Читать книгу: «Kämpferseele», страница 4

Шрифт:

Marcio und Valdir

Neben meiner Arbeit unter den Straßenkindern blieb nicht mehr viel Zeit zum Schreiben. Aber Schreiben war ein Teil von mir und wenn ich längere Zeit nicht schrieb, war es, als würde irgendetwas fehlen. Außerdem wimmelte es hier nur so von True-Life-Stories, eine Geschichte haarsträubender als die andere. Am liebsten hätte ich sie alle aufgeschrieben, bloß fehlte mir die Zeit dazu.

Mein Verlag wartete bereits sehnsüchtig auf das nächste Manuskript, denn mein letztes Buch Marcio, ich will leben!, hatte all ihre Erwartungen übertroffen. Es verkaufte sich sehr gut. Und ich bekam eine Menge Leserbriefe. Die Menschen waren ergriffen von Marcios Schicksal. Das Buch wurde als Musical aufgeführt, in Konfirmationsklassen gelesen, in der Sonntagsschule den Kindern erzählt. Eine Familie taufte sogar ihr Neugeborenes Marcio und schickte mir stolz ein Babyfoto!

Es war das erste meiner bis dahin zehn Bücher, das wirklich etwas ins Rollen gebracht hatte. Genau das, was ich mir immer gewünscht hatte, als ich mich mit 15 Jahren dafür entschieden hatte, mit meinen Büchern für Gott zu schreiben, genau das war eingetroffen. Meine Bücher waren nicht nur Buchstaben zwischen zwei Buchdeckeln. Sie bewirkten etwas! Menschen waren bewegt, und das nicht nur von Marcio, sondern allgemein vom Schicksal der Straßenkinder. Es gab Kinder, die begannen, ihr Taschengeld für die Straßenkinder zu sammeln. Es gab Sponsorenläufe, Kuchenbackaktionen, Vorträge in Schulen und Spendenaktionen. Ich war überwältigt, mit welchem Eifer die Menschen, viele davon noch Kinder, sich plötzlich für die Straßenkinder einsetzten. Und das alles nur, weil ich ein Buch darüber geschrieben hatte!

Es kam noch besser. Der letzte Satz im Buch lautete: »Bitte betet für meine Brüder!«

Dieser eine Satz führte dazu, dass viele Leser begannen, für Marcios Brüder zu beten. Zum Zeitpunkt, als ich seine Geschichte aufgeschrieben hatte, lebten seine drei Brüder noch immer auf der Straße und seine Mutter war noch immer in der Prostitution. Dieser eine Satz wurde nun auf wundersame Weise zum Segen für Marcios ganze Familie. Marcio arbeitete seit Kurzem im Drei Herzen mit und wir waren gut befreundet. Kurz vor Weihnachten erhielt Marcio einen Anruf von seiner Schwester Angela.

»Marcio, du musst unbedingt nach Curitiba kommen. Es ist etwas Unglaubliches passiert!«

»Was denn?«

»Das kann ich dir nicht am Telefon sagen. Das musst du selbst sehen. Es hat mit unserer Mutter zu tun.« Mehr wollte sie nicht verraten. Also reiste Marcio nach Curitiba und rief mich von dort aus an. Er war total aufgeregt.

»Was hier passiert ist, kann ich dir unmöglich am Telefon erzählen! Ich sag’s dir am Sonntagabend, wenn ich zurück bin.«

Voller Spannung erwartete ich seine Rückkehr. Am Sonntagabend kam er ins Projekt gestürmt, wo ich gerade mit Leonardo in der Küche saß und eine gezuckerte Avocado auslöffelte. Die Straßenjungen schliefen bereits.

»Ihr werdet es nicht glauben«, platzte Marcio mit der Neuigkeit heraus: »Meine Mutter hat sich bekehrt!«

»Was?!«, riefen Leonardo und ich gleichzeitig aus.

»Ja! Eine Christin ist in das Freudenhaus gekommen, wo sie arbeitete, hat ihr von Jesus erzählt und sie hat sich bekehrt! Das ist vor ein paar Monaten passiert. Die Frau hat ihr dann geholfen, aus der Prostitution auszusteigen und hat ihr sogar eine Wohnung besorgt. Und das ist noch nicht alles: Meine Mutter hat meine Brüder auf der Straße ausfindig gemacht und sie bei sich aufgenommen. Jetzt gehen sie jeden Sonntag zum Gottesdienst. Ich glaube, meine Brüder werden sich auch bald für Jesus entscheiden. Ist das nicht fantastisch?«

Ich war absolut baff. Augenblicklich musste ich an mein Buch denken und die dadurch ausgelöste Gebetswelle für Marcios Brüder. Das hatte mit Sicherheit einen Zusammenhang! Gott hatte die Gebete meiner Leser erhört und war dabei, Marcios gesamte Familie zu retten.

Eine Woche später ging Marcio beim Abendgottesdienst ans Mikrofon und gab Zeugnis von der wunderbaren Bekehrung seiner Mutter. Mittendrin begann er zu weinen und sagte unter Tränen: »Ihr betet einen lebendigen Gott an. Gott macht keine halben Sachen. Ich war ein Nichts. Ich war Müll, ein Straßenkind. Doch Gott hat mir ein neues Leben gegeben.« Dann wandte er sich an die Straßenjungen vom Projekt, die in der vordersten Reihe saßen. »Ihr seid wertvoll für Gott. Ihr seid nicht Müll. Gott liebt euch und ich liebe euch auch und ich sage euch: Gott hat einen Plan für euer Leben. Für ihn ist nichts unmöglich. Er hat mich gerettet. Und er hat meine Mutter gerettet. Heute beten wir denselben Gott an: Jesus Christus. Ihm sei alle Ehre!«

Später sagte mir Marcio, seine Mutter habe ihn gefragt, ob er nicht auch zu ihr ziehen möge. Doch er wollte nicht. Er hatte sich hier in São Paulo mithilfe von HCI ein neues Leben aufgebaut und war glücklich.

Natürlich schrieb ich meinem Verlag (ich hatte übrigens zu Fontis Basel gewechselt) von der tollen Neuigkeit, dass Marcios Mutter sich bekehrt hatte. Sie waren begeistert und hakten gleich nach, wann denn endlich das nächste Manuskript käme. Die Geschichte dazu hatte ich bereits. Ich hatte mich für Valdir entschieden. Er arbeitete ebenfalls im Projekt mit und Marcio, er und ich waren richtig gute Freunde geworden.

Da mein Leben in São Paulo viel zu hektisch war, um ein Buch zu schreiben, zog ich mich für einen Monat in eine Hütte irgendwo in der Pampa zurück und schrieb das Buch Flieh, Valdir, flieh! in sage und schreibe 30 Tagen! Ein neuer Rekord für mich. Nun hatte ich also mit meinen 27 Jahren bereits elf Bücher geschrieben, acht, die ich »zur Ehre Gottes erfunden hatte«, wie mein Verleger es mit einem Augenzwinkern auszudrücken pflegte, und drei Thriller, die das Leben selbst geschrieben hatte.

Valdirs Geschichte war genauso bewegend wie die von Marcio, allerdings um einiges brutaler. Valdir war Chef einer Straßenkinderbande gewesen. Sie hatten Passanten überfallen und Drogen verkauft. Manchmal war Valdir von der Polizei gezwungen worden, Touristen auszurauben und danach den Gewinn mit den Polizisten zu teilen. Einmal hatte ein Polizist ihn aufgefordert, seinen besten Freund zu erschießen. Valdir weigerte sich, worauf der Polizist den Freund vor seinen Augen erschoss. Kein Wunder, dass Valdir noch nie gelacht hatte, als er zum ersten Mal im Drei Herzen aufkreuzte. In seinem Leben hatte es wahrlich nichts zum Lachen gegeben.

Doch inzwischen war Valdir ein veränderter Mensch, ein aufgeweckter Junge, fleißig und bei der Arbeit stets ein Liedchen trällernd. Er erzählte jedem, der ihm begegnete, von Jesus. Manchmal rannte er hinter irgendwelchen Passanten her, und wenn er sie einholte, sagte er keuchend: »Hast du schon gewusst: Jesus liebt dich!«

Ich mochte Valdir unglaublich gerne. Er war wie ein kleiner Bruder für mich und umgekehrt hatte Valdir großes Vertrauen zu mir. Das zeigte sich ganz besonders, als er einmal kurz davor stand, eine große Dummheit zu begehen. Es war mitten in der Nacht, als mein Telefon klingelte. Ich fiel vor Schreck aus dem Bett und schlug mir die große Zehe an. Ich tastete nach dem Telefon und meldete mich im Halbschlaf: »Ja? Wer ist da?«

»Ich bin’s, Valdir.«

»Es ist zwei Uhr in der Früh, Valdir.«

»Habe ich dich geweckt?«

»Natürlich hast du! Was ist los?«

»Nun, Folgendes: Ich sitze hier mit ein paar alten Kumpels zusammen und wir planen, morgen eine Bank auszurauben. Was denkst du?«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. War das sein Ernst?! Eine Bank ausrauben?! Wollte er allen Ernstes von mir wissen, was ich davon hielt?

»Valdir! Eine Bank auszurauben, ist eine sehr, sehr dumme Idee! Natürlich tust du das nicht!«

»Okay, wenn du meinst, dann lass ich’s eben«, sagte Valdir. Dann legte er auf.

Das war wohl mit Abstand das schrägste Telefongespräch, das ich je geführt hatte. Und das Verrückte daran war: Es war kein Scherz gewesen!

Jahre später, als Valdir schon verheiratet war, gab es noch einen zweiten ähnlichen Anruf mitten in der Nacht. Und wieder war es Valdir bitterernst, auch wenn es kaum zu glauben war, dass er diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog!

»Hör zu, Damaris. Meine Schwiegermutter bringt mich zur Weißglut. Ich sitze hier mit einer Waffe in der Hand und überlege mir, ob ich nicht rübergehe und sie erschieße. Was denkst du? Soll ich es tun?«

»Valdir! Du kannst doch nicht einfach deine Schwiegermutter erschießen! Lass den Quatsch!«

»Aber die Frau nervt total!«

»Dann geh und rede mit ihr! Aber ohne Waffe! Hörst du mich?«

»Okay«, antwortete Valdir treuherzig. »Dann rede ich mit ihr.«

»Warum hast du überhaupt eine Waffe?«

»Ich lebe in der Favela, Damaris. Da hat fast jeder eine Waffe.«

»Schön. Aber versprich mir, dass du keine Dummheiten machst! Versprich es mir!«

»Ich verspreche es dir, Damaris. Alles klar, wir sehen uns dann morgen bei der Arbeit. Gute Nacht.«

Und somit hatte sich die Sache erledigt und Valdirs Schwiegermutter blieb am Leben. Wirklich kaum zu glauben, mit welcher Selbstverständlichkeit wir über einen Banküberfall oder einen Mord redeten, als ginge es darum, ob wir Pizza oder doch lieber gebratene Nudeln zum Abendessen bestellen sollten. Doch das war die Realität, in der diese Jungs lebten.

Eines wurde mir dabei immer mehr bewusst: Die Jugendlichen von der Straße zu holen, war leichter, als die Straße aus ihnen zu holen. Valdir war zwar von der Straße weg, aber die Straße ließ ihn trotzdem nicht los. Mehr als einmal wurde er von Drogendealern angesprochen, er solle doch wieder ins Geschäft einsteigen. Einmal zeigte ihm ein Dealer einen Kofferraum voller Drogen, bereit zum Verkauf.

»Ich will ehrlich zu dir sein, Damaris. Die Verlockung war unglaublich stark. Aber ich werde es nicht tun. Ich gehöre zu Jesus«, sagte er mir am nächsten Morgen. »Ach, und übrigens, hast du es schon gehört?«

»Nein, was denn?«, fragte ich neugierig, worauf sich ein breites Grinsen über Valdirs Gesicht zog und er mir sagte: »Jesus liebt dich!«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Ein falsches Spiel

Damit hatte niemand gerechnet: Roland und Rosa wurden nach Recife versetzt. An ihre Stelle kamen zwei Pastoren, zum einen der verwitwete brasilianische Pastor Lourival, der fortan die Gemeinde leitete, und zum anderen die brasilianische Pastorin Camila, die nun das Projekt Drei Herzen leitete. Pastor Lourival zog in die Wohnung im ersten, Camila in die Wohnung im dritten Stock.

Es war im Februar 1998, als Camila die Projektleitung übernahm. Von diesem Moment an war es vorbei mit dem guten Arbeitsklima, das wir bisher genossen hatten. Ein Sturm braute sich zusammen. Doch mir war überhaupt nicht klar, was da auf mich zurollte. Ich war zu verblendet, zu gutgläubig, zu unerfahren, zu unwissend. Ich begriff erst, was für ein Spiel hier gespielt wurde, als es fast schon zu spät war.

Es begann damit, dass ich mich mit Ana zerstritt. Wir waren beste Freundinnen gewesen, doch irgendwie war seit Camilas Ankunft der Wurm drin. Ständig gerieten wir uns in die Haare, und egal, wie oft wir uns versöhnten, es war einfach nicht mehr wie früher.

Eines Abends im Projekt, nachdem Ana und ich uns wieder mal den ganzen Abend lang nur angeschwiegen hatten und aus dem Weg gegangen waren, reichte es mir. Die Jungs waren schon im Bett und Ana spülte die letzten Töpfe in der Küche.

»Ana«, sagte ich. »Was ist eigentlich los? Was ist es, das ich falsch gemacht habe? Was auch immer es ist, sag es mir!«

»Du willst es ja doch nicht hören«, brummte Ana und schrubbte eifrig die angebrannten Reisreste aus dem Topf.

Ich packte sie am Arm und zwang sie, mich anzusehen. »Doch, das will ich! Bitte, rede mit mir!«

»Damit du unsere werte Chefin wieder in Schutz nehmen kannst?« Sie zog geräuschvoll die gelben Plastikhandschuhe aus. »Bist du wirklich so blind oder willst du es einfach nicht wahrhaben?«

»Was denn?«

»Na, alles! Was hier falsch läuft! Wie Camila alles kaputt macht, was Rosa und Roland aufgebaut haben! Uns Brasilianer behandelt sie wie den letzten Dreck und dich trägt sie auf Händen.«

»Aber das tut sie doch gar nicht!«

»Natürlich tut sie das! Ist dir nie aufgefallen, wie sie dich vor allen in den Himmel lobt? Wie sie immer Zeit für dich hat und dir die ganze Zeit Honig ums Maul schmiert? Hast du dich nie gefragt, wieso sie das tut?«

»Vielleicht, weil sie mich mag? Weil sie mit meiner Arbeit zufrieden ist?«

»Weil sie deine Gunst braucht! Weil du die Kohle bringst, Damaris! Begreifst du denn nicht? Du bist ihr Goldesel!«

Ich starrte Ana verdattert an. Ich erinnerte mich an eine Aussage von Camila, der ich damals nicht allzu viel Gewicht beigemessen hatte: »Wer das Projekt finanziell durchträgt, bist du. Würden durch deine Anwesenheit nicht Spendengelder aus der Schweiz eintreffen, wir könnten den Laden hier dichtmachen.«

Es war tatsächlich so, dass durch mich einiges an Geld in das Straßenkinderprojekt floss. Das hatte einerseits mit den drei Büchern zu tun, die ich über Straßenkinder geschrieben hatte, andererseits mit den Freundesbriefen, die ich regelmäßig verfasste. Leute begannen, Geld zu spenden, und ich investierte es in die Arbeit unter Straßenkindern. Ich investierte auch mein privates Geld. Als mein Vater gestorben war, hatte er mir eine beachtliche Erbschaft hinterlassen, und nur so war es mir überhaupt möglich gewesen, mich über so lange Zeit ins Projekt zu investieren, ohne dafür bezahlt zu werden. Auch meine Mutter war so angetan von den Straßenkindern, dass sie mehrmals größere Summen spendete. Einmal kam sie mich in São Paulo besuchen und Camila schwärmte uns vor, wie toll es doch wäre, wenn wir ein paar industrielle Overlock-Nähmaschinen hätten.

»Ich könnte den Straßenjungen das Nähen beibringen. Die hergestellten Pullover würden wir im Secondhandshop verkaufen und der Erlös würde dem Projekt Drei Herzen zugutekommen.«

Sowohl meine Mutter als auch ich hielten das für eine fantastische Idee und meine Mutter finanzierte die teuren Nähmaschinen. Camila gab ein paar Straßenjungen eine Einführung, wir schossen Fotos von den strahlenden Jungs, wie sie an den Nähmaschinen saßen, und dann … durfte nie wieder ein Straßenjunge die Maschinen anrühren. Nur noch Camila nähte eifrig Pullover für den Shop und der Erlös versickerte auf mysteriöse Weise. Er kam jedenfalls nie im Projekt an. Ich weiß, das hätte mich stutzig machen müssen. Tat es aber nicht.

Ein paar Monate später überzeugte mich Camila davon, dass das Projekt dringend einen VW-Bus brauche, um die Straßenjungs zum Fußball zu fahren oder zu Gerichts- oder Arztterminen. Meine Mutter war sofort bereit, diesen Bus zu sponsern. Was für ein Fehler! Von da an ließ sich Pastorin Camila Tag für Tag von Valdir in der Stadt herumchauffieren wie eine Königin. Wenn wir vom Projekt hingegen einen Ausflug mit den Jungen machen wollten, stand der Bus gar nicht oder erst nach langer Diskussion zur Verfügung. Und wieder war ich blind. Es geschah alles vor meiner Nase und ich sah es nicht. Ich sah nicht, wie die Hilfsbereitschaft von mir und meiner Mutter total ausgenutzt wurde, und das jetzt schon zum zweiten Mal.

Vermutlich hatte meine Naivität mit meiner behüteten Kindheit zu tun. Ich war in einem guten, christlichen Elternhaus aufgewachsen. Ich hatte ein viel zu gutes Bild von den Menschen, war viel zu vertrauensselig. Natürlich wusste ich, dass es Böses in der Welt gab und Menschen zu schrecklichen Dingen in der Lage waren. Aber ich hatte das nie am eigenen Leib erlebt. Und schon gar nicht von Christen! Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich von einer Pastorin über den Tisch gezogen werden könnte. Dieser Gedanke war mir so fremd wie einem Dschungelindianer die Vorstellung von Schnee. Doch jetzt, in diesem Gespräch mit Ana, geriet mein christlich geprägtes Weltbild auf einmal ins Wanken.

»Du bist Camilas persönliche Goldgrube geworden, Damaris, so sieht’s aus«, fuhr Ana fort. »Und du merkst nicht mal, wie sie dich nach Strich und Faden vorführt. Klagt dir vor, dass das Projekt kein Geld mehr hat, nur, damit du noch mehr reinpumpst. Hast du gewusst, dass sie bei jedem Einkauf fürs Projekt auch gleich für sich selbst einkauft? Und aus der Vorratskammer fürs Projekt verschwinden ständig Lebensmittel, weil sie sich nach Lust und Laune selbst bedient.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Leider ja. Weißt du, was mich am meisten schmerzt? Dass sie uns gezielt gegeneinander ausgespielt hat, damit sie dich ganz für sich alleine hat und dich manipulieren kann, wie es ihr gefällt. Ist ihr ja auch hervorragend gelungen. Wir waren mal beste Freundinnen. Wir nannten uns sogar Zwillingsschwestern, erinnerst du dich?«

Ich schluckte. Die Rädchen in meinem Kopf ratterten. Auf einmal verstand ich. Alles ergab auf einmal einen erschreckenden Sinn. Die Nähmaschinen. Der Bus. Die Spenden fürs Projekt. Es war Camila nie um das Wohl der Straßenkinder gegangen, immer nur darum, möglichst viel Profit aus mir zu schlagen. Mich auszusaugen, bis es nichts mehr zu holen gab! Die Gier nach Geld hatte sie vollständig korrumpiert. Warum hatte ich nie gemerkt, dass Camilas übertriebene Freundlichkeit nur ein Mittel zum Zweck war, um zu kriegen, was sie wollte? Warum hatte ich nie gemerkt, dass sie meine Leidenschaft für die Straßenkinder schamlos ausnutzte? Warum war ich bloß so grün hinter den Ohren? Die biblische Aussage, dass Geld die Wurzel allen Übels ist, bekam mit einem Mal eine ganz neue Dimension für mich. Geld! Es war immer nur um Geld gegangen, nie um die Kinder! Die Erkenntnis traf mich mit voller Wucht. Bestürzt schüttelte ich den Kopf.

»Warum hast du denn nie etwas gesagt, Ana?«

»Habe ich doch ständig versucht.«

»Nein, hast du nicht! Diese Dinge höre ich zum ersten Mal, Ana! Warum hast du immer nur um den heißen Brei herumgeredet, anstatt mir die Wahrheit zu sagen?«

Ana zuckte die Achseln. Ein wenig sauer war ich schon, dass nicht mal meine beste Freundin den Mumm gehabt hatte, Klartext mit mir zu reden, und das über Monate hinweg. Sogar unsere Freundschaft war deswegen in die Brüche gegangen und sie hatte trotzdem beharrlich geschwiegen. Warum nur? Erst viel später lernte ich, dass dies ein Teil der brasilianischen Kultur ist. Vieles wäre anders gelaufen, hätten die Leute mit mir statt über mich geredet.

Nun denn, ich konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Aber eines konnte ich tun: Ich konnte verhindern, dass es je wieder so weit käme. Bis jetzt hatte niemand den Mut gehabt, etwas dagegen zu unternehmen. Nun, ich hatte ihn! Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit musste endlich ans Licht kommen.

»Ich werde Camila zur Rede stellen«, verkündete ich vehement.

Ana war gar nicht begeistert davon. »Das ist keine gute Idee, Damaris.«

»Jemand muss die Frau zur Verantwortung ziehen! Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass meine Freunde weiter unter ihrer Regentschaft leiden, während ich auf der Sonnenseite stehe.«

»Tu das nicht. Der Preis ist zu hoch.«

»Ist mir egal, wie hoch der Preis ist. Jemand muss handeln. Euch könnte sie mit Entlassung drohen, wenn ihr den Mund aufmacht. Mir kann sie nichts anhaben. Also muss ich es tun.«

Ich war wirklich wild entschlossen, für die Straßenkinder und meine Freunde in die Bresche zu springen. Wenn ich es nicht tat, wer dann?

Unwillkürlich erinnerte ich mich an die biblische Geschichte von Königin Esther. Sie war unter Todesgefahr vor den König getreten, um für ihr Volk einzustehen. Obwohl es gegen das Gesetz verstößt, werde ich zum König gehen, so hatte sie gesagt. Wenn ich umkomme, dann komme ich um (vgl. Esther 4,16). Esther war mir mit ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit schon immer ein Vorbild gewesen. Ich wollte so mutig sein wie sie.

In den nächsten Tagen konnte ich an nichts anderes mehr denken. Zweifel machten sich breit. Ob ich tatsächlich den Mut hatte, zu tun, was ich für richtig hielt, egal, was das für mich selbst bedeutete? Je länger ich darüber nachgrübelte, desto unsicherer wurde ich. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich einer so schwierigen und unangenehmen Aufgabe gegenübergesehen. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen und wenn ich jeweils am Morgen in aller Frühe im Park joggen ging, konnte ich nicht mehr richtig atmen vor lauter Unruhe. Eines Morgens, als ich vom Joggen kam, setzte ich mich aufs Bett und legte Gott die ganze vertrackte Situation hin: Was soll ich tun? Soll ich mich wirklich hinstellen und aussprechen, was keiner sich laut zu sagen traut? Soll ich meine Sonderstellung und Privilegien wirklich dafür opfern?

In meinem Herzen wusste ich, was zu tun war. Mir war aber auch klar, dass ich damit einen Weg einschlagen würde, der mir selbst am meisten schadete. War ich dazu bereit? Hatte ich den Mut, mich um der anderen willen selbst zur Zielscheibe zu machen? Für die Ungerechtigkeit aufzustehen und zu kämpfen?

Ich schlug willkürlich die Bibel auf. Mein Blick fiel auf Jesaja 60,1 und 2, wo ich las: »Steh auf und leuchte! Denn dein Licht ist gekommen und die Herrlichkeit des Herrn erstrahlt über dir! Denn die Erde ist von Finsternis zugedeckt und die Völker liegen in tiefer Dunkelheit, aber über dir strahlt der Herr auf. Man kann seine Herrlichkeit über dir schon erkennen.«

Ich war absolut erschlagen von diesen Worten und begann vor Ergriffenheit zu weinen. Es kam mir vor, als würde Gott höchstpersönlich zu mir reden. Ja, meine Freunde und das Projekt lagen in tiefer Dunkelheit, und ja, ich wollte aufstehen und für sie leuchten! Eindeutiger hätte Gott nicht zu mir reden können. Was auch immer die Konsequenzen sein würden, ich musste für meine Freunde und für die Straßenkinder einstehen. Ich konnte nicht länger wegsehen! Ich fasste mir ein Herz und ging auf direktem Weg zu Pastorin Camilas Wohnung. Ich war furchtbar nervös, als sie die Tür öffnete. Doch ich ließ mir nichts anmerken.

»Camila, ich möchte eine Team-Sitzung einberufen. Und ich wünsche die Anwesenheit von Pastor Lourival.« Ich wollte ihn unbedingt als Unterstützung dabeihaben, falls es hässlich werden sollte.

»Was gibt es denn so Wichtiges zu besprechen, das ich nicht lösen könnte?«, fragte sie verwirrt.

»Das kann ich jetzt nicht sagen. Aber es ist wichtig.«

»Wie wichtig?«

»Sehr wichtig«, sagte ich.

Wir vereinbarten, uns alle am nächsten Morgen um 9 Uhr im Büro zu versammeln. Am selben Nachmittag rief meine Mutter an, was sehr ungewöhnlich war, da wir normalerweise nur montags telefonierten.

»Bitte bete für die Sitzung«, sagte ich ihr. »Bete, dass meine Worte von Gott gelenkt sind und nicht von meinen Gefühlen. Wenn Camila mich daraufhin davonschickt, dann soll sie es eben tun. Gott wird einen anderen Platz für mich finden.«

Wenn ich umkomme, dann komme ich um, hallten Esthers Worte in meinem Kopf wider.

Am Abend nach meiner Arbeit im Projekt setzte ich mich bis Mitternacht an den Computer und schrieb alles nieder, was ich in der Sitzung sagen wollte, um in der Aufregung nichts zu vergessen.

Und dann war er da, der 23. Oktober 1998, der Tag, an dem ich alles riskierte. Der Tag, der einen Stein ins Rollen brachte, der mich neun Jahre später beinahe erschlagen sollte … In Anwesenheit von Ana, Cleudemir, Marcio, Valdir, Leonardo, Pastor Lourival und Pastorin Camila legte ich die Karten offen auf den Tisch und sagte alles, was mir auf dem Herzen brannte. Ich sagte, dass Camila sich auf Kosten des Projektes bereichere, dass sie bei den Einkäufen für das Projekt auch gleich für sich selbst einkaufe, dass sie sich nach Belieben in der Vorratskammer des Projektes bediene, dass sie den VW-Bus und die industriellen Nähmaschinen nur für sich selbst gebrauche. Ich sagte, wie furchtbar sie alle außer mich behandle und dass ich für sie nichts weiter als eine Geldquelle sei, was ich nicht länger bereit sei zu tolerieren. Ich schloss mit den Worten: »Wenn sich die Situation nicht radikal ändert, werde ich meine Koffer packen und gehen.«

Eine peinliche Stille lag in der Luft. Keiner sagte ein Wort. Ich machte mich auf eine hitzige Diskussion mit Camila gefasst. Doch die Pastorin reagierte völlig anders als erwartet: Ohne ein einziges Wort zu sagen, stand sie auf und verließ das Büro. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte, dachte aber, vielleicht sei ihr Schweigen eine Art Schuldeingeständnis. Dann reagierte aber auch Pastor Lourival sehr seltsam. Bevor er als Letzter den Raum verließ, sah er mich mit kaltem Blick an und sagte nur:

»Das war falsch, Damaris. Das hättest du nicht tun sollen.«

Zu diesem Zeitpunkt war mir absolut nicht klar, dass ich mit dieser Sitzung in eines der schlimmsten Fettnäpfchen getreten war, das es in der brasilianischen Kultur gab: Ich hatte jemanden öffentlich bloßgestellt. Dies ist der fatalste Regelverstoß, den man in einer schamorientierten Kultur machen kann, ähnlich wie der Gesetzesverstoß, den Königin Esther begangen hatte, als sie unaufgefordert zum König gegangen war. Erst viele Jahre später wurde mir die Reichweite meines Verhaltens klar, als ich mich mit dem Thema der scham- bzw. schuldorientierten Kultur auseinandersetzte.

In Europa leben wir zum Beispiel in einer schuldorientierten Kultur, während südamerikanische Länder sowie der Nahe und Ferne Osten schamorientiert sind. Das bedeutet, bei einem Fehlverhalten legen wir Europäer Wert auf die Schuld und die Bestrafung für dieses Vergehen und appellieren dabei an das Gewissen der Person, die sich schuldig gemacht hat. Dagegen geht es in einer schamorientierten Kultur nicht um ein gutes Gewissen oder einen anständigen Charakter, sondern allein darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Es kommt nicht darauf an, ob man schuldig oder unschuldig ist, sondern darauf, wie man von den anderen wahrgenommen wird. Es geht um Ehre, nicht um Wahrheit. Es geht um öffentliche Wertschätzung, nicht um einen allgemeingültigen Maßstab, was richtig oder falsch ist. Es geht darum, sich nicht erwischen zu lassen. Solange man nicht erwischt wird, ist Diebstahl kein Diebstahl und man hat auch kein schlechtes Gewissen. Und sollte man doch erwischt werden, empfindet man keine Reue über die falsche Tat und kein Bedürfnis, dafür geradezustehen, sondern Scham, weil es nun alle wissen, und Rachegefühle gegenüber der Person, die einen in diese unangenehme Lage gebracht hat.

Diese Denkstrukturen sind für einen westlich geprägten Menschen schwer nachvollziehbar, während sie für jemanden aus einer schamorientierten Kultur einen Sinn ergeben. Weil ich das alles nicht wusste, hatte ich nach brasilianischem Verständnis eine Grenze überschritten, die man niemals, unter absolut keinen Umständen überschreiten durfte: Ich hatte den Ruf einer Pastorin geschädigt und das war unverzeihlich.

Von diesem Tag an redete Camila kein einziges Wort mehr mit mir. Diejenigen, die sie für meine Verbündeten hielt, behandelte sie mit noch größerer Verachtung als zuvor. Dennoch war ich überzeugt, das Richtige getan zu haben, und Gott zeigte mir auf eindrückliche Weise, dass er zu mir stand.

Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief von einem mir völlig unbekannten Mann aus der Schweiz, der mir schrieb: »Ich habe den Auftrag, dir zu schreiben. Streite für Jesus, halte deinen Kopf hoch und das Schwert bereit, meine liebe Schwester. Den Sieg feiern wir dann mit unserem Herrn.«

Und als wäre das noch nicht Bestätigung genug, schrieben mir Freunde in dieser Zeit mehrmals unabhängig voneinander und ohne zu wissen, was hier gerade abging, denselben Bibelvers, nämlich 2. Timotheus 1,7: »Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.«

Nun, was auch immer noch vor mir lag, ich hatte meinen Teil getan.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1 722,70 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
419 стр. 50 иллюстраций
ISBN:
9783775174923
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают