Читать книгу: «Kämpferseele», страница 3

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Am 17. Juni 1996, dem Eröffnungstag von Drei Herzen, waren alle furchtbar nervös. Ana und Leonardo hetzten wie aufgedreht kreuz und quer durch das ganze Gebäude. Auch ich konnte es kaum erwarten, die ersten Straßenjungen ins Projekt einzulassen. Etwas mulmig war mir schon zumute. Wie viele würden kommen? Was sollten wir tun, wenn sie Drogen bei sich hatten oder gewalttätig würden? Immerhin hatte ich keinerlei Erfahrung im Umgang mit Straßenkindern.

Die Spannung stieg mit jeder Minute. Doch an diesem Abend ließ sich kein einziger Straßenjunge blicken. Vielleicht hatte es sich noch nicht herumgesprochen, dass wir eröffnet hatten. Dafür kam am nächsten Abend der erste und am übernächsten waren es schon vier. Der Ablauf war sehr einfach: Zwischen 18 und 19 Uhr war Einlass. Die Jungs duschten und konnten ihre Kleider waschen, falls sie wollten. Dann gab es ein gemeinsames Abendessen und im Anschluss eine kurze Andacht mit Gesang und biblischer Botschaft. Bis zur Nachtruhe um 23 Uhr waren sie frei, Kartenspiele und Gitarre zu spielen, zu zeichnen oder Filme zu gucken. Nach einem einfachen Frühstück kehrten die Jungs am nächsten Morgen auf die Straße zurück. Der Platz reichte für 20 Jungen im Alter von sieben bis 17 Jahren. Ana, Leonardo und ich kümmerten uns abwechselnd im Zweier- oder Dreierteam von 18 bis 23 Uhr um sie, Cleudemir blieb über Nacht bis zum nächsten Morgen.

Es machte mir riesig Spaß, im Projekt mitzuarbeiten. Zwei Jungs hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Der eine war 17 Jahre alt und hieß Valdir. Ich wusste nicht viel über ihn, außer, dass er mit Drogen dealte und auf der Straße den Spitznamen »Specht« hatte. Mir fiel auf, dass er nie lachte. Der andere war 16 und hieß Paulo. Auch er war kriminell und hatte schon viele Leute bestohlen.

Parallel zu meiner Arbeit im Projekt hatte ich die einmalige Chance, an einem Camp teilzunehmen, wo ehemalige Straßenkinder aus ganz São Paulo zusammenkamen. Ich nahm ein kleines Aufnahmegerät mit, um ihre Geschichten auf Band mitzuschneiden. Mir standen die Haare zu Berge, als sie mir aus ihrem Leben erzählten. Es waren Geschichten von häuslicher Gewalt, Drogen, Kriminalität, Gefängnis, Mord und Totschlag. Die meisten von ihnen hatten Raubüberfälle begangen, waren im Jugendknast gewesen, einige hatten schon Menschen getötet. Alle waren am Tiefpunkt ihres Lebens Jesus Christus begegnet, der ihr Leben radikal verändert hatte. Ihre Augen strahlten, sobald sie mir von Jesus erzählten und wie er sie aus der Hölle der Straße befreit hatte. Ich war beeindruckt und je mehr Geschichten ich hörte, desto klarer wusste ich, was ich zu tun hatte.

Das ist es, worüber ich schreiben muss! Die Menschen in Europa müssen diese Geschichten hören! Wieso soll ich weiter Abenteuergeschichten erfinden, wenn das Leben die besten Geschichten schreibt? Diese Storys sind der Hammer, wahre True-Life-Thriller, die jede erfundene Story in den Schatten stellen!

Ich wählte die eindrücklichsten Storys aus, um daraus ein Buch zu machen. Außerdem gab es zwei Geschichten, die ich unbedingt als Einzelbuch herausbringen wollte. Die eine war die eines Straßenjungen namens Marcio. Er war 18 Jahre alt, genau wie Leonardo, und war ungefähr zur gleichen Zeit wie dieser bei HCI aufgetaucht. Auch ihm hatten Rosa und Roland einen Neuanfang ermöglicht. Seine Mutter war eine Prostituierte aus Curitiba. Marcio und seine drei Brüder waren in einem Waisenheim aufgewachsen, bis Marcio als Achtjähriger von dort abgehauen war. Später landeten auch seine Brüder alle auf der Straße. Das Außergewöhnliche an Marcios Geschichte war, dass er auf der Straße nie Drogen genommen und nie gestohlen hatte.

Die zweite Geschichte war die eines ehemaligen Straßenmädchens namens Shannon. Shannon war 26 Jahre alt, genau wie ich, und wohnte im Studentenheim im Zimmer neben mir. Eines Tages kamen wir ins Gespräch und sie erwähnte so nebenbei, dass sie früher in einer Gang in Cleveland gelebt und mit zehn Jahren ihren ersten Mord begangen hatte!

Mein Gott, dachte ich. Noch eine Story für ein Buch! Wenn das so weitergeht, bin ich für die nächsten Jahre ausgebucht!

Und dann sagte mir Shannon etwas, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Nachdem ich ihr viele Fragen über die Situation der Straßenkinder gestellt hatte, sah sie mich an und sagte:

»Damaris, komm zurück nach Brasilien. Wir brauchen hier Leute wie dich.«

Meine Zeit in São Paulo verging wie im Flug. Am letzten Abend organisierte das Team zusammen mit den Straßenjungen vom Projekt eine Abschiedsparty für mich. Plötzlich fiel mir Paulo, der Junge, den ich so sehr ins Herz geschlossen hatte, um den Hals und begann zu weinen.

»Tante Damaris, komm zurück, wir brauchen dich hier!«, flüsterte er mir ins Ohr. Mir lief es heiß und kalt über den Rücken. Es waren dieselben Worte, die mir Shannon gesagt hatte, doch aus dem Mund dieses Straßenjungen klangen sie wie ein Hilferuf. Sie trafen mich mitten ins Herz. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Was hatte ich diesen Kindern schon gegeben? Mein portugiesischer Wortschatz war sehr limitiert. Alles, was ich in den vergangenen zwei Wochen getan hatte, war, anwesend zu sein und mich irgendwie nützlich zu machen. Und dieser 14-jährige Junge war so traurig über meinen Abschied, dass er weinen musste?

Auch alle Mitarbeiter und Rosa und Roland ließen mich nur ungern ziehen und sagten mir, ich solle unbedingt zurückkommen, diesmal für länger. Ich weinte den ganzen 10-stündigen Flug von São Paulo nach Zürich ununterbrochen. Es war mir egal, was mein Sitznachbar über mich dachte. Ich war so aufgewühlt und so bewegt, dass mir die Tränen in Strömen über die Wangen liefen. Alles, woran ich denken konnte, waren Paulos flehende Worte:

Komm zurück, wir brauchen dich hier!

Komm zurück, wir brauchen dich hier!

Komm zurück!

Wir brauchen dich hier!

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Es muss mehr sein als nur ein Buch

Ich saß vor meinem Computer und sah vor lauter Tränen die Buchstaben nicht mehr, die ich eingetippt hatte. Da war ich nun, wieder zu Hause in der schönen Schweiz, mit allen Annehmlichkeiten, auf die ich die vergangenen sechs Monate verzichtet hatte, doch in meinem Innern war ich in Südamerika hängen geblieben. Costa Rica, Chile und vor allem Brasilien hatten tiefe Spuren in mir hinterlassen. Ich schrieb Buch Nummer neun – das Zeugnisbuch, das später den Titel erhielt: Christus kam bis São Paulo – Wie Straßenkinder ihrer Hölle entrinnen. Und als ich mich an Buch Nummer zehn setzte, Marcio – ich will leben, geschah etwas Merkwürdiges mit mir. Es war, als würden meine eigenen Worte auf dem Bildschirm zu mir sprechen und mir zurufen:

Damaris, es muss mehr sein als nur ein Buch!

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Was war nur los mit mir? Ich schrieb weiter an Marcios Geschichte. Doch schon wenige Sätze später hörte ich sie wieder, diese feine Stimme in meinem Herzen. Es war, als ob Gott mir zuflüsterte:

Du hast einmal gesagt, du möchtest nicht nur über die Probleme dieser Welt diskutieren, sondern dir die Hände schmutzig machen und etwas dagegen tun. Dies ist deine Gelegenheit: Verwandle das, worüber du schreibst, in konkrete Taten! Geh zurück nach São Paulo!

»Das kann ich nicht«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich dieser Aufgabe gewachsen wäre.«

Das kannst du nicht wissen, bevor du es nicht wenigstens probiert hast! Was ist mit Paulos Hilferuf? Hast du seine Worte schon vergessen?

»Wie könnte ich die jemals vergessen!«, schniefte ich, während der Text auf dem Bildschirm vor meinen Augen verschwamm. »Aber ich habe Angst! Ich trau mir das nicht zu! São Paulo ist eine riesige Stadt, voller Kriminalität. Mir könnte weiß Gott was passieren.«

Dir hätte auch in Chile weiß Gott was passieren können. Aber ich habe es nicht zugelassen.

»Chile war ein spannendes Abenteuer. Das hier ist etwas völlig anderes. Du weißt, wenn ich Blut sehe, falle ich in Ohnmacht. Und was mache ich, wenn mir jemand eine Waffe an den Kopf hält wie Virgilio? Ich glaube, ich würde durchdrehen.«

Ich kenne deine Grenzen. Ich gebe dir nie mehr, als du tragen kannst. Bist du bereit, mit mir übers Wasser zu gehen? Bist du bereit, dich mit mir zusammen in die Höhle des Löwen zu wagen?

Ich war hin- und hergerissen. Elkes Worte nagten an mir: »Wenn du keine klare Berufung von Gott hast, lass die Finger davon.« Was, wenn ich nicht dafür berufen war? Wie konnte ich mir absolut sicher sein, dass dies der Weg war, den ich einschlagen sollte? Eine gute Freundin hatte mir einst gesagt, das mit der Berufung sei gar nicht so schwierig, wie wir glaubten.

»Gott kennt uns durch und durch«, so hatte sie gesagt. »Er kennt unser Herz und unsere innigsten Wünsche. Wenn dein Herz für eine Sache brennt, ist die Chance groß, dass genau da deine Berufung liegt. Folge deinem Herzen und Gott wird dich lenken.«

Folge einfach deinem Herzen. Die Worte meiner Freundin hallten in mir nach, während ich noch immer auf den Bildschirm vor mir starrte. Ich hatte in einer Stunde gerade mal zwei Sätze an meinem Marcio-Buch geschrieben.

»Okay, Jesus«, sagte ich und traf eine Entscheidung. »Wenn du wirklich möchtest, dass ich nach São Paulo gehe, dann tue ich das. Aber ich brauche ein klares Zeichen von dir.« Ich überlegte. Ich hatte von verschiedenen Seiten immer wieder gehört, es sei sehr schwer, ein Visum für Brasilien zu erhalten. Also schloss ich mit Gott einen Deal: »Wenn du mir ein Visum gibst, dann gehe ich nach Brasilien!«

Der Entschluss war gefasst. Ich setzte mich mit HCI Schweiz in Verbindung und erkundigte mich, ob es überhaupt möglich war, für HCI als Missionarin nach Brasilien zu gehen, obwohl ich keine ihrer eigenen Pastorinnen war. Die zuständige Person in der Landeszentrale in Bern war eine Pastorin namens Heidi. Sie sagte mir, es sei durchaus möglich. Sie könnten mich von HCI Schweiz aussenden, doch offiziell müsste ich von HCI Brasilien eingeladen werden, um durch sie mein Visum zu bekommen. Wenn das alles klappte, sei ich für die Dauer meines Aufenthaltes HCI Brasilien unterstellt. HCI Schweiz würde mich lediglich aus der Ferne begleiten und meine Sozialversicherung bezahlen. Den Rest musste ich selber berappen. Ich war damit einverstanden und die Vorbereitungen begannen zu laufen.

Je konkreter es wurde, desto größer wurden meine Bedenken. Worauf um alles in der Welt ließ ich mich da bloß ein? Doch überall, wo ich davon erzählte, wurde ich ermutigt, den Schritt zu wagen. Und Rosa und Roland, Ana, Leonardo und Cleudemir freuten sich bereits wie kleine Kinder auf meine Rückkehr. Alles, was mir jetzt noch fehlte, war das Visum. Am Donnerstag vor Ostern betrat ich mit einem Stapel beglaubigter Papiere von HCI Brasilien das brasilianische Konsulat in Zürich. Die Frau am Schalter überflog die Papiere, sah mich an und hatte nur eine einzige Frage:

»Warum möchten Sie denn nach Brasilien?«

»Ich möchte unter Straßenkindern arbeiten.«

»Oh, das ist eine gute Sache«, meinte sie und machte flott einen Stempel auf meinen Antrag. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen das Visum noch heute per Express zugestellt wird. Guten Aufenthalt in Brasilien!«

Mir fiel die Kinnlade herunter. Normalerweise dauerte es Monate, bis ein Visumantrag geprüft war. Und ich hatte meinen innerhalb von Minuten genehmigt bekommen! Einfach so! Wenn das kein Zeichen von oben war, dann wusste ich auch nicht.

Und so flog ich einen Monat später, am 15. Mai 1997, zurück nach São Paulo, bangend, was mich dort erwartete, aber auch mit der absoluten Gewissheit, dass diese Reise von Gott arrangiert worden war.

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Der alltägliche Wahnsinn

HCI Brasilien besaß zwei große Gebäude im Stadtzentrum von São Paulo. Das eine war die Landeszentrale, ein Hochhaus mit ungefähr 15 Stockwerken, vielen Wohnungen und einer Menge Büros. Hier wohnte und arbeitete die gesamte Landesleitung von HCI Brasilien, unter anderem der Landesleiter, ein Brasilianer namens Lopez, dann Vize-Landesleiter Monteiro sowie der Gebietsleiter von São Paulo, ein Amerikaner namens Evans, und die Chefin über die Sozialprojekte des Staates São Paulo, eine wohlbeleibte brasilianische Pastorin namens Gloria. Die Fäden des ganzen Landes liefen hier zusammen.

Das zweite Gebäude war das an der Rua Vergueiro 209, wo ich sowohl wohnen als auch arbeiten würde. Im Kellergeschoss befand sich die Herberge für die Straßenkinder, im Erdgeschoss ein Secondhandshop, darüber im ersten Stock Büros und die Wohnung von Rosa und Roland. Im zweiten Stock waren das Studentenheim und eine weitere Wohnung, die ich fortan mit Ana teilte. Im dritten Stock gab es noch eine Wohnung und im großen Anbau war die Kirchgemeinde von HCI untergebracht. Normalerweise wurden Sozialarbeit und Kirche nicht von ein und derselben Person geleitet. Doch aus Personalmangel waren Rosa und Roland gleich für beides zuständig, Gemeinde und Sozialwerk.

Roland und Ana holten mich vom Flughafen ab. Natürlich brannte ich darauf, zu erfahren, was alles geschehen war in den vergangenen Monaten.

»Wie geht es Paulo?«, war eine meiner ersten Fragen. »Ist er noch im Projekt?«

»Leider nein«, sagte Ana mit trauriger Miene. »Er wurde vor zwei Wochen von der Polizei erschossen.«

»Was?!« Das durfte doch nicht wahr sein! Paulo war tot? Ausgerechnet der Junge, dessen Worte mich dazu bewegt hatten, nach São Paulo zurückzukehren, lebte nicht mehr?

»Dafür hat sich Valdir bekehrt. Erinnerst du dich an ihn?«

»Aber klar, das ist doch der Bursche, der nie gelacht hat!«

»Jetzt hört er nicht mehr auf zu lachen«, kicherte Ana. »Er ist total verändert. Er arbeitet jetzt auch bei HCI mit.«

»Cool.«

Wenigstens eine gute Nachricht. Ich erkundigte mich nach einigen anderen, die ich vor zehn Monaten im Projekt kennengelernt hatte. Die meisten hätten sie aus den Augen verloren, berichtete mir Ana. Von einem wusste sie, dass er im Gefängnis war, ein anderer sei vor ein paar Tagen von einer Gangsterbande erstochen worden. Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

Mein Gott, in anderen Ländern sterben die Kinder an Hunger. Hier werden sie umgebracht!, dachte ich. Wenn wir diese Kids nicht rechtzeitig von der Straße holen, sind sie morgen vielleicht schon tot!

Die ersten Tage in São Paulo fühlte ich mich extrem unwohl. Ich war seltsam drauf und hatte ständig einen Kloß im Hals. Vielleicht hatte ich mich doch etwas überschätzt. Damals, bei meinem Einsatz in Costa Rica, war ich zwar in einer fremden Kultur gewesen, hatte aber täglich schweizerische und deutsche Missionare um mich gehabt. Ich war im Ausland gewesen und trotzdem irgendwie eingebettet in meine Heimat. Aber jetzt war ich ganz auf mich allein gestellt. Da war niemand, der Schweizerdeutsch redete. Rosa und Roland redeten nur Französisch – was ich sehr schlecht konnte – und Portugiesisch – was ich noch schlechter konnte. Da war niemand, der meine Kultur oder mein Denken verstand, niemand, mit dem ich darüber reden konnte, wie es mir ging. Ich hatte ja nicht mal den Wortschatz dafür!

War hier wirklich mein Platz?, fragte ich mich. Hatte ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Eigentlich war ich überzeugt davon, aber das ungute Gefühl blieb. Und dass ich mich für ein Jahr verpflichtet hatte, daran wollte ich im Augenblick lieber gar nicht erst denken. Ich wusste, dass Gott bei mir war und es gut mit mir meinte. An diese Gewissheit klammerte ich mich wie an einen Rettungsanker, so lange, bis sich meine emotionale Achterbahn nach ungefähr einer Woche endlich legte. Jetzt konnte ich mich voll und ganz auf die Arbeit im Straßenkinderprojekt konzentrieren. Und die brauchte wirklich meine volle Konzentration und jede Menge Nerven. Ana, Leonardo und ich hatten immer alle Hände voll zu tun. Es war, als müsste man einen Sack Flöhe hüten und gleichzeitig auf einem Pulverfass sitzen, das jeden Moment explodieren konnte.

Eines Abends klingelte jemand wie wahnsinnig an der Garagentür. Da sich das Projekt im Kellergeschoss befand, wurden die Jugendlichen durch die Garage eingelassen. Als Leonardo die Tür öffnete, stand Max vor dem Gebäude, völlig eingeschüchtert, Panik in den Augen. Max war 17, ein kräftiger schwarzer Bursche, der weder lesen noch schreiben konnte. Er kam aus Rio de Janeiro. Dort stand er unter Todesdrohung, weswegen er nach São Paulo geflohen war, wo er jetzt auf der Straße lebte. Seine Großmutter hatte vor ihrem Tod die Seelen von ihm und seinem Bruder dem Teufel verkauft, damit sie bald sterben würden. Max sprang in die Garage wie ein gehetztes Tier und flehte Leonardo an, um Himmels willen die Tür hinter ihm zu schließen. Dann stolperte er ins Projekt, kauerte sich zitternd in eine Ecke und begann zu weinen. Leonardo und ich knieten uns zu ihm.

»Was ist geschehen, Max? Was ist los?«

Der Junge stammelte wirres Zeug und brachte keinen einzigen Satz zustande. Er schien furchtbare Angst zu haben. Erst nach einer Weile beruhigte er sich so weit, dass er imstande war, uns alles zu erzählen. Da waren fünf Typen von der Straße, die behaupteten, ein Freund von ihm habe ihnen letzte Nacht ihre Kleider gestohlen, als sie in einer staatlichen Herberge übernachteten. Und Max würde mit ihm unter einer Decke stecken.

»Ich hatte nichts mit der Sache zu tun. Doch sie glaubten mir nicht und forderten ihre Kleider zurück. Sie schlugen mich mit Holzstöcken, bis ich ihnen versprach, ihnen ein paar meiner eigenen Kleider zu geben, die ich hier in Drei Herzen aufbewahre. Sie pressten mir einen Revolver in den Rücken und zwangen mich, sie herzuführen. Auf dem Weg hierher kamen wir an einem Polizisten vorbei. Ich wollte mich bemerkbar machen, doch sie ermahnten mich, ich solle mich ruhig verhalten oder ich würde es bereuen.«

»Wo sind die Kerle jetzt?«, fragte ich.

»Sie stehen draußen und gehen nicht eher, bis sie die Kleider haben.«

»Und sie sind bewaffnet?«

Max nickte. »Ja. Aber wenn ich ihnen jetzt keine Kleider gebe, bin ich morgen ein toter Mann. Ich habe keine Wahl.«

Leonardo und ich warfen uns einen fragenden Blick zu. Dann entschieden wir uns spontan, einen der Typen ins Projekt zu lassen. Vorher tastete Leonardo ihn allerdings nach Waffen ab. Das taten wir sowieso bei jedem, der ins Projekt kam. Wenn die Jugendlichen Messer dabeihatten, bewahrten wir sie über Nacht auf und gaben sie ihnen am nächsten Morgen wieder zurück. Die Straße war ein gefährlicher Ort und viele der Straßenkinder hatten irgendwo im Hosenbein oder Hemdsärmel ein Messer versteckt, um gewappnet zu sein, wenn es hart auf hart kam. Nun, der Kerl kam ins Projekt, durchwühlte Max’ Kleidersack, nahm sich, was er wollte, verließ das Gebäude wieder und zog mit seiner Clique von dannen.

Die Gewalt, mit der diese Straßenjungen täglich konfrontiert waren, erschreckte mich. Genauso erschreckte mich ihre eigene Gewaltbereitschaft und wie normal das alles in ihren Augen war. Luiz Fernando war einer jener Jungen, der mit seinen 17 Jahren schon viel zu viele Grenzen überschritten hatte. Eine Aura von Hass und Finsternis umgab ihn jedes Mal, wenn er ins Projekt kam. Er beschwerte sich ständig über alles und jeden und war immer kurz vorm Explodieren. Eines Abends war er wieder einmal unausstehlich. Ich zitierte ihn in eines der Zimmer und ließ ihn erst einmal seine Aggressionen an mir auslassen.

»Schickt mich doch fort!«, fauchte er. »Die Jungs provozieren mich bloß. Aber denen zahle ich es heim. Nicht hier drinnen. Aber da draußen werde ich ihnen die Fresse vollhauen!«

»Ich sage dir eines, Luiz Fernando: Wenn du so weitermachst, wirst du eines Tages mit einer Kugel im Kopf sterben. Willst du das?«

Der Bursche schnaubte und blickte düster vor sich hin.

»Warum bist du nur so rebellisch? Was ist in deinem Leben schiefgelaufen?«

»Meine Mutter hat uns verlassen, mein Vater hat mich immer nur geschlagen, das ist schiefgelaufen«, knirschte er. »Wie soll ich vergessen, was sie mir angetan haben?«

»Solange du deine Vergangenheit und deinen Hass auf deine Eltern nicht begräbst, wirst du nie glücklich sein«, sagte ich ihm. »Nur Jesus kann die Wunden deines Herzens heilen und dir wieder Freude schenken.«

»Alles Lüge!«, blaffte er mich an. Seine Augen funkelten vor Zorn. »Eure Kirche, euer Glaube, alles Quatsch! Du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Mein Bruder hat viele Waffen zu Hause. Vielleicht gehe ich zu ihm und leihe mir eine davon aus.«

»Hast du schon Menschen getötet?«

»Ja, zwei«, sagte der Junge, als sei nichts dabei.

»Und du bereust nicht, was du getan hast?«

Er schüttelte den Kopf und versank in dumpfes Grübeln.

Luiz Fernando war bei Weitem nicht der Einzige, der von seinem Vater geschlagen worden war. Eigentlich kamen die allermeisten Kinder und Jugendlichen, die wir betreuten, aus einem zerrütteten Elternhaus und wurden entweder von ihrem gewalttätigen Vater oder Stiefvater misshandelt, bis sie es nicht mehr länger aushielten und auf die Straße flohen. Aber die Gewalt spielte sich nicht nur in der Familie ab. Viele Kinder wuchsen in Armenvierteln, sogenannten Favelas, auf, wo Alkohol, Streit und Gewalt an der Tagesordnung waren und Kriminalität und Drogenhandel sich direkt vor ihrer Haustür abspielten.

Ein Straßenjunge, der sich ebenfalls mit Gewalt auskannte, war der 15-jährige Leandro. Alle nannten ihn »Zähnchen«, weil einer seiner Vorderzähne zur Hälfte abgebrochen war. Er war groß, kräftig und sehr leicht reizbar. Es hieß, er hätte schon zwei Menschenleben auf dem Gewissen und stünde auf der Abschussliste der Polizei, weil er in einen Polizistenmord verwickelt gewesen war. Er wurde von allen Tagesprojekten als äußerst gefährlich eingestuft, in einigen hatte er wegen seiner Aggressivität sogar Eintrittsverbot. Wegen eines bewaffneten Raubüberfalls, Angriff auf eine Mitarbeiterin eines Nachtprojektes und zahlreicher anderer Verbrechen war er schließlich ins Jugendgefängnis gekommen. Als er wieder rauskam, besuchte er unser Projekt. Bei der täglichen Andacht fragte Ana die Jugendlichen, was sie sich wünschten.

»Ich wünschte, ich würde meinen Vater kennen«, sagte Leandro. Ana ging nicht näher darauf ein, als Leandro plötzlich wie ein kleines Kind zu schluchzen begann. Ana versuchte, ihn zu trösten, doch er hörte nicht auf zu weinen. Ich nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm ins Büro. Wir setzten uns aufs Sofa und mit stockender Stimme erzählte Leandro.

»Ich habe meinen Vater nie gekannt. Er wurde umgebracht, als meine Mutter mit mir schwanger war. Es war bei einem Überfall. Die Diebe haben ihn gezwungen, sein Geld herzugeben. Als er sich weigerte, haben sie ihn einfach erschossen.« Der 15-jährige, sonst so vorlaute, furchtlose Jugendliche war zu einem einzigen heulenden Bündel zusammengeschrumpft. Ich versuchte, ihn zu trösten, obwohl es keine Worte gab, die ihm seinen Vater zurückbringen konnten.

Die Realität, mit der ich Tag für Tag zu tun hatte, war oft grausam. Ich fühlte mich ohnmächtig angesichts der Schicksale dieser Jugendlichen.

Was weiß ich schon vom Leben?, dachte ich oft. Ich bin behütet aufgewachsen, hatte liebevolle Eltern. Ich habe Fußball gespielt, Fahrradtouren unternommen, bin mit meinem Papa segeln gegangen, habe Theater gespielt, bin auf Bäume geklettert. Meine und die Welt dieser Kinder sind so weit auseinander wie Himmel und Hölle. Was habe ich ihnen schon zu sagen?

Doch immer wieder erlebte ich, wie Gott wirkte. Ausgerechnet da, wo menschlich gesehen alles verloren war, griff er ein. Und zwar so eindrücklich und radikal, dass ich es manchmal selbst kaum glauben konnte. Ein paar Monate nach seinem Zusammenbruch erzählte mir Leandro, er hätte beinahe jemanden getötet, aber Gott habe es verhindert.

»Das war gestern Abend«, sagte er. »Ich war stinksauer auf jemanden. Also besorgte ich mir eine Waffe und machte mich auf, um den Kerl abzuknallen. Doch unterwegs hörte ich plötzlich, wie mich jemand beim Namen rief. Tante Damaris, ich sag dir, ich war alleine unterwegs. Da war weit und breit niemand zu sehen. Es war unmöglich, dass mich jemand gerufen hatte, und doch hab ich ganz deutlich eine Stimme gehört. Da hab ich mich mit einem Mal an alles erinnert, was ihr uns hier im Projekt über Jesus erzählt habt. Ich hab den Revolver eingesteckt und bin umgekehrt. Das war Gottes Stimme, die mich aufgehalten hat, nicht wahr?«

»Ja, das war sie!«, sagte ich, völlig überwältigt von dem, was mir Leandro da erzählte.

Wie krass ist das denn!, dachte ich. Das ist ja wie bei Saulus, als Gott ihn beim Namen rief, um ihn davon abzuhalten, Christen zu töten!

Am nächsten Abend erzählte mir Leandro gleich noch etwas Erstaunliches. Er sei mitten in der Nacht aufgewacht und habe festgestellt, dass sein Gesicht tränenbenetzt war.

»Das ist, weil hier im Projekt der Heilige Geist am Wirken ist, nicht wahr, Tante?«

Ich wusste nicht genau, was ich darauf antworten sollte. Aber ich sah ein kindliches Staunen in seinen Augen, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Keine Frage, Gott war dabei, Leandro von innen heraus zu verändern, und offenbar tat er dies sogar, während Leandro schlief. Unglaublich!

Gott überraschte mich jeden Tag aufs Neue. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich erlebte hier in einer Woche mehr mit Gott als zuvor in einem ganzen Jahr in der Schweiz. Manchmal war ich so überwältigt von all den Wundern, die sich direkt vor meiner Nase abspielten, dass ich beim Bibellesen ganz feuchte Augen bekam. Hätte mich jemand gefragt, ob ich wüsste, wo Gott wohnt, ich hätte ihm sogar die genaue Adresse nennen können: Rua Vergueiro 209 im Kellergeschoss. Genau dort wohnte Gott. So steht es sogar in der Bibel, nachzuschlagen in Jesaja 57, Vers 15: »Ich wohne […] bei denen, die einen zerschlagenen und gedemütigten Sinn haben, um die Gedemütigten neu zu beleben, und die zerschlagenen Herzen wieder aufleben zu lassen.«

Besonders eindrücklich war mein erstes Weihnachtsfest mit den Straßenkindern. Obwohl: So richtige Weihnachtsstimmung kam nicht auf. Es war 38 Grad heiß. Die Tannenbäumchen in den Schaufenstern waren mit Schneespray eingesprüht und mit blinkenden farbigen Lichterketten umwickelt. Da war rein gar nichts von Besinnlichkeit zu spüren. Der Zauber von Weihnachten fehlte komplett. Und der Weihnachtsabend im Projekt begann chaotisch wie immer. Es kamen nur sieben Jungs und ich war entschlossen, alle nach der Andacht gleich ins Bett zu schicken, denn sie benahmen sich wieder einmal unmöglich: Fernando stritt wie immer mit seinem Bruder, Rodrigo schlug mit dem Fußball eine Scheibe ein, Luiz Claudio gab Rodrigo beim Essen eine Ohrfeige, worauf ihm dieser die Lasagne ins Gesicht warf. Ich war kurz davor, die Geduld zu verlieren.

Mann, heute ist Weihnachten!, dachte ich genervt. Was soll das?

Ich sehnte mich nach rieselndem Schnee draußen in der Dunkelheit, nach brennenden Kerzen in einem weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer, nach Weihnachtsgebäck, dem Duft von Orangenschalen und Tannennadeln, nach meiner Familie, die gemütlich vor dem Christbaum saß und gemeinsam Weihnachtslieder sang. Stattdessen war ich hier im Projekt, zusammen mit sieben nervenaufreibenden Straßenjungen und kam mir vor wie ein Feuerlöscher, ständig in Alarmbereitschaft, um jede aufkeimende Flamme im Keim zu ersticken.

Nach 21 Uhr begannen wir mit der Andacht. Allmählich beruhigten sich die Jungs und ich schlug vor, einen Moment des Gebets zu haben. Wir stellten uns in einem Kreis auf, reichten uns die Hände, schlossen die Augen und begannen zu beten. Was dann geschah, hatte ich nie und nimmer erwartet. Ich dachte, jeder würde ein kurzes Gebet sprechen und damit hätte es sich. Doch die Jungen hörten nicht mehr mit Beten auf! Kaum hatte einer das Amen gesprochen, setzte der Nächste ein. Die Jungs beteten für Ana, Leonardo, für mich, für Rosa und Roland, für alle Straßenjungen auf der Straße und im Gefängnis. Sie baten mich im Gebet um Verzeihung für ihr schlechtes Benehmen, sie beteten für eine Arbeitsstelle für Marco Antonio, sie übergaben Jesus die Führung ihres Lebens. Sie beteten und beteten, inbrünstig, ehrlich und ungeschminkt in ihrem Straßenslang. Es war überwältigend. Die Luft war zwar nicht erfüllt von Kerzenduft, dafür aber von Friede, Freude und Feierlichkeit. Als wir die Augen wieder aufschlugen, war es bereits 22 Uhr! Wir hatten fast eine Stunde lang gebetet! Wir umarmten uns gegenseitig und wünschten uns schöne Weihnachten. An diesem Abend hatten wir Weihnachten im wahrsten Sinne des Wortes erleben dürfen.

Acht Monate war ich nun schon in São Paulo und längst hatte ich mein Herz an die Straßenkinder verloren. Ich lebte zwar mitten in einem Thriller, und das jeden Tag. Doch ich wollte nirgendwo sonst auf der Welt sein. Ich beantragte eine Visumsverlängerung, die ich problemlos bekam. Mein Portugiesisch war mittlerweile ziemlich gut. Ich verstand mich ausgezeichnet mit allen von HCI, ich fühlte mich rundum wohl und integriert in die brasilianische Kultur. Die Straßenkinder, das Leben, die Arbeit, es war alles wie für mich geschaffen. Obwohl es rein logisch betrachtet nicht den geringsten Sinn ergab: Aber genau hier, inmitten dieser gefährlichen, von Abgasen verpesteten Großstadt, umgeben von drogenabhängigen, mit Klebstoff zugedröhnten, kriminellen Jugendlichen, wollte ich den Rest meines Lebens verbringen. Ich wusste es ohne den Hauch eines Zweifels: Ich hatte meine Berufung gefunden.

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9783775174923
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