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Ausgeraubt

»Sag mal, Damaris, warum starten wir nicht unser eigenes Projekt?«

Leonardo und ich saßen verschwitzt und keuchend nebeneinander auf der Zuschauertribüne und warteten, bis unser Fußballteam erneut aufs Feld durfte. Es war Samstagnachmittag und da spielte ich häufig zusammen mit ein paar Jungen der HCI-Gemeinde Fußball auf dem Gelände der Landeszentrale, welche nur ein paar Metrostationen von uns entfernt war. Seit dem Meeting mit Camila war noch keine Woche verstrichen.

»Unser eigenes Projekt?«, fragte ich zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn.

»Ja. Ich meine, ich war selbst Straßenkind und du hast Erfahrung genug im Umgang mit Straßenkindern. Schluss mit Vorgesetzten, die nur ans Geld denken und nicht an die Kinder. Wir würden so was nie zulassen. Gott würde unsere Arbeit segnen, da bin ich mir sicher.«

Ich betrachtete Leonardo nachdenklich von der Seite.

Warum eigentlich nicht?, dachte ich spontan. Ich konnte mir tatsächlich vorstellen, etwas Eigenes aufzuziehen. Vor allem mit Leonardo an meiner Seite, und das nicht nur, weil er selbst Straßenkind gewesen war. Zwischen uns hatte sich ein tiefes Band der Freundschaft entwickelt. Ich mochte den jungen Mann sehr, vielleicht ein bisschen zu sehr, um ehrlich zu sein. Natürlich wusste ich, dass er viel zu jung für mich war. Er war 20, ich 28. Und ja, er war sich seines guten Aussehens und seines Charmes durchaus bewusst, flirtete gerne mit den Mädchen in der Gemeinde und hatte schon so manchem jungen Mädchen den Kopf verdreht. Aber er war auch sehr zuverlässig und fleißig. Und er liebte die Straßenkinder, das war das Wichtigste.

Manchmal, wenn er mich auf eine gewisse Art und Weise ansah, schlug mein Herz etwas höher, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich war mir dann nie ganz sicher, ob er vielleicht mir gegenüber doch mehr empfand, als er zugeben wollte. Gerade jetzt sah er mich wieder so an, aber meine Vernunft wies mich sogleich in die Schranken und lenkte meinen Fokus zurück auf das, was Leonardo mir vorgeschlagen hatte. Gefühle hin oder her, seine Idee war gut, und wenn es jemanden gab, mit dem ich einen solchen Schritt wagen würde, dann definitiv mit Leonardo.

»An was für eine Art von Projekt denkst du?«

»Keine Ahnung«, meinte er achselzuckend. »Vielleicht ein Heim für Straßenkinder. Dazu bräuchten wir allerdings ein Haus.«

»Ja, ein Heim für Straßenkinder, das wäre toll. Und tagsüber bieten wir Kurse wie Musik, Kunst, Englisch oder Computer an.«

»Klingt gut. Ich wäre sofort dabei«, sagte er.

Der Gedanke ließ mich nicht mehr los, nicht an diesem Nachmittag noch in den nächsten Tagen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Endlich den Fokus wieder auf die Straßenkinder legen und nicht mehr gegen Habgier und Missgunst ankämpfen müssen. Allein die Vorstellung war so erfrischend wie eine kühle Brise in der glühenden Sommerhitze, vor allem, da Camilas Regentschaft langsam untragbar wurde.

Es war traurig zu sehen, wie sehr sie sich im Verlauf dieses Jahres verändert hatte. Als sie vor neun Monaten die Leitung der Straßenkinderherberge übernommen hatte, war sie sehr motiviert gewesen und hatte sogar ab und zu im Projekt die Andacht gehalten. Jetzt gab es nur noch zwei Orte, wo sie sich aufhielt: Im Secondhandshop auf Schnäppchenjagd oder in ihrer Wohnung, wo sie fast den ganzen Tag nichts anderes tat, als vor dem laufenden Fernseher zu sitzen und zu häkeln. Die Straßenkinder waren ihr völlig schnuppe.

Nachdem ich ihre Machenschaften öffentlich aufgedeckt hatte, war sie in einem Dauerzustand schlechter Laune, schrie durchs ganze Treppenhaus und kommandierte uns herum, als wären wir ihre Bediensteten – wobei sie mit mir ja nicht mehr sprach und mir ihre Befehle nur noch über Dritte ausrichten ließ, selbst wenn ich direkt vor ihr stand. Sie redete tatsächlich kein einziges Wort mehr mit mir. Als meine Mutter mich Anfang November nochmals besuchen kam, behandelte sie auch meine Mutter wie Luft und schüttelte ihr nicht einmal die Hand. Ihr Hass auf mich war unendlich groß. Sie ließ keine Gelegenheit aus, mich ihre ganze Verachtung spüren zu lassen. Valdir gegenüber sagte sie sogar: »Ich wünsche Damaris in die Hölle. Wenn sie von einem Auto überfahren würde und ich würde sehen, dass sie noch lebt, würde ich nochmals drüberfahren, damit sie endgültig tot ist.«

Je mehr Camila mich verabscheute, desto stärker wuchs in mir der Wunsch, ein eigenes Projekt zu starten. Und dann zog Gott einen klaren Schlussstrich: Am 20. November erfuhren wir, dass die Landeszentrale Pastorin Camila im Februar nach Paranaguá, also mitten in die Pampa versetzen würde. Mein Handeln hatte also doch etwas bewirkt!

Dieses Jahr feierte ich Weihnachten in der Schweiz, was nach all den Turbulenzen der vergangenen Monate sehr wohltuend war. Mir graute allerdings davor, am 8. Januar 1999 nach São Paulo zurückzukehren. Mein Magen krampfte sich zusammen, wenn ich nur schon an Camila dachte und mit welcher Herablassung sie mich willkommen heißen würde. Ihre Begrüßung war denn auch wie erwartet: Sie würdigte mich keines Blickes. Nun ja, bis zu ihrer Versetzung war es nur noch ein Monat. Den würde ich auch noch überstehen. Und es hieß, die Pastoren Sandra und Samuel, die Camila im Februar ablösen und Drei Herzen übernehmen würden, seien ganz okay. Besser als Camila würden sie auf jeden Fall sein, dessen war ich mir sicher.

Außerdem stand ich in den Startlöchern für mein eigenes Straßenkinderprojekt. Nachdem Camilas Versetzung bekannt geworden war, hatte ich mich geradezu beflügelt gefühlt, meine Idee in die Tat umzusetzen. Und es war kaum zu fassen: Innerhalb kürzester Zeit fand ich das perfekte Haus für mein Vorhaben. Ich handelte mit HCI einen Deal aus, dass das Projekt im Namen von HCI und als Erweiterung von Drei Herzen, aber unter meiner Leitung laufen würde. Meine Mutter war so angetan von der Idee, dass sie unser Ferienhaus im Appenzeller Land zum Verkauf ausschrieb, damit ich von dem Erlös das Straßenkinderhaus kaufen könnte. Es ging alles wahnsinnig schnell. Innerhalb von gerade mal zwei Monaten gingen der Verkauf unseres Ferienhauses und der Kauf des Hauses in São Paulo über die Bühne. Als ich im Januar 1999 aus meinem Weihnachtsurlaub zurückkam, brauchte ich nur noch die Hausschlüssel abzuholen.

Vorher musste ich allerdings noch zum Geldwechselbüro und anschließend zur Bank. Die Bezahlung des Hauses hatte ich zwar über die Bank abgewickelt, aber internationale Geldtransfers nach Brasilien waren extrem kompliziert und nervenaufreibend. Also hatte ich für den Umbau 24 000 Dollar in bar mitgenommen. Das Geld konnte man allerdings nicht auf der Bank wechseln, sondern nur in sogenannten Wechselstuben. Eine Wechselstube befand sich genau gegenüber von meiner Bank. Ich war spät dran, wollte das Geld aber unbedingt noch umtauschen und in meiner Bank einzahlen.

Es war Freitagnachmittag kurz vor 16 Uhr und um 16 Uhr schlossen die Banken. Ich eilte also zum Wechselbüro und tauschte die Dollar in Reais um. Der Kurs war fast eins zu eins. Mit den gewechselten 24 000 Reais ging ich über die Straße zu meiner Bank. Als ich dort ankam, war es eine Minute nach sechzehn Uhr. Ich beeilte mich, um gerade noch in letzter Sekunde in die Bank hineinzuschlüpfen. Doch die Glastür war bereits verschlossen. Ich signalisierte dem Wächter hinter der Glasfront, ich müsse unbedingt noch in die Bank hinein. Aber er deutete auf seine Armbanduhr und zuckte entschuldigend die Achseln.

So ein Mist aber auch!, dachte ich genervt. Was jetzt?

Die Banken öffneten erst wieder am Montag. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die 24 000 Reais über das Wochenende in meiner Wohnung aufzubewahren. Mir war gar nicht wohl dabei. Ich versteckte das viele Geld im Fuß meines Kleiderschrankes und hoffte, dass nichts passierte.

Unmittelbar hinter meinem Badezimmer war ein Schacht, der bis ins Kellergeschoss hinabging, wo sich das Projekt befand. Wenn sich Leute in der Projektküche unterhielten, konnte ich durch das Fenster meines Bades jedes einzelne Wort verstehen. Herzhaftes Lachen drang durch den Schacht zu mir hoch und ich erkannte die prägnanten Stimmen von Wesley, Ivana und Valdir.

Wesley war vor ein paar Monaten zu unserem Team dazugestoßen. Er war extrem übergewichtig und extrem witzig, weswegen wir ihn alle sehr mochten. Er kam fast jeden Abend, um für die Straßenjungen zu kochen. Ivana war eine alleinerziehende Mutter und half ab und zu im Secondhandshop mit. Ana war nach Amerika ausgewandert und Ivana füllte die Lücke, die Ana bei mir hinterlassen hatte. Ivana war mir zu einer guten Freundin geworden, der einzigen, die ich hatte. Überhaupt waren alle, mit denen ich im Projekt zusammenarbeitete, auch gleichzeitig meine besten Freunde: Leonardo, Marcio, Valdir, Cleudemir und nun auch Ivana und Wesley. Wir hingen auch außerhalb der Arbeitszeiten oft im Projekt ab und hatten immer viel Spaß. Es war unglaublich wertvoll, solch gute Freunde zu haben, und durch Camilas Tyrannei waren wir zu Leidensgeschwistern geworden, was uns als Truppe noch viel mehr zusammengeschweißt hatte.

Manchmal hatten wir nichts als Unsinn im Kopf. Zu meinem 28. Geburtstag zum Beispiel hatten meine Freunde mir eine riesige Schokoladentorte geschenkt und als ich sie voller Freude anschneiden wollte, stellte sich heraus, dass es nur ein Holzklotz mit Schokoladenguss war. Meine Freunde hatten sich kaputtgelacht. Als Trostpreis hatten sie mir eine Büchse Sardinen geschenkt. (Ich hasse Sardinen!) Dann war Cleudemir auf die glorreiche Idee gekommen, sich im Secondhandshop ein paar Kleider auszuleihen. Wir alle setzten Perücken auf, die Jungs schminkten sich, Marcio verkleidete sich als Braut und wir posierten alle hinter der hölzernen Torte und der Sardinenbüchse für ein Geburtstagsfoto. Später gab es dann doch noch einen richtigen Kuchen. Es war mit Abstand eine meiner schönsten Geburtstagsfeiern gewesen. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht.

Als ich Wesley, Ivana und Valdir in der Küche herumalbern hörte, ging ich runter ins Projekt und fand Leonardo, Marcio, Valdir, Ivana und Wesley beim Kaffeetrinken. Ich gesellte mich dazu und wurde stürmisch begrüßt. Wir quatschten über unsere Weihnachtserlebnisse und dann erzählte ich ihnen von meiner blöden Verspätung bei der Bank und dass ich deswegen übers Wochenende eine Tasche mit einer Unmenge an Bargeld in meinem Schrankfuß liegen hätte. Sie schüttelten alle den Kopf und meinten, der Wächter bei der Bank hätte mich echt noch reinlassen müssen.

»Nun, ist ja nur bis Montag. Da wird schon nichts passieren«, beruhigte mich Wesley und schenkte eine neue Runde Kaffee ein.

Tja, und dann passierte es. Am Sonntagmorgen, während ich in der Gemeinde die Predigt hielt. Als ich nach dem Gottesdienst zu meiner Wohnung zurückkam, war die Tür aufgebrochen. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab. Das Geld! Ich stürzte in die Wohnung, riss den Kleiderschrank auf und erstarrte. Das Geld war weg! 24 000 Reais – einfach weg! Gestohlen!

»Nein, nein, nein«, hauchte ich entsetzt. »Das darf doch nicht wahr sein. Nein! Wie um alles in der Welt …«

Und dann durchfuhr mich ein zweiter Schauer von Kopf bis Fuß: Meine Freunde! Niemand außer meinen besten Freunden hatte von dem Geld gewusst, was bedeutete … einer von ihnen musste das Geld gestohlen haben! Allein der Gedanke ließ mir die Galle hochkommen. Das konnte, nein, das durfte nicht sein! Nicht meine Freunde! Nein! Aber wer denn sonst?

Ich holte Leonardo und zeigte ihm den leeren Kleiderschrank. Er war genauso schockiert wie ich und sagte, wir müssten die Polizei verständigen. Zwei Polizisten kamen und untersuchten das aufgebrochene Schloss und den Schrank kopfschüttelnd, während ich ihnen schilderte, was passiert war. Sie mussten mich für eine komplette Idiotin halten. Wie konnte man nur so dumm sein und 24 000 Reais in einem Schrank verstecken und dann auch noch mehreren Leuten frei heraus davon erzählen? Ich schämte mich für meine Dummheit in Grund und Boden. Aber das brachte das Geld auch nicht mehr zurück.

»Wer wusste alles von dem Geld?«, fragte mich einer der Polizisten.

»Nur meine engsten Freunde.«

»Namen?«

»Marcio, Valdir, Leonardo, Ivana und Wesley.«

»Sollen herkommen.«

Nachdem sich alle in meinem Wohnzimmer versammelt hatten, wurden sie der Reihe nach von den Polizisten befragt. Das Geld war eindeutig während des Gottesdienstes geklaut worden, doch für dieses Zeitfenster hatten alle ein Alibi, denn alle waren ja im Gottesdienst gewesen und hatten meiner Predigt zugehört. Ich kam mir vor wie in einem Krimi von Agatha Christie. Jeder der fünf hatte ein hieb- und stichfestes Alibi und dennoch musste einer von ihnen der Täter sein. Einer von ihnen log mir geradeheraus ins Gesicht, ohne dabei auch nur rot zu werden. Einer von ihnen hatte mich ausgeraubt. Einer meiner besten Freunde! Ich wollte es nicht wahrhaben. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so betrogen worden von Menschen, denen ich vertraut hatte. Es schmerzte mehr, als es sich mit Worten beschreiben lässt. Es war, als hätte mir jemand einen Pfeil in die Seele gebohrt, und ich wusste noch nicht mal, wer! Ich wagte es kaum, in die Runde zu blicken. Ich wagte es kaum, meinen Freunden in die Augen zu sehen. Noch vor zwei Tagen hatten wir alle zusammengesessen, Kaffee getrunken, geplaudert und gelacht. Und jetzt war einer von ihnen ein Verräter. Es brach mir das Herz.

»Als Sie die Wohnung verließen, um zum Gottesdienst zu gehen, war das Geld noch da, ja?« Die Frage war an mich gerichtet und holte mich aus meinen Gedanken zurück.

»Ja, das Geld war eindeutig noch da«, antwortete ich.

»Wie weit ist es von Ihrer Wohnung bis zum Gemeindesaal, Senhorita?«

»Keine Minute. Ich muss dafür nicht einmal das Gebäude verlassen.«

»Und Sie gingen von Ihrer Wohnung direkt zum Gottesdienst, und zwar unmittelbar vor Gottesdienstbeginn? Und kamen nach dem Gottesdienst unverzüglich zurück?«

»Ja.«

»Und während des gesamten Gottesdienstes waren die Verdächtigen alle im Gemeindesaal anwesend?«

»Ja, es waren alle da.«

»Ist einer von ihnen früher gegangen?«

»Ich glaube nicht, nein.«

»Ist einer zu spät gekommen?«

»Ich hab nicht darauf geachtet, um ehrlich zu sein. Wobei …« Ich überlegte kurz. Mein Blick huschte zu Ivana. »Bist du nicht etwas später gekommen?«

Fehler! Fataler Fehler! Die Frage hätte ich ihr nicht stellen dürfen. Ivana starrte mich entgeistert an. »Was willst du damit sagen?«

»Nichts. Ich versuche nur herauszufinden …«

»Sind Sie zu spät gekommen, Ivana?«, hakte einer der Polizisten gleich nach.

»Mein Bus hatte Verspätung«, sagte Ivana, den beiden Polizisten zugewandt, während sie begann, nervös auf ihrem Stuhl hin- und herzuwippen. »Das ist ja wohl kein Verbrechen, oder?« Ihre Brust hob und senkte sich. In Sekundenschnelle verwandelte sie sich in eine Furie.

»Ich fasse es nicht, dass die da tatsächlich glaubt, ich hätte ihr Geld gestohlen!«, keifte sie zornig, ohne mich anzusehen. »Wieso sollte ich ihr verfluchtes Geld stehlen? Sehe ich etwa aus wie eine Diebin, hm? Sehe ich so aus? Unverschämtheit! Ich verdiene mein Geld ehrlich! Ich habe es nicht nötig, einer arroganten Gringa3 ihr Geld zu klauen!«

Sie knetete ihre Finger und ich sah, wie ihre Gesichtszüge sich versteinerten. Die Luft war so dick, dass man sie hätte schneiden können. Ich beobachtete Ivana. Während die Polizisten sie weiter in die Mangel nahmen und sie immer nervöser wurde und immer vehementer versuchte, sich herauszureden, formte sich bei mir aus einem Hauch von Misstrauen allmählich eine mögliche Theorie.

Ist sie es gewesen? Hat sie das Geld gestohlen?, überlegte ich. Sie war tatsächlich die Einzige, deren Alibi zu bröckeln begann. Die fünf, sechs Minuten, die sie zu spät zum Gottesdienst gekommen war, hätten locker ausgereicht, um in meine Wohnung einzubrechen, das Geld zu klauen und irgendwo zu verstecken, wo sie es später holen konnte. Wahrscheinlich war das Geld sogar in diesem Augenblick noch im Gebäude! Mein Verdacht erhärtete sich, je länger ich darüber nachdachte. Sie musste es gewesen sein! Ivana hatte das Geld gestohlen. Es war die einzige logische Erklärung. Und ich hatte ihr vertraut! Wie hatte ich mich nur so in ihr täuschen können?

Die Befragung dauerte geschlagene zwei Stunden. Ich war fix und fertig danach. Die Polizisten entließen alle Verdächtigen. Fluchworte auf den Lippen stapfte Ivana mit finsterer Miene an mir vorbei.

»Das wird ein Nachspiel haben!«, raunte sie mir drohend zu. Ihre Worte trafen mich tief. Von einem Moment auf den anderen hatte sich meine beste, meine einzige Freundin in meine erbittertste Feindin verwandelt. Es war unerträglich, genauso unerträglich wie die schauerliche und leider sehr starke Gewissheit, dass sie es wahrscheinlich gewesen war, die mich bestohlen hatte.

Die Polizisten versicherten mir, sie würden weitere Ermittlungen einleiten und sich melden, sobald sie eine Spur hätten. Einer von ihnen drehte sich auf der Türschwelle nochmals um und fragte mich doch tatsächlich, ob ich nicht Lust hätte, mich später auf einen Drink mit ihm zu treffen. Ich hätte ihm am liebsten eine gescheuert für diesen Annäherungsversuch. Natürlich habe ich nie wieder etwas von ihnen und den Ermittlungen gehört.

Unterdessen hatte mir Ivana den Krieg erklärt. Feuer loderte in ihren Augen, wann immer ich ihr im Flur begegnete.

»In der Hölle wirst du schmoren!«, zischte sie. »Ich werde dich prozessieren, das schwör ich dir!«

Tatsächlich spazierte sie zwei Tage nach dem Vorfall mit zwei Anwälten ins Gebäude. Und Pastor Lourival gab mir klipp und klar zu verstehen, ich müsse die Klage fallen lassen, oder es würde übel für mich enden. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich war es, die ausgeraubt worden war, und jetzt war ich auf einmal die Schuldige? Außerdem rührte die Polizei sowieso keinen Finger, um den Fall zu klären. Sie hatte ja am Tatort nicht mal Fingerabdrücke genommen!

»Mach dir keinen Kopf. Ivana blufft nur«, beruhigte mich Leonardo, als ich ihm von ihrer Drohung und den Schlipsträgern erzählte. »Hunde, die bellen, beißen nicht.«

»Ich verstehe einfach nicht, wie sie – oder wer auch immer – mir das antun konnte. Alle wussten doch, dass das Geld für den Umbau des Straßenkinderhauses bestimmt war.«

Leonardo zuckte die Achseln. »Geld verändert Menschen. Erleben wir ja nicht das erste Mal.«

»Ich weiß. Aber es tut verflucht weh, so betrogen zu werden, und das von jemandem, der dir nahesteht.«

»Weiß deine Mutter schon, was passiert ist?«

Ich nickte. »Sie sagte, der Dieb würde ihr leidtun, weil er ja nicht uns, sondern Gott bestohlen habe. Und sie meinte, ich solle Ivana um Vergebung bitten.«

»Um Vergebung bitten?«

»Ja, dafür, dass ich sie verdächtigt habe. Und meine Mutter hat recht. Egal, ob Ivana es getan hat oder nicht, ich sollte sie aus meiner Anklage entlassen und die Sache Gott abgeben. Es ist schließlich sein Geld, also wird auch er sich darum kümmern.«

Noch am selben Tag suchte ich Ivana im Secondhandshop auf und bat sie, mir zu verzeihen. Es fiel mir nicht leicht, doch ich tat es, weil es das Richtige war, und um unserer Freundschaft willen, die mir viel bedeutete. Ich versuchte, ihr dabei in die Augen zu sehen. Doch sie mied jeglichen Blickkontakt und brummte missmutig: »Ich vergebe dir nur, weil Jesus es uns geboten hat. Ich selbst kann es nicht tun.«

Mein Versöhnungsangebot änderte leider rein gar nichts an ihrer Haltung mir gegenüber. Ich hatte vor versammelter Schar angedeutet, sie könnte die Täterin sein. Ich hatte ihre Ehre in den Schmutz gezogen und das war nicht wiedergutzumachen. Ich war für sie gestorben. Endgültig. Sie redete nicht mehr mit mir und ignorierte mich vollkommen. Es war vorbei.

Neun Tage nach dem Diebstahl saß ich allein in meiner Wohnung und fühlte mich elend. Die ganze Sache belastete mich enorm. Einen Vertrauensmissbrauch wie diesen hatte ich noch nie erlebt, und ich hatte niemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Nicht einmal Leonardo. Es gab Dinge, die schien kein Brasilianer zu verstehen. Ich fühlte mich unverstanden und völlig alleingelassen. Meine Seele hatte einen tiefen Riss bekommen, eine Wunde, von der ich mir nicht sicher war, ob sie je wieder verheilen würde.

Durch das Fenster meines Badezimmers hörte ich Leonardo, Marcio, Valdir und Wesley, wie sie in der Küche des Projektes saßen und sich über irgendetwas köstlich amüsierten. Ich ertrug es nicht, ihr Gelächter länger mitanzuhören. Wie konnten sie so unbeschwert lachen nach dem, was geschehen war? Wie konnten sie einfach zur Tagesordnung übergehen, als wäre alles in Ordnung? Natürlich war ich es, die ausgeraubt worden war. Aber die Fröhlichkeit meiner Freunde war wie ein Hohn in meinen Ohren und schien den Riss in meiner Seele noch tiefer zu reißen. Ich bildete mir sogar ein, sie würden mich alle auslachen wegen meiner Dummheit und Naivität. Ich stürmte aus meiner Wohnung und eilte die 700 Meter bis zu meinem Haus, das ich gekauft hatte. Ich schloss die Tür auf und ließ mich entlang der Wand auf den Boden gleiten. Und dann weinte ich mir die Seele aus dem Leib.

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9783775174923
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