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Die frühesten Wegfinder

Als ich mit meinen Recherchen begann, dachte ich nur an Lebewesen, die ich sehen konnte – etwa Insekten, Vögel, Reptilien, Ratten, Menschen –, doch die ersten Lebensformen, die sich auf unserem Planeten entwickelten, waren winzig klein und Pioniere der Tiernavigation.

Die Erde entstand vor ungefähr 4,56 Milliarden Jahren als Zufallsprodukt bei der Verdichtung von Asteroiden, Gas und Staub; diese Einzelteile wurden durch die eigene Schwerkraft zusammengepresst. Damals war die Erde ein äußerst ungemütlicher Ort: Ihre gesamte Oberfläche war von heißem, flüssigem Gestein bedeckt. Die ersten Kontinente bildeten sich, als dieses Meer aus Magma vor circa 4,5 Milliarden Jahren langsam abkühlte und erstarrte, doch es gab noch keine Ozeane und auch keine Luft.

Über Hunderte Millionen Jahre hinweg wurde der junge Planet von weiteren Asteroiden bombardiert, aber diese Einschläge waren nicht nur zerstörerisch. Sie lieferten die chemischen Zutaten, welche die allerersten Lebensformen und auch Wasser entstehen ließen.1 Vor etwa 3,9 Milliarden Jahren beruhigte sich die Erde, und in den Tiefen der ersten Ozeane entwickelten sich einfache Lebensformen um hydrothermale Spalten im Meeresboden, aus denen extrem heißes, stark mineralisiertes Wasser strömte.2 Zu diesen Lebensformen gehörten die allerersten Bakterien.

Heute bringen wir diese einzelligen Organismen zwar meist mit Krankheiten in Verbindung, doch die Mehrzahl der Bakterien ist harmlos; viele tragen sogar maßgeblich zu unserer körperlichen und selbst geistigen Gesundheit bei. Um zu überleben, können sie gezielt Nahrungsquellen aufsuchen und Gefahren wie übermäßige Hitze, Acidität und Alkalität meiden.3 Einige verfügen über ganz spezielle Antriebsmittel, etwa mikroskopisch kleine Motoren, die rotierende Fäden – sogenannte Flagellen – antreiben. Diese einfachste Form der zielgerichteten Orientierungsreaktion wird als Taxis bezeichnet, nach dem griechischen Wort für »Ordnung« oder »Ausrichtung«.

Manche Bakterien bedienen sich einer besonders verwunderlichen Form der Taxis. Magnetotaktische Bakterien enthalten winzige magnetische Partikel, die – wenn sie zu Ketten aneinandergereiht sind – wie mikroskopische Kompassnadeln fungieren. Mithilfe dieser »Kompassnadeln« können sich die Bakterien am Magnetfeld der Erde ausrichten und dadurch den Weg hinunter zu den sauerstoffarmen Wasserschichten und Sedimenten finden, in denen sie gedeihen. Die Nadeln in Bakterien auf der nördlichen Halbkugel haben die entgegengesetzte Polarität derer auf der südlichen Hemisphäre; ein einfaches Beispiel für die Wirkkraft der natürlichen Selektion.

Versteinerte Bakterien sind ausgesprochen schwer auszumachen; dennoch entdeckte man die Reste von magnetotaktischen Bakterien in Gestein, das Hunderte Millionen, vielleicht sogar Milliarden Jahre alt ist. Obwohl diese Bakterien als die frühesten magnetbasierten Navigatoren in der Geschichte unseres Planeten gelten, wurden die ersten lebenden Exemplare erst 1975 entdeckt.4 Seltsamerweise fiel ihre Entdeckung zeitlich mit den ersten Nachweisen magnetbasierter Orientierung bei viel komplexeren Organismen wie etwa Vögeln zusammen.

Der Name unserer nächsten Verwandten unter den einzelligen Organismen ist ein wahrer Zungenbrecher: Choanoflagellaten (oder Kragengeißeltierchen). Sie sind geringfügig komplexer als Bakterien, leben im Wasser und bilden manchmal Kolonien. Wie der Mensch sind sie auf Sauerstoff angewiesen; sie können nicht nur kleinste Unterschiede in dessen Konzentration ausmachen, sondern auch gezielt zu einer sauerstoffreicheren Quelle schwimmen, ebenfalls dank ihrer Flagellen.5

Noch beeindruckender sind gewisse hirnlose Ansammlungen von Einzellern, bekannt unter der eher abstoßenden Bezeichnung »Schleimpilze«. Diese einfachen Organismen können sich langsam, aber zielsicher auf einen Vorrat an Glukose zubewegen, der im unteren Teil eines u-förmigen Siphons verborgen ist. Dabei nutzen sie eine simple Form von Gedächtnis, das sie davon abhält, bereits erkundete Stellen erneut abzusuchen.6 Sie können außerdem ein Problem lösen, das selbst Verkehrsplaner und Ingenieure vor große Herausforderungen stellt: die Konstruktion eines effizienten Bahnnetzes.

Wissenschaftler haben Folgendes herausgefunden: Wenn einem bestimmten Schleimpilz große Mengen von Haferflocken in einem Muster dargeboten werden, das den Grundriss von Städten rings um Tokio nachahmt, beginnt er, ein Netzwerk von »Tunneln« zu bauen, um die aus den Flocken gewonnenen Nährstoffe zu verteilen. Erstaunlicherweise gleicht das Netzwerk schließlich dem tatsächlichen Bahnsystem rund um Tokio. Der Schleimpilz vollbringt eine Meisterleistung, indem er zunächst Tunnel anlegt, die in alle Richtungen führen, und diese dann allmählich reduziert, sodass letztendlich nur jene übrig bleiben, in denen die größten Mengen an Nährstoffen (sprich »Passagieren«) befördert werden können.7

Weiter oben auf der Skala der Komplexität stoßen wir auf viel größere, aber immer noch winzige mehrzellige Organismen namens Plankton. Die Ozeane, besonders um die Arktis und die Antarktis, wimmeln nur so davon. Viele dieser Pflanzen und Tiere sind für das bloße Auge unsichtbar, doch sie sind häufig so zahlreich, dass sie das Meer wie eine kräftige Misosuppe aussehen lassen. Planktonblüten können sogar ganze Seegebiete rostrot färben.

Lebewesen wie diese müssen nicht wissen, wo genau sie sich befinden, zumal sie ohnehin weitgehend den Meeresströmungen ausgeliefert sind; dennoch sind sie keineswegs nur passiv. Um Nahrung zu finden oder nicht selbst gefressen zu werden, steigt ein Großteil des tierischen Planktons (darunter Fischrogen, kleine Krebstiere und Mollusken) in der Wassersäule auf und ab, von den dunklen Tiefen an die Oberfläche und wieder hinunter, jeden Morgen und jeden Abend. Und das pflanzliche Plankton, das sich meist nah an der Oberfläche aufhält, um von der größeren Lichtmenge zu profitieren, taucht nötigenfalls ab, damit es nicht durch ein Übermaß an ultraviolettem Licht geschädigt wird.

Das Timing dieser Abläufe beruht auf der Fähigkeit des Planktons, Veränderungen in der Stärke des Sonnenlichts wahrzunehmen; in der monatelangen arktischen Nacht schaltet das tierische Plankton allerdings auf einen Rhythmus um, der sich nach dem Mondlicht richtet.8 In einigen Fällen sind diese Prozesse nicht nur eine simple Reaktion auf variierende Helligkeitsgrade. Bestimmte Planktonarten steigen auf oder ab, noch bevor sie irgendwelche Veränderungen wahrnehmen können; und selbst wenn sie in ein dunkles Aquarium verlegt werden, behalten sie ihre vertikalen Wanderungen für mehrere Tage bei. Dieses rätselhafte Verhalten scheint von einer Art innerer Uhr abhängig zu sein, die ihre Standortveränderungen reguliert.9 Die gesamte Nahrungskette der Ozeane stützt sich letztlich auf das Plankton, und dessen gigantische tägliche Wanderzüge spielen eine entscheidende Rolle für alles Leben auf der Erde.

Selbst einfache Würmer müssen sich zurechtfinden. Eine Wurmart namens Caenorhabditis elegans scheint sich am Erdmagnetfeld zu orientieren, wenn sie sich im Untergrund vergraben hat.10 Und Wassermolche, von denen einige bis zu zwölf Kilometer weit zum heimischen Tümpel zurückfinden, setzen einen Magnetkompass ein.11

Würfelquallen – kleine, durchsichtige Tiere, die im tropischen Australien berüchtigt sind, weil sie mit ihren Nesselkapseln ein tödliches Nervengift freisetzen können – haben kein Gehirn, aber Augen, und sie bewegen sich nicht nur mit der Strömung. Sie schwimmen aktiv und mit einem regelrechten Zielbewusstsein, wenn sie beispielsweise ihrer Beute nachjagen. Kurioserweise verfügen sie über nicht weniger als vierundzwanzig Augen, die sich in vier unterschiedliche Typen unterteilen lassen.

Noch überraschender ist es, dass einige Würfelquallen navigieren können, indem sie sich an markanten Punkten über der Wasseroberfläche orientieren. Eine spezielle Art, die in den Mangrovensümpfen der Karibik vorkommt, besitzt eine Gruppe von Augen, die stets nach oben gerichtet sind, unabhängig davon, wie der Körper des Tieres ausgerichtet ist. Schwere Gipskristalle im Gewebe um jedes einzelne spezialisierte Auge dienen dazu, diese Orientierung beizubehalten.

Dan-Eric Nilsson, ein Biologe an der Universität Lund in Schweden (einem der führenden Forschungszentren für Tiernavigation), wollte herausfinden, was diese nach oben gerichteten Augen leisten. Er und sein Team platzierten Würfelquallen in durchsichtige Becken, die sie in der Nähe eines Mangrovenhains ins Meer setzten, und beobachteten dann mithilfe einer Videokamera das Verhalten der Tiere. Wenn der Rand der Mangrovenwipfel vom Bassin aus sichtbar und nur wenige Meter von diesem entfernt war, stießen die Quallen wiederholt gegen jene Seite des Beckens, die den Bäumen am nächsten war – so als versuchten sie, ihnen näher zu kommen. Wurde der Behälter jedoch so weit weggezogen, dass die Bäume von unterhalb der Wasseroberfläche nicht mehr zu sehen waren, schwammen die Quallen ziellos umher.

Es scheint so, als nutzten die Quallen ihre nach oben gerichteten Augen, um die Silhouette der Mangrovenbäume auszumachen. Dadurch bleiben sie im seichten Gewässer, in dem sich das winzige tierische Plankton – ihre Nahrung – tummelt; das ist jedoch nur dann möglich, wenn sie sich nicht zu weit vom Rand des Mangrovenhains entfernen.12

Dies sind nur ein paar Beispiele für die außergewöhnlichen Orientierungsfähigkeiten von Organismen, die auf den ersten Blick recht einfach erscheinen mögen.

– – – –

Ein alter Walt-Disney-Film mit dem Titel The Incredible Journey (Die unglaubliche Reise) erzählt die Geschichte zweier Hunde – eines Labrador Retrievers und einer Bullterrierhündin – sowie eines Siamkaters, die von ihrem Herrchen bei einem Freund in Pflege gegeben werden. Die unglücklichen Tiere verstehen nicht, dass es sich nur um einen vorübergehenden Aufenthalt in der Fremde handelt, und beschließen, nach Hause zurückzukehren. Dazu müssen sie aber 400 Kilometer kanadische Wildnis durchqueren, wobei sie haarsträubende Abenteuer erleben: Sie begegnen einem Bären und einem Luchs, ertrinken einmal beinahe und machen die schmerzliche Bekanntschaft mit einem Stachelschwein. Zu guter Letzt kommen sie jedoch wohlbehalten zu Hause an.

Skeptiker mögen diese Geschichte als unglaublich im wörtlichen Sinne abtun, aber vielleicht ist das zu schnell geurteilt. Im Jahr 2016 büxte ein Hirtenhund namens Pero aus und machte sich auf den Weg zu seinen alten Herrchen. In nur zwölf Tagen legte er eine Entfernung von 385 Kilometern zurück – von seinem neuen Zuhause im englischen Lake District bis nach Wales – und kam in guter Verfassung an, völlig unerwartet. Pero war gechippt, an seiner Identität konnte also keinerlei Zweifel bestehen.13

Niemand weiß, wie Pero dieses Meisterstück gelang. Es ist wohl denkbar, dass er dank einer ungewöhnlichen Folge günstiger Entscheidungen nach Hause zurückfand, doch das ist schwer zu glauben. Die Orientierungsfähigkeiten von Hunden und Katzen fanden bisher überraschend wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Eine neuere Studie ergab jedoch, dass sich Hunde bevorzugt nach Norden oder Süden wenden, wenn sie ihr Häufchen machen. Vielleicht verfügen sie also über eine Art inneren Kompass, mit dessen Hilfe sie zumindest die Richtung ausmachen können. Wenn das zutrifft, erweitern sie eine rasch länger werdende Liste von Lebewesen, die das Magnetfeld der Erde spüren können.14 Aber nur mithilfe eines Kompasses hätte Pero nicht nach Hause zurückfinden können.

Es ist möglich, dass Pero es irgendwie schaffte, sich den Weg zu seinem neuen Heim im Lake District einzuprägen. Konnte er dann diese Route rekonstruieren und zurückverfolgen? Vielleicht spielte dabei auch sein scharfer Geruchssinn eine Rolle.

2. KAPITEL
Jim Lovells magischer Teppich

Charles Darwin (1809–1882) schrieb, »dass der Mensch mit allen seinen hohen Eigenschaften noch immer in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel seines niederen Ursprungs trägt«.1 Doch sogar Darwin würde darüber staunen, dass unsere Augen derselben uralten Abstammung sind wie die der Würfelqualle, des Tintenfischs, der Spinnen und Insekten.2

Das unerbittliche Versuchsfeld der natürlichen Selektion hat über Hunderte Millionen Jahre jene Augen und Gehirne entstehen lassen, die es uns (und anderen Spezies) ermöglichen, mühelos diejenigen Dinge wahrzunehmen, die wir wirklich sehen müssen – und uns an sie zu erinnern. Dank ihrer Augen können Lebewesen nicht nur Nahrung und Partner finden sowie Gefahren umgehen; anders als die übrigen Sinnesorgane liefern sie zudem außergewöhnlich detaillierte Informationen über nahe wie ferne Gegenstände. Für viele Tiere sind die Augen das wichtigste Orientierungshilfsmittel, und wir Menschen benutzen sie ständig, um uns zurechtzufinden.

Verglichen mit vielen anderen Lebewesen ist der typische urbane Mensch kein besonders begabter Navigator, doch mit ein wenig Übung können sich die meisten Stadtbewohner anhand von markanten Punkten ziemlich gut orientieren. Unser visuelles Gedächtnis funktioniert im Grunde einwandfrei – wenn wir uns Mühe geben. Wir können uns beispielsweise an mindestens zehntausend Bilder erinnern, die wir nur ein Mal kurz gesehen haben.3

Selbst leistungsstarke Computer können da kaum mithalten. Sie so zu programmieren, dass sie recht einfache Aufgaben der visuellen Erkennung ausführen können, hat sich als äußerst schwierig erwiesen. Ein Computer, der zwei Fotos von Ihrem Haus miteinander vergleichen soll – eines zeigt es an einem sonnigen Morgen, das andere in einer verregneten Nacht –, wird sich schwertun, Übereinstimmungen zu finden. Bereits die veränderte Position eines Schattens oder eine unvermittelte, helle Reflexion eines Fensters reicht aus, um ihn heillos zu verwirren. Reine Rechenleistung ist nicht die Antwort, zumindest nicht die ganze. Ein Supercomputer hat Probleme mit visueller Erkennung, es sei denn, er lernt – wie der Mensch –, sich auf konstante und relevante Merkmale zu konzentrieren und jegliches optische »Rauschen« auszuklammern. »Maschinelles Sehen« ist immer noch für einfache Fehler anfällig, die dem Menschen nie unterlaufen würden; Unfälle mit fahrerlosen Autos haben das nur allzu deutlich gezeigt.

Wir wissen alle, wie markante Orientierungspunkte typischerweise aussehen – zum Beispiel der Eiffelturm oder der Hollywood-Schriftzug in Los Angeles. Aber manchmal haben sie ganz unterschiedliche und sogar überraschende Formen. Sie können so groß sein wie der Lake Michigan und die Cheopspyramide oder auch so klein wie ein einzelner Fußabdruck. Eine Route mag absichtlich markiert sein, indem etwa Kieselsteine ausgestreut (wie in Der kleine Däumling) oder mit einem Beil Wegmarkierungen in die Rinde von Bäumen geschlagen wurden. Das Garnknäuel, das Theseus von Ariadne bekam, kann man als eine Art erweitertes Orientierungszeichen betrachten, das den Helden sicher aus dem Labyrinth hinausführte.

Visuelle Orientierungspunkte können nicht nur ein Ziel kennzeichnen oder als Wegmarken entlang einer Route dienen, sondern auch wertvolle Informationen bezüglich Richtungen liefern. Nehmen wir als Beispiel die Freiheitsstatue im Hafen von New York: Weil ihre Figur nicht symmetrisch ist, lässt sich nach der Form ihrer Silhouette die Richtung bestimmen, aus der man sie sieht.

Ein guter Orientierungspunkt zeichnet sich offenkundig vor allem dadurch aus, dass er deutlich hervorsticht und lang genug an Ort und Stelle bleibt, um seinen Zweck zu erfüllen. Doch kurioserweise muss es sich nicht unbedingt um einen massiven Gegenstand handeln.

In dem Film Apollo 13 befindet sich der Astronaut Jim Lovell, gespielt von Tom Hanks, auf seiner Raumfahrtmission zum Mond in großer Gefahr. Zu Hause auf der Erde tröstet sich seine besorgte Frau mit einem alten Fersehinterview, in dem Lovell erzählt, wie er in den 1950er-Jahren als junger Marineflieger von einem Flugzeugträger zu einem Lufteinsatz über dem Japanischen Meer gestartet war. Es war Nacht, und er hatte fast keinen Kraftstoff mehr; wenn er nicht bald sein Mutterschiff ortete, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem »großen schwarzen Ozean« notzulanden. Von dem Flugzeugträger waren jedoch keine Lichter zu sehen, Lovells Radar war ausgefallen, und das Anflugfunkfeuer des Schiffs wurde unglücklicherweise von einem Lokalsender gestört.

Als Lovell die Cockpitbeleuchtung anschalten wollte, um eine Karte zurate zu ziehen, gab es in der Stromanlage einen Kurzschluss, und alle Instrumente fielen aus. Er befand sich nun in vollkommener Dunkelheit und fing an, über eine Notwasserung nachzudenken – ein riskantes Unterfangen, selbst bei Tageslicht. Es muss ein sehr beängstigender Moment gewesen sein. Als er auf das Meer hinabschaute, sah er plötzlich einen langen, leuchtenden »grünen Teppich« aus biolumineszierendem Plankton, der das aufgewühlte Kielwasser jenes Schiffes markierte, das er suchte: »Er führte mich geradewegs nach Hause.« Wenn Lovells Cockpitbeleuchtung nicht ausgefallen wäre, hätte er den Teppich überhaupt nicht entdeckt.

Ein paar indigene Völker haben ihre traditionellen Orientierungsmethoden noch nicht aufgegeben. Während die Seefahrer der pazifischen Inseln stets die Sonne und die Sterne nutzen, verlassen sich die Inuit im hohen Norden hauptsächlich auf Landmarken, um sich zu orientieren – aus dem einfachen Grund, dass sie nicht mit einem klaren Himmel rechnen können. In einigen Gebieten, etwa an den Küsten Grönlands, mangelt es nicht an imposanten natürlichen Gebilden, die aus großer Entfernung zu erkennen sind: Berge, Felsklippen, Gletscher und Fjorde. In Gegenden mit einem einheitlicheren Landschaftsbild errichten die Inuit jedoch eigene Wegweiser, sogenannte Inuksuk. Diese Steingebilde, die menschlichen Figuren ähneln, stehen normalerweise auf Erhebungen und geben die Richtung zu bestimmten wichtigen Orten an.

Laut Claudio Aporta, einem Kenner der Inuit-Kultur, der lange Überlandreisen in der Arktis unternommen hat, sind erfahrene Wegfinder der Inuit mit Tausenden Kilometern angelegter Pfade vertraut und können zahllose Orientierungspunkte entlang dieser Routen wiedererkennen. Vielleicht haben die Inuit ein ungewöhnlich gutes visuelles Gedächtnis, aber sie greifen auch intensiv auf ein Hilfsmittel zurück, das uns allen zur Verfügung steht – das gesprochene Wort:

Da die Inuit auf ihren Reisen oder zur Darstellung geografischer Information keine Karten verwendeten, wurde ihr riesiger Wissensschatz seit undenklichen Zeiten mündlich überliefert und durch Reisen weitergegeben.

Diese mündlichen Schilderungen stützen sich auf »genaue Begriffe zur Beschreibung besonderer Merkmale von Land und Eis, Windrichtungen, Zuständen von Schnee und Eis sowie Ortsnamen«.

Die Reisen der Inuit können extrem beschwerlich sein. Langes Ausharren bei Nebel und Whiteouts sind nicht ungewöhnlich, doch für die ältere Generation, die vor dem Aufkommen des GPS zu navigieren lernte, war »die Vorstellung, sich zu verirren oder sich nicht zurechtzufinden, ohne jede Grundlage, denn in ihrer Erfahrung, Sprache und ihrem Verständnis gab es sie schlichtweg nicht«.4 Diese Menschen sind vollkommen eins mit ihrer Umgebung und ziehen den größtmöglichen Nutzen aus jedem Orientierungshinweis, der ihnen zur Verfügung steht.

Das Gleiche gilt auch für die Aborigines im heutigen Australien. Sie kamen vor ungefähr 50 000 Jahren auf dem Seeweg dorthin und entwickelten, wie die Inuit, ein feines Orientierungsgeschick, das sich hauptsächlich auf Landmarken stützt. Anhand langer, komplexer Gesänge können sie weitläufigen Routen durch das Outback folgen.

Diese Gesänge helfen den Aborigines dabei, Naturmerkmale entlang ihrer Pfade wiederzuerkennen, indem sie mythologische Bilder aus der »Traumzeit« wachrufen. Ein kompetenter (europäischer) Beobachter hat das gekonnt umschrieben: Die Orientierungsmethoden der Aborigines beruhen auf dem »Glauben an eine spirituelle Kraft, die materielle Gegenstände erfasst und ihnen eine zeitlose Bestimmung verleiht, die dem Menschen das Gefühl gibt, irgendwo hinzugehören«.5

Die engen Beziehungen der Aborigines und der Inuit zu ihren heimischen Landschaften werden Stadtbewohner der westlichen Welt wohl nie begreifen können. Doch unsere eigenen entfernten Vorfahren dürften ähnliche Orientierungsmethoden angewandt haben, und es ist ein trauriger Gedanke, dass diese ein für alle Mal in Vergessenheit geraten sind. Daher ist es umso wichtiger, das Wissen jener, die noch über solch außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, zu bewahren.

Einige Menschen sprechen Sprachen, die sie dazu zwingen, ständig zu überdenken, in welche Richtung sie gehen oder sehen. Die australischen Ureinwohner des Stammes Guugu Yimithirr in Queensland – von denen James Cook (1728–1799) offenbar das Wort »Känguru« lernte – benutzen niemals Begriffe wie »links« oder »rechts«. Sie verweisen ausschließlich auf die Himmelsrichtungen. Der Linguist Guy Deutscher beschreibt ihre Sprache wie folgt:

Wenn Sprecher des Guugu Yimithirr möchten, dass jemand in einem Auto zur Seite rückt, um Platz zu machen, dann sagen sie naga-naga manaayi, was »rück ein bisschen nach Osten« bedeutet. […] Als man älteren Stammesmitgliedern auf einem Fernseher einen kurzen Stummfilm zeigte und sie dann aufforderte, die Bewegungen der Protagonisten zu beschreiben, hingen ihre Antworten davon ab, wie der Fernseher gestanden hatte, als sie den Film sahen. Wenn er nach Norden gerichtet war und ein Mann auf dem Bildschirm näher zu kommen schien, sagten die älteren Männer, der Mann »geht nach Norden«. […] Wenn Sie ein Buch lesen und dabei nach Norden blicken und ein Guugu-Yimithirr-Sprecher Sie auffordert vorzublättern, dann wird er sagen »geh weiter nach Osten«; denn die Seiten werden von Osten nach Westen umgeblättert.6

Der Sprachwissenschaftler erklärt weiter:

Wenn Sie Ihre Position kennen müssen, um auch nur die einfachsten Dinge zu verstehen, welche die Leute in Ihrer Umgebung sagen, dann werden Sie die Gewohnheit entwickeln, in jeder einzelnen Sekunde Ihres Lebens die Himmelsrichtungen zu berechnen und sich an sie zu erinnern. Und da diese geistige Gewohnheit schon fast vom Säuglingsalter eingeprägt wird, wird sie dann bald zu einer zweiten Natur werden, mühelos und unbewusst.7

Diese sprachlichen Eigenheiten spiegeln wohl die zentrale Rolle wider, die Orientierung im Alltag der Guugu Yimithirr einnimmt. Für ihr Überleben war es wahrscheinlich unerlässlich, sich ständig der eigenen räumlichen Ausrichtung bewusst zu sein, denn dieses Bewusstsein war und ist in der Struktur ihrer Sprache verankert.

1 722,70 ₽
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421 стр. 19 иллюстраций
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9783866483897
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