude. Bis zum Vollmond dauert es noch eine Weile.«

»Im Verwaltungsgebäude?« Kyra sah Gsappa erwartungsvoll an.

»Ja, ich denke schon. Bei Vollmond werden die Spieler immer ganz verrückt. Goiba und so. Ich denke, wenn ich eine Wache wäre, würde ich die Kinder erst kurz vorher verkaufen. Das bringt mehr Gewinn.«

»Gsappa. Jetzt machst du den Kindern schon wieder Angst.«

»Ist aber so, Berta. Mußt nicht so tun, als du es nicht wüßtest. Wir sind hier in der Alten Stadt. Es ist einfach so. Alles dreht sich um das Spielen.«

Tante Berta wollte noch etwas sagen aber es fiel ihr in diesem Moment wohl keine passende Antwort ein.

»Moment mal, Gsappa. Du sagtest, dass die im Verwaltungsgebäude sind. Also dort, wo auch das Archiv ist?«

Der Torak nickte. Kard schaute in die Runde.

»Also. Wir wollen zum Archiv. Wegen des Stadtplans. Und wenn wir sowieso in das Gebäude müssen…«

»Yo, dann befreien wir Kendra, Kian und Shay.«

Kard nickte. Madad hatte sofort verstanden.

Kyra sah ihn mit offenem Mund an. »Du meinst…?«

Kard nickte. Genau. Sie würden Kyras Geschwister befreien und sich den alten Stadtplan besorgen. Wenn schon, dann richtig.

»Aber wie wollt ihr denn in das Verwaltungsgebäude hineinkommen? Tagsüber stehen Wachen davor und nachts ist es abgeschlossen.«

»Und nachts gibt es natürlich Patrouillen. Man müsste einen Schlüssel haben, um schnell in das Gebäude hineinzukommen. Und das ist unmöglich. Ich bewundere euren Mut und eure Entschlossenheit, aber ich befürchte, das alleine wird nicht ausreichen.«

»Dann klauen wir den Schlüssel, Kacke.«

»Den Obersten Verwalter der Alten Stadt beklauen? Bist du wahnsinnig. Da landest du am Galgen, bevor du bis fünf gezählt hast.«

»Tante Berta hat recht, Kinder. Der einzige, der den magischen Schlüssel hat, ist der Oberste Verwalter. Und der hat immer einige Wachen um sich. Kein Chance.«

»Yo, keine Chance. So etwas kennen wir Cus nicht. Ich stimme Zaza zu, wir klauen das Ding.«

»Und wieso magischer Schlüssel?«

»Ja, Kard. Das ist noch so ein Schloss von Davischi. Kein normales Schloss, kein normaler Schlüssel. Schon die Drachenkönige damals wollten nicht, dass jeder Hanswurst ihre Geheimnisse ausgräbt.«

Kard sah Gsappa an, der entschuldigend mit den Schultern zuckte. »Ich glaube, wir müssen niemanden bestehlen.«

Tsarkoik freute sich, sie zu sehen. Auch wenn Kard glaubte, dass er immer noch einen Groll gegen ihn hegte, da er damals das Minas-Schwert zerstört hatte. Falls es so war, ließ es sich der alte Torak auf jeden Fall nicht anmerken. Er bot ihnen ein Frühstück an, aber Tante Berta hatte sie an diesem Morgen schon gut versorgt. Der Widerstand in der Alten Stadt war nach dem Tod von Laoch und den darauf folgenden Razzien für eine Weile geschwächt gewesen. Aber die Hausdurchsuchungen und die Drohungen der Wachen waren nicht das eigentliche Problem. Schlimmer waren die Anschuldigungen, die man sich danach gegenseitig gemacht hatte. Immer waren die anderen verantwortlich für das Versagen. Erst war natürlich Kard der Schuldige gewesen. Ein Mensch. Dann waren alle Menschen Schuld. Oder die Toraks. Das waren ja auch Winxpanscher. Oder die Wahter. Oder die Ichtos. Oder die Männer. Oder die Frauen. Man hatte das Gefühl, dass ein Schatten über die Alte Stadt gefallen war, der Zwietracht und Streit mit sich gebracht hatte. Jeder gegen jeden. Aber niemand mehr gegen Flanakan. Inzwischen hatten die Wachen mit ihrer Willkür und Brutalität zwar vielen Wesen wieder ins Gedächtnis gerufen, wer der wahre Feind war, aber insgesamt blieb der gesamte Widerstand zerstritten. Die Liebespriesterin Nanda, die damals überraschend die Seiten gewechselt hatte, war inzwischen verschwunden. Ihren Nimbus als Vollstreckerin, die den Obersten Schergen vernichtet hatte, hatte sie Angesichts des Chaos hier vor Ort schnell verloren. Eines Tages war sie fort gewesen. Niemand wusste wohin. Als Kard nach dem Minas-Erz fragte, spürte er den Zweifel bei Tsarkoik.

»Willst du etwa…?«

»Nein, Tsarkoik. Ich möchte kein neues Minas-Schwert schmieden. Jedenfalls nicht heute. Vielleicht später einmal.« Kard hatte damit gerechnet, dass Tsarkoik dies vermuten würde. Denn nach der Erzählung des Toraks war klar, dass der Widerstand eine Führung brauchte, die ihn gegen Flanakan einigte. Aber das war nicht seine Aufgabe. Er war nicht der Junge mit dem Minas-Schwert, der sich dem Herrscher entgegenstellen würde. Er war nur ein Waisenjunge auf der Suche nach seiner Herkunft. Wer weiß, wenn er seine eigenen drängenden Frage gelöst hatte, würde er vielleicht auch einmal Teil dieser Widerstandsgruppe werden. Aber nicht heute. Heute brauchte er das Minas-Erz, um einen magischen Schlüssel anzufertigen.

Jemanden aus den Händen der Obersten Verwaltung zu befreien, gefiel dem Torak natürlich. Wenn es auch nicht gegen die Wachen oder Schergen ging, ging es doch gegen eine Einrichtung, die für Flanakan ebenfalls eine Säule der Macht war. Hier wurde alles organisiert, gewogen, verteilt. Hier wurde Recht im Sinne von Flanakan gesprochen und verwaltet. Man könnte auch sagen, dass dem Unrecht hier der Mantel eines Verwaltungsaktes angezogen wurde. Was die fleißigen Beamte dort abstempelten, sah auf den ersten Blick wie Gerechtigkeit aus. Erst beim zweiten Blick erkannte man, dass hier die gleiche Willkür herrschte, wie bei den Schergen und Wachen. Ob man zum Galgen oder in die Minen wandert, wurde hier entschieden. Mit einem Stempel, der achtlos auf ein Pergament gedrückt wurde.

Tsarkoik hatte tatsächlich Minas-Erz vorrätig. Seine Lizenz dafür hatte noch niemand infrage gestellt. Für die Oberste Verwaltung war er der brave Erzhändler.

Wallas hatte damals in Conchar die Lizenz als Schlüsselgießer besessen. Und hatte Kard alles beigebracht. Der Junge hoffte nun, dass die Schlösser, die noch aus der Zeit von Davischi stammten, die gleichen waren. Damit würde der Schlüssel, der zum Tor der Obersten Verwaltung von Conchar passte, auch hier der richtige sein. Und Wallas hatte ihm die Kunst der Herstellung des Schlüssels, dessen Bart aus Minas bestand, gezeigt. Nur, dass Kard selbst noch nie einen solchen Schlüssel angefertigt hatte. Er wusste nur theoretisch, wie es geht. Aber er hoffte, dass er nach der Erfahrung mit dem Schmieden des Schwertes aus Minas, auch das Kunststück mit dem Schlüssel hinbekommen würde.

Als Erzhändler hatte Tsarkoik sogar eine kleine Schmiede in der Werkstatt. Hier prüfte der Torak die angelieferte Ware auf ihren Gehalt an Eisen und anderen Metallen. Ohne Umschweife ließ Tsarkoik Fettkohle in die Essen füllen, denn das Schmelzen von Minas benötigte ungewöhnlich hohe Temperaturen. Kard setze sich sogleich hin, um die Rohform aus einem Gipsquader zu kratzen.

Da die anderen bis zum Abend nur abwarten konnten, hatte Kyra sich angeboten, ihnen die Stadt zu zeigen. Vom Großen Casino über den Zentralen Platz mit dem täglichen Schauspiel der sich streitenden Govas und Govans bis zur unterirdischen Schneckenbahn. Kard fiel es auf, dass Benji sehr bemüht war, Kyra zu erklären, wie man geruchlosen Schleim aus Knochenmehl, Baumharz und Wasser herstellen konnte, sodass man statt Rennschnecken auch kräftige Bos-Ochsen als Zugtiere für die Schlittenkabinen nutzen könnte. Aber seit sie bei den Alchemisten gewesen waren, zauberte sein Freund zu jeder Gelegenheit Rezepte hervor, die er einmal in einem Buch gelesen hatte. Kard winkte seinen Freunden zum Abschied und vertiefte sich dann wieder in die Herstellung der Form.

»Eifersüchtig, was?«

Kard schaute Madad verwirrt an. Was für ein Unsinn. Auf was sollte er denn eifersüchtig sein?

»Nein! Wie kommst du denn darauf?«

Wieso schreie ich eigentlich so?

»Alles in Ordnung?« Tsarkoik kam bei Kards lauter Stimme erschrocken herbeigelaufen.

»Kard ist eifersüchtig.«

»Bin ich nicht.« Jetzt hatte er schon wieder geschrien.

»Ach, das geht vorbei. Um wen geht es denn?«

»Um Kyra natürlich. Kard und Kyra…« Wenn Cus mit einem Auge zwinkern, bewegt sich immer der ganze Kopf zur Seite.

Und diesen Kopf reiße ich Madad gleich ab.

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9783754179154
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