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Am Anschlag

Seit dem Diebstahl der 24 000 Reais war etwas in mir zerbrochen. Meine Unbeschwertheit, mein kindliches Grundvertrauen in die Menschen, mein wahrscheinlich zu idealistisches Weltbild war mir mit Gewalt entrissen worden. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in São Paulo. Ich begann, alles zu hinterfragen, meine Entscheidungen, meine Vision, meine Berufung. Ich war kaputt und ausgelaugt und fragte mich ernsthaft, wie lange ich das alles noch aushalten würde.

Ich wünschte mir, ich hätte eine Gemeinde gehabt, die mich in meiner inneren Not hätte auffangen können. Doch die hatte ich nicht. Pastor Lourivals Predigten waren geprägt von »du sollst nicht, du darfst nicht, Gottes Strafe wird dich treffen, wenn du nicht tust, was er verlangt«. Ich kam gebrochen in den Gottesdienst und ging noch gebrochener wieder hinaus. Ich lechzte nach Worten der Ermutigung oder des Trostes. Ich sehnte mich nach jemandem, der mir nicht die Bibel um die Ohren hauen würde, sondern mich verstand und sich Zeit für mich nahm. Ich brauchte einen Hirten.

Doch Pastor Lourival war ein Zuchtmeister, kein Hirte. Seine Worte waren hart, nicht erbauend. Außerdem hatte er nichts für die Straßenkinder übrig, was man seinem Gesicht sehr deutlich ansehen konnte, wenn wir die Jungs in den Gottesdienst brachten. Und mir persönlich war er nach der Geschichte mit Camila sowieso nicht mehr wohlgesonnen. Vordergründig ließ er nichts davon durchblicken, ermunterte mich sogar, ich solle die Pastorenausbildung von HCI absolvieren, um der Organisation vollzeitlich zu dienen. Doch hinter meinem Rücken redete er schlecht von mir. Da er von meiner engen Freundschaft mit Leonardo wusste, besuchte er ihn einmal zu Hause – was er sonst nie tat –, nur, um ihn eindringlich vor mir und meinem neuen Projekt zu warnen. Leonardo erzählte mir am nächsten Tag davon.

»Er sagte mir, du wärst verrückt und würdest deine eigene Stimme als die Stimme Gottes interpretieren.«

»Was? Das hat er gesagt?«

»Du hättest hören sollen, wie er über dich herzog. Er riet mir mehrmals, mich von dir und deinen Plänen fernzuhalten. Das wäre nicht von Gott und würde nicht gut gehen.«

Es war schon hart, zu wissen, dass der eigene Pastor nicht für, sondern gegen mich war. Überhaupt war seit meiner Rückkehr nach São Paulo irgendwie alles sehr seltsam. Leonardo verriet mir, es würde viel über mich gemunkelt. Ich fragte ihn, was denn genau für Gerüchte über mich im Umlauf seien, aber darauf gab er mir keine konkrete Antwort. Er sagte nur, viele seien sehr skeptisch, was mein Vorhaben mit dem Straßenkinderhaus angehe. Es gebe viel Neid und Misstrauen. Ich verstand nicht, wieso. Alles, was ich tat, war, mich für die Straßenkinder einzusetzen. Warum löste das eine derartige Abneigung mir gegenüber aus?

Einen weiteren Schlag ins Gesicht bekam ich dann ausgerechnet von Enrique. Enrique war Gemeindeältester in der HCI-Gemeinde und hatte eine eigene Baufirma. Nach dem Diebstahl meines Geldes hatte meine Mutter alles zusammengekratzt, was sie hatte, und es mir für den Umbau nach São Paulo geschickt. Enrique leitete den Umbau, doch er nahm mich nach Strich und Faden aus. Ständig verlangte er mehr Geld, viel mehr Geld als ursprünglich vereinbart, und jedes Mal, wenn ich ihn um eine Abrechnung bat, vertröstete er mich auf später. Schließlich, als ich darauf beharrte, endlich schwarz auf weiß zu sehen, warum die Umbaukosten sich verdreifacht hatten, behauptete er: »Ich würde dir ja liebend gerne zeigen, wie viel Geld ich wofür ausgegeben habe, aber ob du’s glaubst oder nicht: Gestern sind mir doch tatsächlich sämtliche Belege des Umbaus aus meinem Auto geklaut worden.«

Eine billigere Ausrede hätte er sich wirklich nicht einfallen lassen können. Einmal mehr fühlte ich mich zum Narren gehalten. Als ich meiner Mutter am Telefon davon erzählte, meinte sie bloß: »Sieh es doch mal so: Wenn nicht er uns beklaut, dann beklaut uns vermutlich ein anderer. Für das, was er tut, muss er vor Gott gradestehen, nicht wir. Es ist Gottes Aufgabe zu richten, nicht unsere.«

Ich staunte, wie gelassen sie das Ganze nahm. Ich versuchte, die Tatsache irgendwie auszublenden, von einem Gemeindeältesten bestohlen zu werden, aber es fiel mir sehr schwer, vor allem, da Enrique fast jeden zweiten Sonntag in der Gemeinde predigte. Er war ein leidenschaftlicher Prediger und ich saß da und hätte einfach nur schreien können. Wie konnte jemand auf der Kanzel stehen und davon predigen, wir sollten nicht stehlen und nicht lügen, wenn er selbst stahl und mir ins Gesicht lügen konnte, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken? Warum schien eigentlich nie jemand ein schlechtes Gewissen dabei zu haben, mich nach Lust und Laune auszunehmen? Warum schien sich nie jemand um die Straßenkinder zu scheren, sondern immer nur darum, möglichst viel Profit aus ihnen zu schlagen?

Mittwochabends ging ich regelmäßig in die Gebetsstunde. Ich fühlte mich so kraftlos, ich war nicht einmal mehr in der Lage, ein Gebet zu formulieren. Die Gebete und Worte der anderen, die ich früher immer als segensreich und erfrischend empfunden hatte, konnten meine Leere nicht mehr ausfüllen. Außerdem konnte ich keinem sagen, wie ich mich wirklich fühlte, geschweige denn warum, denn Pastor Lourival und Enrique und auch Ivana waren ja ebenfalls anwesend! Ich war geistlich am Verhungern. Und da mein Arbeitsumfeld sich mit meinem privaten und kirchlichen Umfeld überlappte, konnte ich nirgendwo offen reden. Ja, ich hatte ein paar gute Kumpels, die Jungs, mit denen ich Fußball und Theater spielte. Wir hingen zusammen ab, gingen ins Kino oder zu McDonald’s und hatten jede Menge Spaß. Doch einen Freund oder eine Freundin, wo ich mich gänzlich hätte fallen lassen und mein Herz hätte ausschütten können, besaß ich nicht.

Was einer wahren Freundschaft am nächsten kam, war immer noch meine Freundschaft mit Leonardo. Er war mein Verbündeter, derjenige, der durch alle Stürme zu mir gehalten hatte, und zwar von Anfang an. In den zwei Jahren, die ich nun in São Paulo lebte, hatte ich mich immer mehr in ihn verliebt. Ich hatte nie den Mut aufgebracht, es ihm zu sagen. Einmal hatte ich Wesley meine heimliche Schwäche für Leonardo gestanden und ihn gefragt, was er davon halte. Er meinte, Leonardo sei zu unreif für mich. Wahrscheinlich hatte er recht. Aber in meinem Innern träumte ich trotzdem davon, wie es wohl wäre, mit ihm zusammen zu sein.

Was die Liebe angeht, war ich sehr unerfahren. Ich war 28 Jahre alt und hatte noch nie einen Freund gehabt, nicht mal als Teenager. Das einzige Mal, dass ich einen Jungen geküsst hatte, war bei einem Flaschendrehspiel in der sechsten Klasse gewesen. Alle meine Freundinnen aus der Schweiz waren längst verheiratet und hatten Kinder. Nur ich nicht. Ich fragte mich ernsthaft, was wohl falsch an mir war, dass noch nie ein Mann sich in mich verliebt hatte. Ich wollte nicht bis an mein Lebensende alleine bleiben. Ich wollte einen Partner an meiner Seite, aber nicht irgendeinen 0815-Typen mit irgendeinem 0815-Bürojob. Ich wollte jemanden, zu dem ich aufsehen konnte, jemand, der geistlich reif war und der auch ein Herz für Straßenkinder hatte.

Letzteres war mir sehr wichtig. Denn eines war mir klar: Sollte ich mich je zwischen einem Mann und den Straßenkindern entscheiden müssen, so würde ich mich ohne Zögern für die Straßenkinder entscheiden. So viel bedeutete mir mein Dienst. Aber wo sollte ich so einen Mann finden, der bereit war, diesen Weg mit mir zu gehen? Waren meine Vorstellungen vielleicht utopisch? Hatte ich meine Anforderungen an einen Mann zu hoch gesteckt und verbaute mir damit meine Chance, jemals zu heiraten? Musste ich vielleicht einfach ein paar Abstriche machen, damit es irgendwann doch noch klappte?

Ich weiß noch, dass eine Tante von mir mich bei jedem Familientreffen gefragt hatte: »Und, wann hast du endlich einen Freund?« Das war immer furchtbar nervig gewesen und hatte mich in dem Gefühl bestärkt, dass irgendetwas nicht stimmte mit mir. Alle aus meiner Heimatgemeinde heirateten mit 20 Jahren, bekamen mit 22 ihr erstes Kind und mit 25 ihr zweites. Nur ich war immer noch Single.

Als mir sogar der Lektor meines damaligen Verlages diesbezüglich einen besorgten Brief schrieb, bekam ich langsam Torschlusspanik. Er schrieb mir, ich solle doch einfach mal für ein, zwei Jahre in die Schweiz kommen, damit ich endlich einen Mann fände. Als Missionarin in Brasilien stünden meine Chancen ja ziemlich schlecht. Und dann schrieb er mir noch von einer Missionsgesellschaft, die ihren Missionaren im Busch einfach per Schiff eine Frau zuschicke, wenn sie heiraten wollten.

Und was genau soll ich nun damit anfangen?, dachte ich. Soll ich bei HCI einen Mann bestellen oder wie?! Oder soll ich in die Schweiz kommen und jede Bibelfreizeit abklappern, die angeboten wird, um mir einen Mann zu angeln? Das mache ich ganz bestimmt nicht! Aber was sollte ich dann tun? Weiter Däumchen drehen und hoffen, dass eines Tages mein Traumprinz auf einem weißen Schimmel vor meiner Tür stünde und mich um meine Hand bäte?

In Matthäus 6,33 steht: »Macht das Reich Gottes zu eurem wichtigsten Anliegen, lebt in Gottes Gerechtigkeit, und er wird euch all das geben, was ihr braucht.« Immer, wenn ich diesen Vers las, dachte ich insgeheim trotzig: Na toll, ich setze mich für Gottes Reich ein und deswegen verpasse ich jetzt meine Chance auf einen Mann. Wo bleibt da dein Versprechen, mir das zu geben, was ich brauche, Herr? Ist es zu viel verlangt, dass ich einen Mann an meiner Seite haben möchte? Du weißt doch genau, dass diese Arbeit als alleinstehende Frau in einem von Männern dominierten Land doppelt so schwer ist. Es wäre so viel einfacher mit einem Partner! Warum gibst du mir denn keinen? Und warum sind alle großartigen Männer immer schon vergeben? Warum gibt es keinen, der sich mal für mich interessiert?

Und dann war da Leonardo, dieser junge, attraktive, charmante Brasilianer, der genauso ein Herz für die Straßenkinder hatte wie ich. War er vielleicht doch der Richtige? Diese Frage stellte ich mir andauernd. Wie verliebt musste man eigentlich sein, um zu wissen, dass jemand der Richtige war? Und wenn Leonardo der Richtige war, wie lange sollte ich dann auf ihn warten? Ich fühlte mich stark zu ihm hingezogen, aber es kam auch der Punkt, wo ich mich entschied, ihn innerlich loszulassen, wenn er meine Gefühle nicht bald erwidern würde. Ständig verliebt zu sein in jemanden, der zwar immer mal wieder gewisse Signale aussandte, dann aber doch keinen konkreten Schritt auf mich zumachte, war nämlich auf Dauer ganz schön anstrengend. Aber ganz loslassen konnte ich ihn trotzdem nicht. Einen Funken Hoffnung bewahrte ich wie einen Schatz in meinem Herzen auf. Nur für alle Fälle.

Im Moment hatte ich jedoch keine Zeit für Liebeskummer. Von Mai bis Juni 1999 ging ich mit Marcio und Valdir auf Vortragstournee in die Schweiz und nach Deutschland. Wir traten in 60 Gemeinden, Schulen, Jugendgruppen und Buchhandlungen auf und erreichten über 6 000 Menschen. Marcio und Valdir erzählten aus ihrem Leben als Straßenjungen und die Menschen waren sehr bewegt von ihren Zeugnissen. Es war eine geniale Zeit, aber auch enorm anstrengend, und so war ich bei meiner Rückkehr nach São Paulo erschöpfter als davor. Mehr noch als das: Ich hatte auf einmal null Bock auf die Arbeit mit den Straßenkindern. Ich fühlte mich überflüssig, fehl am Platz, absolut mies und ausgebrannt. Am liebsten wäre ich mit dem nächstbesten Flugzeug zurück in die Schweiz geflogen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Es war einfach nichts mehr da, keine Freude, kein Ziel, keine Energie, nichts. Ich hatte keine Lust mehr, die täglichen Streitereien der Jungen zu schlichten. Es war mir auch völlig egal, aus welchem Grund wer wem den Billardschläger über den Schädel geschlagen hatte, wessen Zahnbürste in der Toilettenschüssel herumdümpelte und wem die verpinkelte Hose gehörte, die wieder mal unter einem der Betten lag. Einmal, als ich einen Straßenjungen vor die Tür setzen wollte, weil er sich unmöglich benommen hatte, verbiss er sich wie ein Raubtier in meiner Hand. Ich kam mir vor wie in einem Albtraum.

Als wäre mein ganzes Gefühlschaos nicht schon schlimm genug gewesen, hielt ich es kaum noch aus, mit Leonardo zu arbeiten und ihm zu verschweigen, dass ich eigentlich unsterblich in ihn verliebt war. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb ihm einen langen Brief, wo ich ihm zum ersten Mal in zwei Jahren meine Gefühle offenbarte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er mich eigentlich mehr mochte, als er zugeben wollte. Vielleicht brauchte er einfach einen kleinen Schubser, um mich endlich darauf anzusprechen. Die Ernüchterung kam ein paar Tage später. Leonardo setzte sich mit mir in eine ruhige Ecke und sagte mir geradeheraus, dass er mich nicht liebe.

»Ich glaube, du bist einfach auf der Suche nach jemandem. Doch ich bin nicht der Richtige für dich. Ich empfinde nichts für dich, Damaris. Tut mir leid.«

Das war hart. Am nächsten Morgen, als ich im Park joggen ging, liefen mir die Tränen in Strömen übers Gesicht. Warum nur war es mir nicht vergönnt, glücklich zu sein? Warum schien in diesem Jahr einfach alles schiefzulaufen? Warum fühlte ich mich so leer und allein? Warum schien mein ganzes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenzustürzen? Das erste Mal, seit ich nach São Paulo gekommen war, sah ich nicht mehr den geringsten Sinn in meiner Anwesenheit. Ich dachte ernsthaft darüber nach, ob meine Zeit in Brasilien vielleicht abgelaufen war.

Und das ausgerechnet, wo die Vorbereitungen für die Eröffnung meines Straßenkinderhauses auf Hochtouren liefen! Ja, mein Straßenkinderhaus. Ich hatte mich so darauf gefreut. Was hatte ich doch gelitten, damit dieses Heim und Tagesprojekt entstehen konnte: Ich war von einem meiner besten Freunde ausgeraubt worden und wusste noch immer nicht, von wem. Ich war von Enrique, einem Gemeindeältesten, über den Tisch gezogen und von meinem eigenen Pastor schlechtgemacht worden. Außerdem hatte Pastorin Gloria, die Leiterin der gesamten Sozialarbeit in São Paulo, doch tatsächlich versucht, mich zu erpressen, damit ich das Haus HCI schenken würde.

Sie zog praktisch dieselbe Nummer mit mir ab wie Camila mit den Nähmaschinen und dem Bus, nur, dass es diesmal um ein ganzes Haus ging. Sie behauptete allen Ernstes, es sei rechtlich nicht erlaubt, dass das Projekt sich in einem Haus befände, das nicht HCI gehöre. Wahrscheinlich hatte sie sich erhofft, ich würde darauf eingehen und sie könne dann die Lorbeeren ernten. Als ich mich weigerte, ging die Sache bis zum Landesleiter hoch, der dann ein Machtwort zu meinen Gunsten sprach. Er bat mich sogar in sein Büro in der Landeszentrale, um mir die Entscheidung persönlich mitzuteilen. Er sagte, es sei überhaupt kein Problem, dass das Haus auf meinen Namen liefe.

»Das Gebäude an der Rua Vergueiro gehört auch nicht HCI, sondern der Stadt São Paulo. Die Stadt stellt uns das Gebäude lediglich für 100 Jahre zur Verfügung unter der Bedingung, dass wir darin soziale Arbeit leisten.«

»Das wusste ich gar nicht«, sagte ich verblüfft.

»Ja, und genauso können wir das mit dir machen. Ich habe bereits veranlasst, einen Vertrag aufzusetzen, der HCI für eine gewisse Zeit die Nutzungsrechte an deinem Haus zusichert. Für wie lange, ob zwei, fünf oder zwanzig Jahre, bleibt dir überlassen.«

»Das ist großartig. Danke!«, sagte ich.

»HCI hat zu danken«, meinte Landesleiter Lopez. »Und entschuldige bitte die Fehlinformation durch Pastorin Gloria. Ich bin sicher, es war nur ein Missverständnis.«

Natürlich war es kein Missverständnis. Und das Dumme war, dass Pastorin Gloria mich seit der Einmischung des Landesleiters auf dem Kieker hatte. Sie machte mir das Leben schwer, wo sie nur konnte, und hatte durch ihre Position als Gesamtleiterin über alle Sozialprojekte in São Paulo leider auch die Mittel, die Wege und die Macht dazu. Anders als vereinbart übertrug sie dem neuen Pastorenehepaar Sara und Samuel kurzum die Gesamtleitung über die Herberge und mein Projekt. Von meiner ursprünglichen Idee, in Zusammenarbeit mit HCI mein eigenständiges Projekt zu leiten, war somit nichts mehr übrig. Natürlich hätte ich mich dagegen wehren können. Aber ich war viel zu ausgelaugt, um mich mit einer hochrangigen Pastorin wie Gloria anzulegen. Also ließ ich es zu und zwang mich, trotz allem irgendwie zuversichtlich zu bleiben, obwohl ich langsam nicht mehr wusste, wie.

Im Oktober fand eine große Eröffnungsfeier für das Heim und Tagesprojekt statt. Sogar das Fernsehen kam. Pastorin Gloria als Vertreterin der gesamten Sozialarbeit in São Paulo präsentierte voller Stolz das neue Projekt von HCI und dessen tüchtige Projektleiter Sara und Samuel. Und ich? Ich stand irgendwo abseits und wurde mit keiner Silbe erwähnt. Kein Hahn krähte nach mir. Es war, als würde ich nicht mal existieren. Ich hätte heulen können. Doch ich schwieg. Meine Kraftreserven waren gänzlich aufgebraucht und ich näherte mich einem gefährlichen Tiefpunkt.

Kurz nach der Eröffnung des neuen Projekts verschwand unser wohlbeleibter Freund Wesley von einem Tag auf den anderen plötzlich spurlos und ohne ein Wort des Abschieds. Keiner wusste, wieso, bis die Polizei bei HCI aufkreuzte – mit einem Haftbefehl für den Mann, den wir als Wesley gekannt hatten. In Wirklichkeit hieß er Gustavo Pinheiro, und die Polizei war ihm wegen Scheckbetrugs und Raubes auf den Fersen. Tja, somit war dann wohl geklärt, wer die 24 000 Reais aus meiner Wohnung geklaut hatte. Es war nicht Ivana gewesen, sondern Wesley. Der Wolf im Schafspelz. Wer hätte das gedacht!

Unterdessen waren Heim und Tagesprojekt gut gestartet. Wir hatten acht Straßenjungen aufgenommen und Djebson und Andrea, ein junges Ehepaar aus Recife, betreuten die Jungs als Heimeltern und wohnten mit ihnen in meinem Haus, der Casa Damaris, wie wir es nannten. Ich selber arbeitete mal nachts in der Herberge Drei Herzen, mal tagsüber in der Casa Damaris. Da ich die Ausbildung zur Grundschullehrerin absolviert hatte, versuchte ich mich als Lehrerin, scheiterte jedoch kläglich. Die Straßenkinder zu unterrichten, war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie konnten nicht eine Minute lang still sitzen. Innerhalb eines einzigen Nachmittags war ich mit meiner Weisheit (und meinen Nerven) am Ende. Es war frustrierend. Ich fühlte mich unfähig, unter- und überfordert gleichzeitig. Ich fand mich schlicht nicht mehr zurecht und sah keinen Ausweg aus meiner Not, die sich nun schon über Monate ohne irgendeinen Lichtblick dahinzog. Ich hatte alles versucht, um positiv zu bleiben und mich selbst aus dem Würgegriff dieser Krise herauszuwinden. Aber es funktionierte nicht. Ich kroch nur noch auf dem Zahnfleisch. Ich wusste schlicht nicht mehr weiter.

In dieser Zeit wurde ich von Virgilio in seine Gemeinde eingeladen. Ich hatte immer noch guten Kontakt zu ihm. Virgilio ging nach wie vor jeden Tag auf die Straße zu den Straßenkindern und manchmal begleitete ich ihn. Auf der Straße bei den Straßenkindern zu sein, rückte jedes Mal meinen Fokus wieder zurecht und ich wusste wieder, wofür ich eigentlich kämpfte. Als ich mit Virgilio den Gottesdienst in seiner Gemeinde besuchte, kam ein kleines Mädchen auf mich zu und schenkte mir ein Blümchen.

»Hier, für dich«, sagte es und lächelte mich an. »Hab ich in Gottes Garten für dich gepflückt.«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Plötzlich stand Virgilio hinter mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Damaris, du bist so wichtig hier in Brasilien.«

Der Knoten wurde größer, und ich wischte mir über die feuchten Augen. Es tat so gut zu hören, dass ich wichtig war und dass ich einen Auftrag hier in Brasilien hatte. Oh, wie gut es tat, das zu hören!

Ein paar Tage später fand Rogério, ein ehemaliger Straßenjunge, der seit Kurzem im Projekt mitarbeitete, beim täglichen Putz ein Büchlein auf dem Boden. Der Titel lautete: »Die Probleme eines Missionars und die Lösung Gottes.«

»Hier, das habe ich irgendwo in der Ecke gefunden. Vielleicht kannst du ja was damit anfangen«, sagte er und gab mir das zerfledderte Buch.

Ich nahm es mit in meine Wohnung, begann darin zu blättern und schon nach zwei gelesenen Sätzen tropften die ersten Tränen auf die Buchseiten. Alles, was da geschrieben stand, passte haarscharf in meine Situation! Ich sog jedes Wort in mich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm. Endlich, endlich hatte ich das Gefühl, jemand würde verstehen, wie es in mir drin aussah! Endlich jemand, der den Schmerz meiner Seele kannte und meine Verzweiflung in Worte fassen konnte! Und die Lösung, die der Autor für sich selbst entdeckt hatte, war so simpel: Überlasse das Lösen deines Problems Gott. Er wird das Problem entweder aus dem Weg räumen oder dir die nötige Kraft geben, damit umzugehen.

Bei dieser Aussage sank ich schluchzend in die Knie.

»Herr, du weißt, ich kann nicht mehr! Bitte gib mir die Kraft, loszulassen! Kämpfe du für mich! Ich vertraue dir! Du hast mich bis hierher gebracht, du wirst mich auch durch diese Krise bringen! Bitte, Herr, gib mir neuen Mut! Gib mir wieder Freude an meiner Arbeit! Gib mir wieder deine Liebe für die Straßenkinder. Ich brauche deine Liebe, denn meine ist längst aufgebraucht. Bitte!«

Am nächsten Tag brachte ich endlich den Mut auf, mit den Pastoren des Projekts zu reden und Sara und Samuel meine innere Not zu offenbaren. Es war ein unglaublich befreiendes Gespräch. Die gesamte Last, die ich über Monate mit mir herumgeschleppt hatte, fiel von mir ab, und zum ersten Mal seit so langer Zeit konnte ich wieder durchatmen.

Nach und nach kehrten meine Vision und meine Leidenschaft für die Straßenkinder zurück. Ich hatte wieder Boden unter den Füßen. Am 20. Dezember, als ich am Abend in der Herberge die Andacht hielt, geschah etwas Unglaubliches: Als ich zu den Straßenjungen redete, spürte ich, wie mein Herz zu brennen begann. Ich spürte ein Feuer in mir und eine Liebe für diese Jugendlichen, die unmöglich von mir selbst sein konnte. Es war eine Liebe, die weit über das hinausging, was man als Mensch überhaupt empfinden kann. Es war Gottes reine, verzehrende Liebe, die in mir brannte und die ich für jeden Einzelnen dieser Straßenjungen empfand. Gott hatte mein Gebet erhört und mich ganz neu mit seiner Kraft und seiner Liebe erfüllt. Es war überwältigend!

Klarer denn je wusste ich: Der Teufel würde mich nicht in die Knie zwingen! Was auch immer er noch für Angriffe geplant hatte, wie auch immer er versuchen würde, mich zu zerstören, es würde ihm nicht gelingen. Gott hatte mich hierhergestellt und nur Gott allein würde sagen, wann es zu Ende war. Ich würde meine Frau stehen. Komme, was da wolle.

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