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7. KAPITEL
Das Rennpferd der Insektenwelt

Trotz aller Unzulänglichkeiten ist die Koppelnavigation die einzige geeignete Methode, um die eigene Position zu bestimmen – sofern keine eigenständigen Mittel zur Verfügung stehen, um den genauen Standort zu ermitteln, wie etwa Landmarken oder ein Navigationssystem. Und über sehr kurze Spannen, bevor sich die verschiedenen Fehler anhäufen, kann sie durchaus effektiv sein. Es ist also naheliegend, sich zu fragen, ob auch andere Lebewesen die Koppelnavigation nutzen. Die Tatsache, dass Wüstenameisen bei ihrer Futtersuche einem komplizierten Zickzackkurs folgen und dann auf direktem Weg zurückkehren, könnte daraufhindeuten, dass sie diese Methode nutzen. Ich wollte mehr über die Orientierungsfähigkeiten von Ameisen erfahren, also reiste ich nach Zürich, um den weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet zu treffen: Rüdiger Wehner.

Wehners zielstrebiges Ringen darum, das Heimfindeverhalten der Wüstenameise zu verstehen, ist wahrlich beeindruckend. Wie Karl von Frisch hat er Hunderte Feldversuche durchgeführt, aber auch die Hilfsmittel der Neurowissenschaft, der Anatomie, der Molekularbiologie und selbst der Robotik eingesetzt, um die vielen verschiedenen Orientierungsmechanismen zu erforschen, die es der Wüstenameise ermöglichen, in einem äußerst unwirtlichen Umfeld zu leben. In der Welt der Wissenschaft wird viel über den Wert interdisziplinärer Forschung diskutiert, doch nur wenige Forscher haben diesem Ideal mit so viel Entschlossenheit und Erfolg nachgestrebt wie Wehner.

Obwohl mein Zug erst spätnachts ankam, bestand Wehner darauf, mich am Zürcher Hauptbahnhof abzuholen. Dank seiner hochgewachsenen Figur und der dunkel gerahmten Brille war er inmitten der riesigen, fast leeren Eingangshalle ein unübersehbarer Orientierungspunkt. Am nächsten Morgen frühstückten wir in der Universitätskantine und fuhren anschließend zu seiner Wohnung, die einen herrlichen Blick über den See auf die Berge bot. Wir verbrachten den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer und sprachen über sein Werk. Die meisten Bücher in den Regalen waren wissenschaftliche Titel, ich entdeckte aber auch Dramen und Romane sowie Bände über Philosophie und Kunstgeschichte. Unser Gespräch zog sich ohne Unterbrechung über die Mittagszeit und das Abendessen hin. Als ich spät in jener Nacht in mein Hotel zurückkehrte, war ich erschöpft, doch weil mir der Kopf schwirrte, konnte ich nur schwer einschlafen.

Was Wehner mir offenbarte, machte mich demütig: Ein kleines Insekt kann Navigationsleistungen vollbringen, die wir Menschen nur mithilfe technischer Geräte schaffen. Aber ich konnte nicht umhin, auch über etwas anderes zu staunen: die Findigkeit und Hingabe der Forscher, die all diese Entdeckungen gemacht hatten.

Wehner wurde 1940 in Nürnberg geboren. Seine frühesten Erinnerungen stammen jedoch aus der Kindheit in Dresden, wo er nach den Luftangriffen der Alliierten aus den Trümmern der weitgehend zerstörten Stadt geborgen wurde. Während seiner Grundschulzeit wohnte er am Stadtrand in einem Haus mit großem Garten, und in dieser »herrlichen Idylle« erwachte sein Interesse für die Naturkunde.

Später zog die Familie nach Westdeutschland. Er und seine Schulfreunde beobachteten in ihrer Freizeit Singvögel und nahmen alles Mögliche unter die Lupe – »Gelegegrößen, Brutzeiten, Fressverhalten sowie die Ankunfts- und Aufbruchszeiten von Zugvögeln«. Obwohl sein Vater Philologe und einer seiner Großväter Sprachforscher war, fühlte sich der Junge stark zu den Naturwissenschaften hingezogen. Im Jahr 1960 schrieb sich Wehner an der Universität in Frankfurt am Main ein, um dort Zoologie, Botanik und Chemie zu studieren. Sein Interesse verlagerte sich aber »mehr und mehr vom Feld zum Labor, von der Naturgeschichte zur Physiologie, besonders hin zur Biochemie und Neurophysiologie«. Damals konnte er jedoch nicht ahnen, dass Ameisen zum Schwerpunkt seiner Arbeit werden sollten.

Wissenschaftlern – zumindest den besten unter ihnen – ist die Förderung neuer Talente ebenso wichtig wie ihre eigene Forschungsarbeit. Karl von Frisch zählte zu diesem Kreis; er rekrutierte und betreute viele ausgezeichnete Studenten, die später ihre eigene wichtige Forschung betrieben. Einer derjenigen, die an von Frischs Erkenntnissen anknüpften, war Martin Lindauer, der wiederum den jungen Rüdiger Wehner unter seine Fittiche nahm.

1963 wurde Lindauer Direktor des Instituts für Zoologie in Frankfurt. Seine Arbeit über die sensorischen Fähigkeiten von Honigbienen erregte Wehners Aufmerksamkeit. Ihn faszinierte die Aussicht, gründliche Experimente mit Tieren durchzuführen, die sich frei bewegten. Von da an war Wehner bestrebt, sämtliche Mechanismen zu verstehen, die für bestimmte Verhaltensweisen verantwortlich sind; eine Kausalkette, die von den Sinnesorganen bis zu den Gehirnzellen führte, die konkrete Bewegungen auslösten. Mit Lindauer als Doktorvater erforschte Wehner, wie Honigbienen ungleiche Muster unterscheiden, und ging dann an die Universität Zürich, wo er sich habilitierte und bis zu seiner Emeritierung als Professor tätig war.1

Während wir an jenem Frühsommertag zusammensaßen und auf das ruhige Wasser des Sees hinunterblickten, erzählte mir Wehner, wie Lindauer ihn einige Monate nach seiner Promotion von Frisch auf dessen bekanntem Landgut in Brunwinkel vorgestellt hatte – ein ausgesprochen symbolträchtiges Ereignis. Wehners Schilderung erinnerte mich an das »Handauflegen«, das die apostolische Nachfolge in der christlichen Kirche kennzeichnet.

Der alte Meister entwickelte zwar auf geniale Weise Experimente, aber mit den modernen Statistikmethoden tat er sich schwer. Am Ende des Gesprächs fragte von Frisch den jungen Wissenschaftler mit einem Pokergesicht: »Was meinen Sie, Dr. Wehner, wie viele Beine hat ein Insekt?«

Dies war, gelinde gesagt, eine überraschende Frage. Wehner war darauf überhaupt nicht gefasst und meinte zögernd, dass die meisten Leute von sechs ausgingen. Daraufhin erwiderte von Frisch mit einem Grinsen: »Da wäre ich mir heutzutage nicht mehr so sicher. Ich würde sagen 5,9 plus/minus 0,2!« Das Gespräch fand zu jener Zeit statt, als seine Arbeit in den Vereinigten Staaten massiv angegriffen wurde, doch seinen trockenen Humor schien sich von Frisch bewahrt zu haben.

Nach der Promotion wollte Wehner in von Frischs Fußstapfen treten und Honigbienen erforschen, doch wie so häufig bescherte ihm der Zufall einen anderen Werdegang. Er plante einige Feldversuche im Frühling, und da Honigbienen zu dieser Jahreszeit in Europa noch nicht unterwegs sind, reiste er nach Israel, wo er in Ramla inmitten eines Orangenhains seine Apparaturen aufbaute. Doch leider war der Ort schlecht gewählt. Die Bäume waren übersät mit Blüten, und so überraschte es kaum, dass sich die Bienen lieber auf das reichhaltige Angebot an natürlichem Nektar stürzten und der von Wehner angebotenen Zuckerlösung keinerlei Beachtung schenkten.

Während sich Wehner entmutigt fragte, wie er die Bienen anlocken könnte, fielen ihm ein paar langbeinige Ameisen ins Auge. Er sah eine Weile zu, wie sie hin und her krabbelten, und wurde immer mehr von ihrem Verhalten in Bann gezogen. So kam es, dass er einige Pilotexperimente zu den Navigationsfähigkeiten der Wüstenameise durchführte. Die Ergebnisse waren vielversprechend, aber zu jenem Zeitpunkt wusste Wehner nichts über die Tiere, die er beobachtete, nicht einmal ihren wissenschaftlichen Namen: Cataglyphis.

Er war sich dessen zwar nicht bewusst, aber er hatte seinen idealen Versuchsgegenstand gefunden.

Wieder zurück in Zürich, kündigte Wehner an, er wolle neben seinen bestehenden Projekten zur Honigbiene auch Cataglyphis erforschen. Seine Mentoren rieten ihm allesamt, seine Zeit nicht mit solch einem »eigenartigen Organismus« zu verschwenden. Wehner hörte sich ihre Ratschläge an, ignorierte sie aber, was sich als gute Entscheidung herausstellte. Doch bevor er zur Tat schreiten konnte, musste er Gelder auftreiben. Er musste auch einen Ort finden, an dem die Wüstenameise lebte, der aber nicht so weit entfernt war wie Israel. Also schlug er einen Atlas auf und stellte fest, dass der nächstgelegene geeignete Standort Tunesien war, wo sechzig Jahre zuvor schon Santschi gelebt und gearbeitet hatte. Damals kannte Wehner Santschis Werk allerdings noch nicht.

Abenteuer in Nordafrika

Im Jahr 1969 machte sich Wehner, begleitet von ein paar Studenten, mit dem Auto und der Fähre auf den Weg nach Nordafrika. Der Trupp fuhr nach Süden bis zum Schott el-Dscherid, einer Salzpfanne nahe der Oase Gabès im südlichen Tunesien. Dort stießen sie erstmals auf eine Wüstenameise, die sie später als Vertreterin der Spezies Cataglyphis fortis identifizierten. Dieses langbeinige Insekt jagte unter der glühenden Sonne umher, um Nahrung zu suchen, und gabelte schließlich die Überreste einer toten Fliege auf. Wehner beobachtete erstaunt, dass die Ameise nun direkt zu ihrem Nest zurücklief – nicht mehr als ein kleines Loch im Boden, über hundert Meter entfernt. Da das Tier den Eingang aus dieser Entfernung keinesfalls gesehen haben konnte, stellte sich die Frage, wie das möglich war.

Sechs Wochen lang arbeiteten die Forscher in der Wüste bei Gabès, doch sie wurden so häufig von neugierigen Passanten gestört, dass Wehner beschloss, einen abgelegeneren Ort zu suchen. Später im selben Jahr kehrte er mit einem kleinen Team von Studenten nach Tunesien zurück und fand den idealen Fleck. Nahe dem Küstenort Maharès, der zu jener Zeit kaum mehr als ein Dorf war, befand sich ein salziges Sandwatt, und dort schlugen sie ihr Lager auf. Damals hatte Wehner keine Ahnung, dass diese Expedition den Beginn einer weitgehend der Wüstenameise gewidmeten wissenschaftlichen Laufbahn markieren sollte und dass er mehr als dreißig Jahre lang jeden Sommer nach Tunesien zurückkehren würde.

Maharès war 1969 kein Urlaubsziel, doch Wehner und seine Frau Sibylle – ebenfalls Biologin und bei fast all seinen Wüstenexpeditionen mit dabei – waren tatkräftig und erfinderisch. Lebensmittel waren nur schwer zu beschaffen, und bei der Arbeit waren sie der zehrenden Hitze der Wüste ausgesetzt. Mit der Unterstützung eines Verwalters fanden sie eine einfache Unterkunft im Haus eines Einheimischen, doch ihre Tätigkeit sorgte unter den Dorfbewohnern für einige Verwirrung und bisweilen sogar Argwohn. Einmal wurden die Wehners von der Polizei für Spione gehalten, und nur Sibylles Sprachkenntnisse bewahrten sie vor ernsthaften Problemen.

Santschi hatte schon einige Zeit zuvor nachgewiesen, dass Wüstenameisen ihren Weg zurück finden können, selbst wenn sie vom Himmel nur einen kleinen Kreisausschnitt sehen. Und von Frisch war später zu der Erkenntnis gekommen, dass Honigbienen über eine Art Sonnenkompass verfügen, der sich auf polarisiertes Licht stützt. Es war zu vermuten, dass die Ameisen das gleiche System nutzten, doch das wusste noch niemand so genau. Und auch die Frage, wie solch ein System – selbst bei Bienen – eigentlich funktionierte, war immer noch ein Rätsel. Wehner nahm diese lohnende Herausforderung gerne an.

Zuerst wollte er untersuchen, welche Rolle die Augen der Ameisen für ihre Orientierung spielten. Ameisen kann man natürlich viel leichter folgen als Bienen. Schon bald spürte Wehner ihnen durch den glühend heißen Sand nach, indem er ein kunstvoll konstruiertes Gestell auf Rädern mit verschiedenen Filtern über den Pfaden hin und her rollte. Dieses bewegliche »optische Laboratorium« schirmte die Ameisen auch vom Wind ab und verhinderte, dass sie mögliche Orientierungspunkte sehen konnten. Mithilfe dieser Apparatur wies Wehner nach, dass das Heimfindevermögen der Ameisen zum Teil tatsächlich von ihrer Sensitivität für polarisiertes Licht abhängig ist.

Daraufhin ging Wehner zurück ins Labor. Er entdeckte anhand eines Elektronenmikroskops entlang des nach oben zeigenden (dorsalen) Randes des Ameisenauges einen Bereich von Zellen, die ideal geeignet erschienen, um auf diese Art von Licht zu reagieren. Indem Wehner verschiedene Teile der winzigen Facettenaugen der Ameisen übermalte, konnte er zeigen, dass dieser sogenannte »dorsale Randbereich« (dorsal rim area, DRA) nicht nur entscheidend dafür war, dass die Ameisen polarisiertes Licht wahrnehmen können; er unterstützte außerdem einen Sonnenkompass mit Zeitausgleich. Diese Entdeckung, die bald auch durch Experimente mit Honigbienen bestätigt wurde, bedeutete einen großen Durchbruch. Beinahe jedes seither untersuchte Insekt weist eine ähnliche spezialisierte Region für die Wahrnehmung von polarisiertem Licht auf. Der dorsale Randbereich bildet tatsächlich die Grundlage für einen herkömmlichen Insektenkompass, dessen entwicklungsgeschichtliche Ursprünge sehr weit zurück liegen müssen.

Als Nächstes wollte Wehner herausfinden, welche Bereiche des Ameisengehirns die Signale des dorsalen Randbereichs verarbeiten. Doch das Gehirn ist so winzig – kleiner als eine Stecknadelspitze –, dass sich das Verhalten einzelner Zellen darin unmöglich untersuchen ließ. Wehner und seine Kollegen mussten sich stattdessen auf Analogien stützen, die von der Forschung an den viel größeren Gehirnen von Grillen und Heuschrecken gezogen wurden; nur so konnten sie eine Vorstellung von den Prozessen gewinnen, auf denen der Polarisationslichtkompass der Ameisen beruht. Schon bald machten sie Hirnzellen aus, die auf polarisiertes Licht reagierten. Seither wurde ein Großteil der Schaltungen enträtselt, die bei der Verarbeitung von Informationen aus polarisiertem Licht eine Rolle spielen.2

Die Ameise ist sicherlich keine Miniaturversion des menschlichen Navigators, der sich am Himmel orientiert. Sie führt keine komplexen Berechnungen durch, um den Lauf der Sonne am Himmel auszugleichen. Das muss sie auch nicht, denn sie verfügt über ein viel einfacheres System.

Dieses System besteht aus zwei Teilen. Zum einen nutzt die Wüstenameise etwas, das Wehner in Anlehnung an die Nachrichtentechnik als »Optimalfilter« (matched filter, auch Signal-angepasster Filter) bezeichnet.3 Die Ameise gleicht das, was sie sieht, förmlich mit einem Modell der E-Vektor-Muster am Himmel ab, das in ihren Augen eingebaut ist. Diese physikalische Schablone erfasst automatisch die Richtung der Sonne, und dementsprechend wählt die Ameise ihren Kurs.

Zum anderen kommt ein zweiter Mechanismus ins Spiel – wie bei der Honigbiene. Dabei handelt es sich um eine innere Uhr, die im Gehirn der Ameise vor sich hin tickt und es ihr ermöglicht, den sich verändernden Sonnenazimut auszugleichen. Unter normalen Bedingungen funktioniert dieser Prozess gut, doch die Ameisen kommen mitunter vom Weg ab, wenn sie nicht das gesamte Polarisationsmuster sehen können, etwa bei einem teilweise bedeckten Himmel.

Die Futter suchende Wüstenameise verlässt sich, genau wie Bagnolds LRDG-Navigatoren, auf einen Sonnenkompass, um in den eintönigen Salzebenen einen geraden Kurs beizubehalten. Ein Kompass allein wäre jedoch kein ausreichendes Hilfsmittel, um den Weg nach Hause zu finden, und die Koppelnavigation erfordert eine Methode, um Entfernungen zu messen. Wie um alles in der Welt soll eine Ameise so etwas bewerkstelligen?

Möglicherweise nutzt die Ameise einen visuellen Effekt, den Wissenschaftler als »optischen Fluss« bezeichnen. Dieses Phänomen klingt zwar sehr komplex, ist im Grunde aber sehr einfach: Wenn wir uns bewegen, scheint die Umgebung an uns vorbeizufliegen, und zwar in einer Geschwindigkeit, die davon abhängt, wie weit einzelne Objekte von uns entfernt sind und wie schnell wir uns bewegen. Wenn wir zur Seite blicken, wirkt es so, als bewegten sich nähere Gegenstände schneller als weiter entfernte. Und solche, die direkt vor uns sind, scheinen größer zu werden, wenn wir uns auf sie zubewegen. Ausgeklügelte Experimente haben gezeigt, dass Bienen diesen optischen Fluss nutzen, um Hindernissen auszuweichen, sicher zu landen und auch um nachzuverfolgen, wie weit sie auf ihren Sammelflügen geflogen sind.4 Diese Messungen des optischen Flusses sind einer der Faktoren, die über die Form der Tänze entscheiden, welche die Bienen auf der Oberfläche der Wabe vollführen.

Wüstenameisen nutzen den optischen Fluss ebenfalls, um zu bestimmen, wie weit sie sich auf ihren Sammelmärschen bewegt haben. Aber wie sich zeigt, ist das nicht die maßgebende Methode; sie haben noch einen weiteren Trick auf Lager.

Der Ameisenschrittmesser

Bereits 1904 wurde die Vermutung geäußert, dass Ameisen vielleicht Entfernungen messen, indem sie ihre Schritte zählen – so wie sich die LRDG-Navigatoren zur Ermittlung der zurückgelegten Strecken auf die Kilometerzähler ihrer Lastwagen verließen (mit denen Radumdrehungen gezählt wurden). Das war eine interessante Theorie, aber niemand hatte eine Möglichkeit gefunden, sie zu überprüfen, bis Wehners Student Matthias Wittlinger auf die geniale Idee kam, die Länge der Ameisenschritte physikalisch zu verändern. Dafür dachte er sich eine praktische, wenn auch drastische Methode aus.5

Zunächst richtete Wittlinger normale Ameisen darauf ab, zu einer zehn Meter von ihrem Nest entfernten Futterstelle zu marschieren und wieder zurückzukehren. Anschließend setzte er sie auf demselben Terrain in einen hochwandigen Testkanal, von dem aus sie keine Orientierungspunkte sehen konnten, die die Position ihres Nestes verraten hätten. Nachdem Wittlinger die Ameisen an der Futterstelle am Ende der Rinne ausgesetzt hatte, maß er, wie weit sie heimwärts krabbelten, bevor sie anfingen, sich nach ihrem Nest umzusehen. Diese trainierten Ameisen wurden schließlich einer Prozedur unterzogen, die euphemistisch als »experimentelle Manipulation« bezeichnet wurde.

Wittlinger befestigte an den Beinen einiger Ameisen Stelzen aus Schweineborsten (wodurch sich deren Schritte verlängerten); bei anderen Ameisen verkürzte er die Beine (mit der gegenteiligen Auswirkung) – ein drakonisches Vorgehen, das die Ameisen scheinbar mit überraschender Gelassenheit erduldeten. Die Stelzenläufer wie auch die Amputierten wurden dann erneut am hinteren Ende des Testkanals ausgesetzt. Der Forscher wollte herausfinden, ob die veränderte Beinlänge sich darauf auswirkte, wie weit die Ameisen marschierten, bevor sie nach ihrem Nest suchten. Die Ergebnisse waren spektakulär: Die mit den Stelzen krabbelten über den Standort des Nestes hinaus, während die mit den Stümpfen weit vorher innehielten. Wie von der Theorie vorausgesagt, schätzten die Stelzenläufer die Entfernung zurück zum Nest zu groß und die Amputierten diese dagegen zu gering ein.

Damit war das Experiment aber noch nicht abgeschlossen. Als Nächstes sollten die manipulierten Ameisen die Strecke zur Futterstelle ohne Wittlingers Einwirkung zurücklegen. Auf dem Rückweg verhielten sich die Versuchstiere fast genauso wie normale Ameisen und schätzten korrekt, wo das Nest lag. Dies erschien einleuchtend: Unabhängig davon, ob die Beine verlängert oder verkürzt worden waren, erforderte der Rückweg die gleiche Anzahl von Schritten wie der Hinweg.

Mithilfe ihres Sonnenkompasses und ihres Schrittzählers findet die Wüstenameise ihren Weg direkt zurück zum Ausgangspunkt, dem Nest. Mehr noch: Dabei spielt es keine Rolle, wie gewunden ihr Hinweg ist. Dies ist ein treffendes Beispiel für konkret eingesetzte Koppelnavigation. Doch genau wie die Koppelnavigation des Menschen ist das System der Ameise nicht vollkommen. Es ist anfällig für sich häufende Fehler, und da sich Cataglyphis manchmal mehrere Hundert Meter von ihrem Nest fortbewegt, können diese Abweichungen zunehmen.

Um herauszufinden, wie die Ameisen mit diesem Problem fertigwerden, stellte Wehner an gegenüberliegenden Seiten des Nests in gleicher Entfernung zwei schwarze Zylinder auf. Die Ameisen lernten rasch, diese auffälligen Erkennungszeichen zu nutzen, um ihr Heim zu orten. Es war jedoch nicht klar, auf welche Merkmale der Zylinder die Ameisen achteten. Möglicherweise schätzten sie den Standort des Nestes, indem sie dessen Entfernung von den beiden Zylindern maßen, oder sie errechneten, welche Kompasskurse die Zylinder mit dem Nest verbanden – eine Form der Triangulation. Daher brachten Wehner und sein Kollege die Ameisen in ein Testareal, das weit von ihrem Zuhause entfernt war, und bauten die gleiche Anordnung auf, allerdings mit ein paar Veränderungen.

Als die Forscher den Abstand zwischen den Zylindern verdoppelten (nicht aber deren Größe veränderten), suchten die Ameisen nicht, wie man vielleicht erwarten würden, genau in der Mitte. Vielmehr wuselten sie um einen von beiden herum. Als aber auch die Größe der Zylinder verdoppelt wurde, verhielten sich die Ameisen gänzlich anders: Nun steuerten sie auf den Punkt in der Mitte zu.

Wehner folgerte daraus, dass die Ameisen eine Position suchten, von der aus die Zylinder genauso aussahen wie während der ersten Trainingseinheit. Auf der Suche nach ihrem Nest versuchten die umplatzierten Ameisen, eine zweidimensionale »Momentaufnahme« der ursprünglichen Anordnung mit der aktuellen Ansicht abzugleichen. Daher trippelten sie umher, bis sich die beste Entsprechung ergab – zwischen der erlernten »Mustervorlage« und dem gegenwärtigen Bild der Zylinder, das ihre Facettenaugen wahrnahmen.

Wie bereits erwähnt, drehen sich die von Eric Warrant erforschten Schweißbienen um und sehen sich ihr Nest aus verschiedenen Richtungen an, wenn sie ausfliegen. Wüstenameisen verhalten sich ähnlich; sie machen »Lernspaziergänge«, auf denen sie ihr Nest in immer größer werdenden Schleifen umkreisen. Hin und wieder halten sie kurz inne und blicken zu dem fast unsichtbaren Nesteingang zurück. Dabei prägen sie sich die Ansichten aus verschiedenen Blickwinkeln ein.

Wenn die Ameisen von der Futtersuche zurückkehren, rufen sie diese Bilder ab, um ihren Heimweg zu finden. Für dieses System des Bildabgleichs muss die Ameise die geometrischen Verhältnisse zwischen den Orientierungspunkten nicht verstehen. Insofern unterscheidet sie sich von der Honigbiene, die bemerkenswerterweise lernen kann, wie sich verschiedene Landmarken zu einer Nahrungsquelle hinsichtlich der sie verbindenden Kompasspeilungen verhalten – genau wie der Kiefernhäher.6

Auf diesen Erkenntnissen aufbauend, ist es Wehner und seinen Kollegen sogar gelungen, ein Roboterfahrzeug zu programmieren, das den Polarisationslichtkompass und die Landmarkenerkennung der Ameise nachahmt. Das Fahrzeug mit dem verspielten Namen »Sahabot« (als Kurzform für »Sahara-Roboter«) kann genau die gleichen Manöver durchführen wie eine echte Ameise.7 Die Wissenschaftler deckten auch viele weitere Navigationswerkzeuge der Wüstenameisen auf. So dienen den Tieren unter anderem die Windrichtung sowie Vibrationen und Gerüche als zusätzliche Richtungshinweise. Die Ameisen können sogar den unebenen Boden für die Einschätzung der zurückgelegten Strecke nutzen. Und dass sich diese bemerkenswerten Tiere auch anhand des Magnetfelds der Erde orientieren können, ist die neueste Erkenntnis.8 Ihre Fähigkeiten scheinen unbegrenzt zu sein.

Das Habitat der Wüstenameise ist extrem unwirtlich, und sie muss mitunter so hohe Temperaturen überstehen, dass sie nur kurze Zeitspannen im Freien aushalten kann. Aus diesem Grund hat sie lange Beine; so ist sie weiter vom glühenden Boden entfernt und kann auch sehr schnell laufen. Wehner hat sie treffend als »das Rennpferd der Insektenwelt« bezeichnet. Eine Spezies hat sogar besonders geformte Haare auf dem Leib, mit denen sie ihre Körpertemperatur besser regulieren kann.9 Dass sie in der Lage ist, die kürzeste Route zurück in den Schutz des heimisches Nestes zu finden, ist mehr als nur eine Frage der Effizienz – es geht schlichtweg ums Überleben.

Darwin war tief beeindruckt von dem kleinen Geschöpf: »So sind ja die wunderbaren verschiedenen Instincte, geistigen Kräfte und Affecte der Ameisen allgemein bekannt, und doch sind ihre Kopfganglien nicht so gross als das Viertel eines kleinen Stecknadelkopfs. Von diesem letzteren Gesichtspunkte aus ist das Gehirn einer Ameise das wunderbarste Substanzatom in der Welt und vielleicht noch wunderbarer als das Gehirn des Menschen.«10 Es hätte ihn sicher erfreut und fasziniert, von Wehners Entdeckungen zu erfahren.

Der Neurowissenschaftler Stanley Heinze, der an der Universität Lund Insektennavigation erforscht, stellte Folgendes fest: »Eine der Hauptfunktionen aller Gehirne besteht darin, ausgehend von sensorischen Informationen eine Einschätzung des aktuellen Zustands der Welt zu generieren und diese dann mit dem erwünschten Zustand der Welt abzugleichen. Stimmen die beiden nicht überein, wird kompensierendes Handeln eingeleitet, das wir als Verhalten bezeichnen.«11 Das gilt für Insekten ebenso wie für komplexere Lebewesen wie den Menschen.

Verglichen mit Vögeln und Säugetieren haben Insekten winzige Gehirne. Während das menschliche Gehirn ungefähr 85 Milliarden Nervenzellen aufweist, verfügt das einer Wüstenameise gerade einmal über rund 400 000. Aber obwohl das Gehirn der Wüstenameise klein und weit weniger vielseitig ist als das des Menschen, ist es absolut geeignet für die begrenzte Bandbreite an Aufgaben, die es erfüllen muss. Das Verhalten der Wüstenameise wird zwar weitgehend von Hirnschaltungen bestimmt, die »fest verdrahtet« sind, doch Ameisen und Bienen (sowie andere Insekten) können, wie wir gesehen haben, aus der Erfahrung lernen und sich ein bestechend vielfältiges Repertoire an Navigationshilfsmitteln zulegen. So verwundert es nicht, dass Konstrukteure von Robotern und autonomen Fahrzeugen sich einiges von ihnen abschauen.12

Die Gehirne solch unterschiedlicher Insektenarten wie Wüstenameisen, Fruchtfliegen, Nachtfaltern, Bienen, Heuschrecken und Kakerlaken weisen zwei Strukturen auf, die für die Navigation von großer Bedeutung zu sein scheinen. Der sogenannte Pilzkörper dient als Langzeitgedächtnisspeicher für olfaktorische und visuelle Eindrücke, und der Zentralkomplex steuert den Kurs, dem das Tier folgt, wobei hier in vielen Fällen die Polarisationsmuster des Himmels genutzt werden. Weil diese Strukturen so häufig vorkommen, geht man davon aus, dass sie sich in einem sehr frühen Stadium des Evolutionsprozesses entwickelt haben müssen. Wie genau das Tier entscheidet, welchen Weg es einschlägt, und die entsprechenden Bewegungen einleitet, ist immer noch ein ungelöstes Rätsel; doch Wechselwirkungen zwischen dem Pilzkörper und dem Zentralkomplex scheinen dabei eine entscheidende Rolle zu spielen.13

– – – –

Die Leistenkrokodile in Südostasien und Australasien sind die größten Reptilien der Welt – und haben die unliebsame Gewohnheit, unvorsichtige Menschen zu fressen. Sie erwecken vielleicht den Anschein, nur träge herumzudümpeln, doch sie können sich über kurze Entfernungen sehr schnell bewegen und in gemächlicherem Tempo sogar Hunderte Kilometer zurücklegen.

Im Jahr 2007 zeigte eine faszinierende Studie, dass diese Tiere außerdem sehr gut darin sind, den Weg zurück zu ihrem angestammten Habitat zu finden. Drei ausgewachsene männliche Krokodile wurden eingefangen und mit Satellitenpeilsendern ausgestattet. Dann wurden sie in Schlingen unter einem Helikopter an verschiedenen Stellen auf der Kap-York-Halbinsel im australischen Queensland ausgesetzt. Nachdem sie scheinbar eine Zeit lang darüber nachdachten, was zu tun war, machten sich alle drei auf den Weg und kehrten genau an jene Orte zurück, an denen sie eingefangen worden waren.

Eines der Krokodile legte in fünfzehn Tagen 99 Kilometer entlang der Küste zurück. Ein weiteres schaffte 52 Kilometer in nur fünf Tagen. Das war recht beeindruckend, aber nichts im Vergleich zu der Distanz, die das dritte Krokodil bewältigte. Es wurde quer über die gesamte Kap-York-Halbinsel transportiert, von West nach Ost, Luftlinie 126 Kilometer. Selbstverständlich konnte das Tier seine Reiseroute nicht zurückverfolgen, aber es gelangte dennoch nach Hause zurück, indem es um die Nordseite der Halbinsel herumpaddelte. Für 411 Kilometer benötigte es nur zwanzig Tage.

Niemand weiß, wie diese Tiere zurückfanden, doch das Experiment liefert eine wertvolle praktische Lektion: Es ist offensichtlich wenig sinnvoll, Krokodile, die eine Gefahr für den Menschen darstellen, einfach nur umzusiedeln.14

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