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Von Frisch kam zu folgendem Schluss: Wenn die Bienen diese Muster wahrnehmen können, ist es überhaupt nicht nötig, dass sie die Sonne selbst sehen; die E-Vektoren allein ermöglichen es ihnen, den Sonnenazimut zu ermitteln. Diese These konnte er schon bald mithilfe von polarisierenden Filmen beweisen, die er während einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten von Edwin Land, dem Erfinder der Polaroid-Kamera, erhielt.4

Honigbienenuhren

Die Entdeckung, dass Honigbienen Polarisationsmuster am Himmel wahrnehmen können und sich daran orientieren, auch wenn die Sonne selbst nicht sichtbar ist, war ein bedeutender Durchbruch. Doch nur, weil das Tier den Sonnenazimut kennt, kann es noch lange nicht einen direkten Kurs beibehalten – zumindest nicht auf Dauer. Irgendwie muss es die ständige Fortbewegung der Sonne über den Himmel ausgleichen. Und das bedeutet, dass es die Zeit mitverfolgen muss. War es möglich, dass Honigbienen zusätzlich zu ihren anderen erstaunlichen Fähigkeiten auch noch über eine innere Uhr verfügten?

Ein interessanter Hinweis war 1929 aufgetaucht, doch dessen Bedeutung war nicht sofort erkannt worden. Eine von Karl von Frischs Studentinnen, Inge Beling, hatte damals Folgendes festgestellt: Wurden Honigbienen mehrere Tage lang zur gleichen Zeit gefüttert, tauchten sie an den nachfolgenden Tagen genau zur selben Zeit am Futterplatz auf. Spätere Versuche zeigten, dass dieses bemerkenswerte Verhalten nicht auf irgendwelchen äußeren Hinweisen wie etwa dem sich verändernden Sonnenazimut beruhte. Damals fragte sich von Frisch, ob dieser Mechanismus »eine sinnlose Gabe der Natur« sei oder irgendeine biologische Bedeutung habe.5 Erst zu Beginn der 1950er-Jahre konnte er eine eindeutige Antwort auf diese Frage geben.

Mit der Unterstützung seines Studenten Martin Lindauer (1918–2008) richtete von Frisch einige Bienen darauf ab, am Nachmittag – wenn die Sonne im Westen stand – eine Futterquelle aufzusuchen, die sich ungefähr 180 Meter nordwestlich von ihrem Stock befand. Anschließend verfrachteten die Forscher den Stock an einen völlig neuen Standort, der den Bienen gänzlich unbekannt war (sodass sie sich auch nicht an vertrauten Landmarken orientieren konnten). Dann stellten sie im Abstand von 180 Metern rings um den Stock Schälchen mit Konditionierungsfutter auf, und zwar in vielen verschiedenen Richtungen. Weil es Vormittag war, stand die Sonne im Osten. Trotzdem fand die Mehrzahl der Bienen den Weg zu dem Futternapf, der im Nordwesten des Korbes stand, wo sie am Tag zuvor hindirigiert worden waren. Die einzige mögliche Erklärung war die, dass die Bienen den sich verändernden Azimut der Sonne berücksichtigten.6 Und dazu mussten die Bienen eindeutig in der Lage sein, den Verlauf der Zeit nachzuverfolgen.

Auch eine weitere überraschende Beobachtung lieferte die Bestätigung dafür, dass Bienen über einen Sonnenkompass mit Zeitausgleich verfügen. Wenn Bienen ausschwärmen und sich einen Standort für ein neues Nest suchen, senden sie zunächst Kundschafter aus. Diese vollführen nach ihrer Rückkehr Tänze, die manchmal mehrere Stunden lang dauern und die Richtung des empfohlenen Standorts anzeigen. Daraufhin fliegen andere Bienen los, um diese Stelle zu inspizieren. Sobald ein Konsens gefunden wurde, fliegt der Schwarm zu dem demokratisch ausgewählten neuen Stammsitz. Im Lauf dieser Marathontänze verändert sich die Ausrichtung des Schwänzeltanzes der Kundschafter entsprechend dem sich verändernden Azimut der Sonne. Das wäre nicht sonderlich beeindruckend, wenn die Bienen die Sonne oder den Himmel sehen könnten, doch sie gleichen die Richtung ihres Tanzes selbst dann aus, wenn sich ihr Stock in einem abgedunkelten Raum befindet.7

Von Frischs Enthüllungen über das Orientierungsvermögen der Honigbiene erregten großes Aufsehen, denn sie schienen darauf hinauszulaufen, dass Insekten – obwohl sie so winzig sind – höchst anpassungsfähig und vielleicht sogar intelligent sind. Für viele Forscher seiner Zeit war das nur schwer zu akzeptieren. Sie waren aus Prinzip davon überzeugt, dass Tiere wie Bienen einfach nicht so hoch entwickelt sein konnten.

Als Problem sah man jedoch die Tatsache, dass von Frisch, genau wie Tinbergen, die meisten seiner Versuche im Freien durchführte, in einem natürlichen Umfeld, das sich nicht so exakt kontrollieren ließ wie ein Laboratorium in geschlossenen Räumen. Den Weißkitteln war es vermutlich schwergefallen, die Thesen eines Mannes ernst zu nehmen, der in Lederhosen über Bergwiesen stiefelte. Vielleicht mischte sich in ihre Skepsis auch ein wenig Neid.

Von Frischs Arbeiten waren jedoch von solcher Sorgfalt und Eleganz, dass sich die meisten Zweifler schon bald überzeugen ließen. Ein führender britischer Verhaltensforscher jener Zeit, William Thorpe (1902–1986), der von Frisch kurz nach dem Krieg besuchte, merkte in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature an: »Dem Zoologen sei in der Tat verziehen, wenn er anfangs Skepsis empfindet – trotz der immensen Ausführlichkeit und Gründlichkeit der Untersuchung.«

Thorpe erwähnte einen Kollegen, der beinahe »leidenschaftlich ungewillt« war, von Frischs Befunde anzuerkennen, deren Folgerungen zugegebenermaßen »sicherlich revolutionär« waren. Thorpe selbst war überzeugt und kam begeistert zu dem Schluss, das Verhalten der Arbeiterbiene zeuge von einer »elementaren Form des Kartierens und Kartenlesens, einer symbolischen Handlung, bei der die Richtung und Bewegung der Schwerkraft8 ein Symbol für die Richtung und den Einfall der Sonnenstrahlen sind«.

Von Frischs revidierte Auslegung des Schwänzeltanzes fand zwar immer mehr Anerkennung und stieß auch weit außerhalb der Zoologie auf Interesse, doch nicht jeder konnte seinen Thesen etwas abgewinnen. Gegen Ende seiner Laufbahn wurden erneut Zweifel in einer besonders beunruhigenden Form laut; im Jahr 1967 veröffentlichten zwei junge amerikanische Forscher die Ergebnisse neuer Versuche mit Honigbienen samt umfangreichen Statistiken, die von Frischs zentrale Erkenntnisse direkt infrage stellten. Es war ein Glück für den alternden Wissenschaftler, dass Studien, die 1970 erschienen, zu den gleichen Ergebnissen kamen wie er und seine Schlussfolgerungen bestätigten.9

– – – –

Die Küstenseeschwalbe mit ihren pfeilförmigen Flügeln und ihrem geschickten Tauchflug genießt einen ewig währenden Sommer, indem sie zwischen dem hohen Norden und dem tiefen Süden pendelt. Doch bis vor Kurzem war das wahre Ausmaß ihrer saisonalen Wanderungen nicht klar. Im Juni 2011 fingen holländische Wissenschaftler in den Niederlanden sieben Küstenseeschwalben ein und brachten an deren Beinen sogenannte Geolokatoren an, die jeweils ganze 1,5 Gramm wogen. Diese Geräte zeichneten täglich den Zeitpunkt des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs auf. Nachdem fünf der Tiere ein Jahr später wieder eingefangen wurden, konnten die Forscher anhand dieser Informationen die Reisen der Vögel rekonstruieren. Die Küstenseeschwalben hatten sich im Durchschnitt 273 Tage fern von ihren Kolonien in den Niederlanden aufgehalten und 90 000 Kilometer zurückgelegt. Dies zählt (bisher) als der längste je dokumentierte Vogelzug; er übertrifft frühere Schätzungen für dieselbe Spezies um rund 20 000 Kilometer. Bei einer vorherigen Studie hatte man beobachtet, dass Küstenseeschwalben aus Grönland überwiegend im nördlichen und südlichen Atlantik verweilten, wobei sie in einer annähernden Achterkurve hinunter in die Antarktis und wieder zurück flogen. Die Vögel aus den Niederlanden hingegen wanderten zunächst bis zur Südspitze Afrikas und flogen dann quer über das Südmeer fast bis Australien, bevor sie nach Süden zur Antarktis steuerten und schließlich über den Atlantik nach Hause zurückkehrten. Sie bewältigten damit eine viel längere Runde.10

Bislang kann niemand mit Sicherheit sagen, wie die Küstenseeschwalbe über die riesigen Weiten des offenen Meeres navigiert beziehungsweise wie sie ihre Brutkolonien ausfindig macht.

6. KAPITEL
Koppelnavigation

Heutzutage erscheint es erstaunlich, dass einst so viele Seeleute bereit waren, ihr Leben bei der Überquerung der Ozeane aufs Spiel zu setzen – zu einer Zeit, als die verfügbaren Navigationsgeräte hoffnungslos unzulänglich waren. Sie gingen auf Reisen, die manchmal monatelang dauerten, und hatten keinerlei zuverlässige Hilfsmittel, um die eigene Position zu bestimmen. Da sich Frischkost nicht konservieren ließ und Trinkwasservorräte nur bei Regen aufgefüllt werden konnten, war die Hochseeschifffahrt ein weitaus riskanteres Unterfangen als heute. Navigationsfehler kosteten zahllose Seefahrer das Leben; allerdings fielen mehr Matrosen dem Skorbut, Durst oder Hunger zum Opfer als dem Schiffbruch. Und wie der erschöpfte Streifenwaldsänger deutlich zeigte, sind wir nicht die einzige Spezies, die vor solchen Problemen standen und stehen.

In der ferneren Vergangenheit war die Navigation auf offenen Gewässern ein so großes Wagnis, dass sich die meisten Seefahrer nach Möglichkeit vermutlich an vertraute Routen hielten – was aber gewiss nicht bedeutete, dass sie immer dicht an den Küsten blieben. Solange sie in etwa wussten, wie weit und in welche Richtung sie fahren mussten, und ihre Geschwindigkeit sowie ihren Kurs ungefähr schätzen konnten, durften sie allemal darauf vertrauen, ihr Ziel zu erreichen. Seeleute auf der nördlichen Halbkugel konnten anhand der Höhe des Polarsterns über dem Horizont bequem den Breitengrad feststellen. Und etwa ab dem Jahr 1500 war es dank der sorgfältigen Beobachtungen von Astronomen auch möglich, den Breitengrad zu bestimmen, indem man den Stand der Sonne zur Mittagszeit maß.

Sofern der Breitengrad eines Ziels bekannt war, konnten sich Seefahrer darauf verlassen, es früher oder später zu erreichen; sie mussten einfach entlang dieses Grades segeln. Aber außer Sichtweite von Land war eine genaue Positionsbestimmung aussichtslos, weil sie keine Möglichkeit hatten, ihren Längengrad zu ermitteln. Deshalb ließ sich nie genau sagen, wann sie an ihrem Ziel ankommen würden – eine gefährliche Lage, besonders bei üblem Wetter und schlechter Sicht.

Weil die Längengrade nicht gemessen werden konnten, gab es auch keine genauen Karten. Schätzungen etwa zur Breite des Pazifischen Ozeans schwankten um Tausende Kilometer. So waren beispielsweise die Positionsdaten der Salomoninseln, welche die Spanier Mitte des 16. Jahrhunderts entdeckt hatten, für zweihundert Jahre verloren gegangen. Selbst die Karten für vertraute europäische Gewässer waren häufig sehr ungenau. Das sogenannte Längengradproblem* wurde erst Mitte des 18. Jahrhunderts gelöst, obwohl verschiedene europäische Regierungen in den vorausgegangenen zweihundert Jahren hohe Belohnungen ausgesetzt hatten; und selbst danach dauerte es noch eine ganze Weile, bis die meisten Seeleute Zugang zu der neuen Technologie hatten und diese anzuwenden wussten.1

Wie also navigierten die Schiffer früher auf hoher See?

Abgesehen von astronomischen Beobachtungen standen ihnen drei einfache Hilfsmittel zur Verfügung: der Magnetkompass (der in Europa wohl ab dem 12. Jahrhundert genutzt wurde), das Handlog und das Handlot.

Der Kompass ermöglichte es natürlich, einen stetigen Kurs zu steuern, doch das war nicht annähernd so einfach, wie es vielleicht klingt; diese Instrumente waren für eine potenziell gefährliche Störung anfällig, die sogenannte Kompassabweichung. Magnetische Eisenobjekte an Bord des Schiffs beeinflussten die Kompassanzeige, und verwirrenderweise variierte der Einfluss, je nachdem, in welche Richtung das Schiff fuhr.

Erst im 19. Jahrhundert verstand man dieses rätselhafte Phänomen und entwickelte entsprechende Hilfsmittel. Zudem dauerte es sehr lange, bis der Mensch begriff, dass mitunter eine große Abweichung zwischen rechtweisend Nord und missweisend Nord bestand und dass sich die Werte nicht nur von Ort zu Ort unterschieden, sondern auch im Lauf der Zeit veränderten.

Das Handlog war ein bleibeschwertes, dreieckiges Holzbrett am Ende einer langen, in regelmäßigen Abständen mit Knoten versehenen Leine. Das Log wurde achtern ins Wasser gelassen und für einen bestimmten Zeitraum, der mit einer Sanduhr gemessen wurde, hinter dem Schiff hergezogen. Anhand der Anzahl von Knoten, die an der Leine abgelaufen waren, ließ sich die Geschwindigkeit des Schiffes im Wasser errechnen. Ein Knoten wurde als eine Seemeile (1,852 Kilometer) pro Stunde definiert. Diese Methode war recht effektiv, auch wenn die Kalibrierung des Logs häufig Probleme bereitete.

Das Handlot war sogar noch simpler. Es bestand schlicht aus einer langen Leine mit einem konischen Bleiklumpen am Ende, die über die Reling geworfen wurde, um die Wassertiefe zu messen. Indem man etwas Fett oder Talg in eine Höhlung am unteren Ende des Bleiklumpens schmierte, konnte man auch die Beschaffenheit des Meeresbodens bestimmen; so ließ sich feststellen, ob er beispielsweise aus Sand, Kies oder Schlick bestand. Karten von Küstengewässern zeigten die Eigenschaft des Meeresgrundes an. Solche Informationen in Verbindung mit den Tiefenangaben konnten dabei helfen, die ungefähre Position des Schiffes zu ermitteln.

Das herkömmliche Handlot nützte auf dem offenen Meer – bei einer üblichen Wassertiefe von mehreren Tausend Metern – natürlich gar nichts. Dort draußen konnten die alten Seefahrer ihre Position nur anhand eines einfachen Hilfsmittels schätzen: Sie zeichneten auf, wie lange sie in eine bestimmte Richtung gesegelt waren. Zehn Stunden Fahrt mit fünf Knoten auf einem westlichen Kurs bedeutete also, dass man sich fünfzig Seemeilen weiter westlich befand als zehn Stunden zuvor. Das war jedenfalls zu hoffen.

Indem man jede Änderung der Geschwindigkeit und der Richtung protokollierte (meist an einer schlichten Stecktafel, da die meisten Seeleute Analphabeten waren), konnte man theoretisch errechnen, wo man sich relativ zum Ausgangspunkt befand – selbst nachdem man mehrere Male Kurs und Tempo geändert hatte. Diese Methode wird als Koppelnavigation bezeichnet.2 Ihr Ursprung liegt weitgehend im Dunkeln, doch sie reicht mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurück.

Bedauerlicherweise ist die Koppelnavigation sehr unzuverlässig. Sie ist ausgesprochen fehleranfällig, weil sich viele Störfaktoren nur sehr schwer kalkulieren lassen. Zum einen treten Strömungen auf, die selbst im tiefen Ozean stark sein können. Sie sind unmöglich zu erkennen, es sei denn, man kann die eigene Position irgendwie festmachen. Vielleicht fährt man dem Log zufolge mit fünf Knoten, und der Kompass mag als Fahrtrichtung West anzeigen; wenn aber der gesamte Ozean in Bewegung ist, segelt man möglicherweise in eine ganz andere Richtung und mit einer anderen Fahrgeschwindigkeit.

Zum anderen neigen Segelschiffe dazu, »durchzusacken«, wenn der Wind nicht genau von rückwärts weht. Mit anderen Worten: Sie driften seitlich ab, während sie sich vorwärtsbewegen. Das Ausmaß dieser Abdrift lässt sich zwar schätzen, indem man abgleicht, wie weit sich das Kielwasser gegenüber dem gesteuerten Kurs verschiebt, doch das ist keine exakte Methode.

Auch der Steuermann sollte berücksichtigt werden. Manche Rudergänger können ein Schiff gut auf Kurs halten, andere sind hingegen weniger zuverlässig. Am Ende einer jeden Wache mag dem Navigator versichert werden, dass das Schiff mit einer bestimmten Fahrt konstant nach Westen gesegelt ist, doch in Wahrheit ist es womöglich einem viel unregelmäßigeren Weg gefolgt, und auch das Tempo mag geschwankt haben. Und natürlich muss man auch immer das Wetter bedenken. Wenn ein Schiff vor einem Sturm hergetrieben wird, ist es unmöglich, überhaupt etwas zu protokollieren; und bei einer Flaute driftet es einfach dahin, den unsichtbaren Strömungen ausgeliefert. Unter solchen Umständen versagt die Koppelnavigation vollständig.

Der britische Konteradmiral George Anson leitete in den 1740er-Jahren eine berühmte Expedition, die lebhaft veranschaulichte, wie unzuverlässig die Koppelnavigation sein konnte. Nachdem Anson unter katastrophalen Bedingungen mühsam Kap Hoorn umrundet hatte, glaubte er, seine kleine ramponierte Flotte sei weit genug in den Pazifik vorgedrungen, um gefahrlos nach Norden drehen und die Westküste Südamerikas entlangsegeln zu können. Er sollte sich jedoch auf eine böse Überraschung gefasst machen.

Anson war sich sicher, die Flotte befinde sich weit draußen auf See und fernab von Land. Mitten in der Nacht feuerte das Leitschiff einen Warnschuss ab. Der Verband steuerte auf seinen Untergang zu und drohte an den Felsklippen von Feuerland zu zerschellen, doch mit knapper Not kam er noch einmal davon. Bei der Koppelnavigation hatte sich der Admiral um ungefähr 500 Seemeilen (926 Kilometer) vertan. Später scheiterte sein erster Versuch, die Juan-Fernández-Inseln ausfindig zu machen, und da die Expedition unterwegs so viel Zeit verloren hatte, starben Dutzende Seeleute an Skorbut.

Mark Twain bewegt sich im Kreis

In den 1950er-Jahren bahnte sich ein gänzlich neues navigatorisches Problem an, als Atom-U-Boote entwickelt wurden, die monatelang abgetaucht operieren konnten. Zu jener Zeit war die Himmelsnavigation zwar längst ausgereift, und auch verschiedene funkgestützte Formen der Positionsbestimmung waren verfügbar, doch für Schiffe, die tief unter der Meeresoberfläche patrouillierten, standen solche Instrumente nicht bereit.3

Die Lösung lieferte ein Navigationssystem, das Beschleunigungen in drei Dimensionen erfasste – also Änderungen der Fahrtgeschwindigkeit und Ausrichtung des Schiffes –, und zwar mithilfe verschiedener Gyroskope. Ein Computer, der die Daten dieser Trägheitssensoren kombiniert, kann jedes Manöver des U-Bootes verfolgen und zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine genaue Positionsbestimmung liefern. Allerdings muss die Erdrotation berücksichtigt und das System von Zeit zu Zeit aktualisiert werden, weil es sonst allmählich abweicht. Dieses System, das als Trägheitsnavigation bezeichnet wird, kommt inzwischen häufig zum Einsatz, etwa bei Flugzeugen, Raketen und sogar Raumfahrzeugen.

Kurioserweise verwenden wir Menschen, und auch viele andere Wirbeltiere, einen ähnlichen Mechanismus: das Gleichgewichtssystem. Unser Innenohr kann Beschleunigungen wahrnehmen, ähnlich wie die Gyroskope an Bord eines U-Bootes. Allerdings funktioniert das menschliche Ohr auf andere Weise. Winzige Steinchen – sogenannte Otolithen – im Inneren der halbkreisförmigen Kanäle üben Druck auf reizempfindliche Härchen aus, die ihre Signale an das Gehirn weiterleiten, welches dann ermitteln kann, wie schnell und in welche Richtung sich der Körper bewegt. Das ist aber noch nicht alles. Das Gehirn erhält gleichzeitig wertvolle Rückmeldung von den Gelenken und Muskeln. Zählt man beispielsweise, wie viele Schritte man gegangen ist, kann man die zurückgelegte Strecke schätzen; und wenn man das Gefälle des Bodens und die erforderliche Anstrengung spürt, lässt sich beurteilen, ob man bergauf oder bergab geht.

Indem wir Informationen dieser verschiedenen »Selbstbewegungshinweise«4 kombinieren, können wir im Prinzip jederzeit nachverfolgen, wo wir gerade sind. Doch in der Praxis funktioniert dieses System leider nicht so gut, wie die folgende Geschichte verdeutlicht.

Nach einem Schneesturm sieht die Welt völlig anders aus. Viele der Landmarken, auf die sich der Reisende normalerweise verlässt, sind unsichtbar, und ohne ausreichende Ortskenntnis – beziehungsweise die Fähigkeiten eines Inuit-Jägers – kann er schnell in Schwierigkeiten geraten.

Genau diese Erfahrung machte der berühmte amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835–1910), als er Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Gefährten auf dem Weg in die Grenzstadt Carson City in Nevada war.

In seinem halb autobiografischen Reisebuch Durch Dick und Dünn schildert Twain, wie er und seine Begleiter, darunter ein besserwisserischer Preuße namens Ollendorff und ein gewisser Ballou, beinahe ihr eisiges Grab gefunden hätten. Eine dicke Schneeschicht bedeckte die Landstraße, und aufgrund der schlechten Sicht konnten sich die Reisenden nicht an der fernen Bergkette orientieren:

Die Sache sah bedenklich aus, doch Ollendorff erklärte, sein Instinkt reagiere so empfindsam wie ein Kompass und er fände schon den Weg nach Carson City, und zwar »Luftlinie«, ohne davon abzuweichen. Er sagte, wenn er einen einzigen Teilstrich von der richtigen Richtung abwiche, würde sein Instinkt ihm zusetzen wie ein empörtes Gewissen. Glücklich und zufrieden schlossen wir uns also seiner Führung an. Eine halbe Stunde lang tappten wir reichlich vorsichtig dahin, stießen dann aber auf eine frische Fährte, und Ollendorff rief stolz aus: »Hab doch gewusst, mein Instinkt ist so sicher wie ein Kompass, Jungs! Da sind wir genau in der Spur von Leuten, die uns den Weg ausfindig gemacht haben, ohne dass wir uns selber zu bemühen brauchen. Beeilen wir uns, damit wir uns ihnen anschließen können.«

Twain und seine Gefährten ließen ihre Pferde traben. Da die Spuren ihrer Vorgänger immer deutlicher wurden, folgerten sie, dass sie jene bald einholen mussten. Eine Stunde später sahen die Spuren »noch neuer und frischer« aus, und die Zahl der Reisenden vor ihnen schien erstaunlicherweise stetig zuzunehmen:

Wir fragten uns, wie denn ein solch großer Trupp dazu komme, zu so einer Zeit und in so einer Einsamkeit unterwegs zu sein. Einer von uns meinte, vielleicht sei es ein Trupp Soldaten aus dem Fort, und diese Lösung nahmen wir dann an und trabten noch ein bisschen schneller voran, denn sie konnten jetzt nicht mehr weit ab sein. Doch es wurden immer mehr Spuren, und wir dachten langsam, die Rotte Soldaten vermehre sich auf geheimnisvolle Weise zu einem Regiment – Ballou meinte, sie wäre bereits auf fünfhundert Mann angewachsen! Auf einmal hielt er sein Pferd an und sagte: »Mann, das sind ja unsere eigenen Spuren, und wir sind tatsächlich über zwei Stunden hier draußen in dieser blinden Wüste immerzu rundum im Kreis geritten. Verdammt und dreimal zugenäht, das ist glattweg hydraulisch.«5

In der Literatur und in volkstümlichen Überlieferungen findet man viele solcher Geschichten, die durch wissenschaftliche Studien tatsächlich bestätigt werden, wenngleich die Ursachen dieses Phänomens recht umstritten sind.

Bereits in den 1920er-Jahren argumentierte ein Forscher namens A. A. Schaeffer, der Mensch habe eine seltsame, angeborene Tendenz zur Spiralbewegung, die automatisch einsetze, wenn er nicht mehr sehen könne, wohin er geht. Das führe dazu, so Schaeffer, dass wir uns »im Kreis bewegen«.6 Andere dagegen behaupteten, sie hätten Beweise dafür, dass unterschiedliche Beinlängen, Änderungen der Körperhaltung, Ablenkungen oder Fehler beim Platzieren der Füße (um nur ein paar Beispiele zu nennen) dazu führen könnten, dass unser inneres Navigationssystem versagt.

Erst in jüngerer Zeit führte Jan Souman ein Experiment durch, bei dem er seine Probanden aufforderte, mit verbundenen Augen über ein großes ebenes Flugfeld zu gehen. Es gab keinerlei Geräusche, an denen sie sich hätten orientieren können. Souman fand heraus, dass die Versuchsteilnehmer keinen geraden Kurs beibehalten konnten – selbst über kurze Entfernungen. Sie folgten gewundenen und scheinbar willkürlichen Pfaden und bewegten sich häufig im Kreis. Am Ende zeigte sich, dass im Durchschnitt nicht mehr als etwa hundert Meter vom Ausgangspunkt zurückgelegt wurden.7

Soweit Souman feststellen konnte, wiesen diese Fehler keinerlei Muster auf, und es deutete auch nichts darauf hin, dass körperliche Merkmale wie unterschiedlich lange oder unterschiedlich starke Beine dafür verantwortlich waren. Ein anderer Forscher hatte zuvor untersucht, wie lange Probanden einen geraden Kurs auf ein Ziel hin beibehalten konnten, nachdem dieses plötzlich verdeckt wurde; sie schafften es nur rund acht Sekunden lang.8

Selbst wenn gewisse visuelle Informationen vorliegen, können wir nur für begrenzte Zeit einem direkten Kurs folgen – es sei denn, die Sonne oder der Mond scheint. Souman führte einen Test mit Personen durch, die sich ohne Augenbinden in zwei extrem unterschiedlichen Umgebungen ohne nützliche Orientierungspunkte bewegten: Sie marschierten durch einen deutschen Wald beziehungsweise die tunesische Wüste. Die Ergebnisse waren interessanterweise nicht einheitlich.

Bei bedecktem Himmel fiel es sämtlichen Versuchspersonen sehr schwer, geradeaus zu gehen, aber wenn die Sonne sichtbar war, schlugen sie sich viel besser und folgten oft über erstaunlich lange Distanzen einem direkten Kurs, selbst in unübersichtlichem und dichtem Wald. Auch ein Proband, der nachts in der tunesischen Wüste losmarschierte, schnitt recht gut ab, solange er den Mond sehen konnte; verschwand dieser jedoch hinter Wolken, machte der Versuchsteilnehmer mehrere scharfe Kurven und kehrte schließlich auf demselben Weg zurück.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die meisten Menschen am Licht der Sonne oder des Mondes orientieren können, indem sie eine einfache Form des Zeitausgleichs anwenden. Doch es gibt einen guten Grund für unsere Unfähigkeit, allein anhand von inneren Selbstbewegungssignalen einen konstanten Kurs beizubehalten: Es schleichen sich unweigerlich systematische Irrtümer ein, die sich vielfach anhäufen. Eine Richtungsverzerrung tritt daher irgendwann zwangsläufig auf. Wenn ein Lebewesen (jedweder Spezies) also auf dem richtigen Pfad bleiben will, muss es auf äußere Kontrollfaktoren zurückgreifen können, sei es in Form von Landmarken oder einer Art von Kompass. Ist dies nicht der Fall, gleicht sein Weg früher oder später einer Spirale.9

Womöglich hatte Schaeffer also doch recht – vielleicht besitzen wir tatsächlich eine angeborene Neigung, uns in Spiralen zu bewegen.

– – – –

Im Jahr 2009 verfolgte man den Flug eines Landvogels namens Pfuhlschnepfe, der ohne Unterbrechung in nur etwas mehr als acht Tagen den Pazifik überquerte, von Alaska bis Neuseeland – eine Distanz von 11 680 Kilometern.10 Da mehrere andere Vögel nur geringfügig kürzere Routen bewältigten, war dies eindeutig kein außergewöhnlicher Einzelfall. Doch dass ein Vogel, der mit den Flügeln schlagen muss, um Auftrieb zu gewinnen – im Gegensatz zum gleitenden Wanderalbatros –, so weit wandert, ist beinahe unvorstellbar und sehr beeindruckend; zumal Pfuhlschnepfen nicht auf dem Wasser landen können, denn wenn sie einmal nass sind, kommen sie nicht mehr in die Luft.

Diese bemerkenswert langen Flüge stellen extreme körperliche Anforderungen an die Pfuhlschnepfen, die den Grundumsatz ihres Stoffwechsels um den Faktor acht bis zehn erhöhen müssen, allein um in der Luft zu bleiben. Dieses Niveau der Kraftanstrengung müssen sie dann für die Dauer ihres Fluges aufrechterhalten. Um ihren Energiebedarf zu decken, mästen sich die Vögel vor dem Aufbruch, und ihre lebenswichtigen Organe schrumpfen, damit das Startgewicht auf ein Minimum reduziert wird. Wenn sie – mehr tot als lebendig – in Neuseeland ankommen, haben sie ein Drittel ihrer Körpermasse verloren.11 Doch das ist noch nicht alles. Die Vögel müssen auch ihren Weg über Tausende Kilometer offenen Meeres finden und unterwegs mit ungünstiger Witterung fertigwerden. Wie sie das schaffen, ist bislang unklar. Interessant ist allerdings, dass sie den Zeitpunkt ihres Abfluges von Alaska sorgfältig wählen, um von Rückenwinden zu profitieren.12

Warum aber fliegen die Pfuhlschnepfen direkt über das offene Meer, wenn sie ebenso gut dem Kontinentalrand Asiens folgen könnten? Hier scheinen mehrere Faktoren zusammenzuspielen. Die Vögel sparen wohl durch den Direktflug nicht nur wertvolle Zeit, sondern verringern auch den Gesamtbedarf an Energie. Indem sie über das Meer fliegen, meiden sie außerdem Räuber, wie etwa den Wanderfalken, und den Befall durch Parasiten und Krankheitserreger. Die Abwägung von Vor- und Nachteilen muss allerdings anders ausfallen, wenn sie wieder nach Norden ziehen, da sie dann weitgehend dem Verlauf der Küste folgen.

Jegliche Veränderungen der jahreszeitlichen Winde über dem Pazifik, die durch den Klimawandel bedingt sind, stören die Wanderung der Pfuhlschnepfe über den Ozean. Bedroht ist diese Art auch durch den rapiden Schwund der Sumpfgebiete in China, in denen sie auf ihrem Flug nach Norden Rast machen und auftanken.

*Der Begriff »Längenproblem« oder »Längengradproblem« bezeichnet die schwierige Bestimmbarkeit der geografischen Länge bei der Positionsermittlung, insbesondere von Schiffen auf offenem Meer; Anm. d. Übers.

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