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Alles klar, dann soll es also Brasilien sein!, dachte ich. Jetzt brauche ich bloß noch irgendeinen Kontakt vor Ort, dann kann es losgehen.

Ein paar Monate später traf ich bei einem Vikariat, das ist in der Schweiz eine Stellvertretung an der Schule, eine Lehrerin namens Erna Thoma, die mir in der großen Pause erzählte, sie sei gerade auf Heimaturlaub und würde nächste Woche zurück an den Amazonas reisen. Sie unterrichtete in Belém, im Norden Brasiliens, Missionarskinder. Unser Gespräch dauerte gerade mal 15 Minuten, doch in diesen 15 Minuten tauschten wir Telefonnummern und E-Mail-Adressen aus und ich hatte meinen Kontakt in Brasilien.

Ich plante meine Reise wie folgt: Am 28. Dezember würde ich nach Costa Rica fliegen, um dort mit ein paar jungen Männern ein neues Missionarshaus im Dschungel zu bauen. Am 11. Februar 1996 würde ich für zwei Monate Chile bereisen, um Material für den dritten Band meiner Abenteuerserie zu sammeln. Am 10. April würde ich für drei Monate nach Brasilien reisen, erst zwei Monate nach Belém, um Portugiesisch zu lernen, und dann noch einen Monat nach São Paulo für die eigentliche Recherche über Straßenkinder. Am 10. Juli 1996 würde ich dann wieder in die Schweiz zurückkehren, meine Abenteuer in Südamerika beenden und irgendwie versuchen, wieder Fuß in meiner Heimat zu fassen.

Das war der Plan.

Natürlich kam alles anders …

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Die Reise auf der Calbuco

Ein durchdringender Hornstoß riss mich aus meinem Halbschlaf. Es war sieben Uhr morgens. Die erste schlaflose Nacht war überstanden. Ich rekelte mich auf meinem Sitz im Container und ging nach draußen. Die Calbuco war zwischen den Inseln an der Südküste Chiles vor Anker gegangen. Im Mittelteil des Schiffes wurden die Vorräte aufgefüllt. Ich hatte mir abends zuvor am Pier einen halben Liter Coca-Cola und eine Packung Kekse gekauft. So genoss ich mein Frühstück aus Cola und Keksen und sah den Matrosen bei der Arbeit zu.

Ist doch ganz gut, dass ich auf keinem Touristenschiff gelandet bin, dachte ich. Das hier ist viel spannender.

Warum man mir im Reisebüro eine Fahrt auf der Calbuco verkauft hatte, war mir nach wie vor ein Rätsel. Ich hatte einfach gesagt, ich wolle die sechstägige Schiffreise zur berühmten Laguna San Rafael buchen, wo der äquatornächste Gletscher in einen von treibenden Eisschollen gefüllten Zungenbeckensee mündet. Nun, egal. Ich wollte ein Abenteuer erleben, hier hatte ich eins. Und was für eins!

Nach zwei Stunden ging die Fahrt weiter, immer zwischen den vielen Inseln hindurch Richtung Süden. Das Wetter war launisch. Mal schien die Sonne von einem azurblauen Himmel und die vielen Inseln lagen in sanften Blautönen hintereinander. Dann wieder regnete oder hagelte es. Ab und zu sah ich Seehunde und Delfine.

Es war immer noch eisig kalt. Ich war dankbar für meine Thermounterwäsche, fror aber trotzdem die ganze Zeit. Zur durchdringenden Kälte kam seit unserem Zwischenstopp ein penetranter Gestank nach Muscheln hinzu. Sie lagen in großen Säcken direkt beim Eingang unseres Bunkers, sodass man in dem Raum kaum noch atmen konnte. Ja, ein paar Unannehmlichkeiten brachte die Reise auf dem Frachter schon mit sich. Zum Beispiel waren die sanitären Einrichtungen eine absolute Katastrophe. Die Toilette stank fürchterlich. Papier gab es sowieso keines, der Boden war nass und das Wasser stand im Waschbecken.

Noch schlimmer war die Dusche. Sie war nicht größer als eine Telefonkabine. Der Ablauf war gleich neben dem Eingang, was zur Folge hatte, dass das Wasser erst abfließen konnte, wenn das Schiff sich auf die entsprechende Seite neigte. Schaukelte es zurück auf die andere Seite, standen dafür meine Schuhe im Wasser. Der einzige Kleiderhaken befand sich direkt neben dem Duschkopf. Keine Ahnung, wer auf diese glorreiche Idee gekommen war. Also klemmte ich meine Kleider zwischen ein paar Rohre und Kabel unter der Decke, damit sie trocken blieben. Das würde das erste und letzte Mal sein, dass ich hier duschte! Doch zumindest hatte ich mal wieder saubere Haare.

Mangelnde Hygiene und stinkende Muscheln waren aber bei Weitem nicht meine größten Sorgen. Im Reisebüro hatte man mir versichert, dass man auf dem Schiff Essen kaufen könne. Dem war aber nicht so, wie ich nun herausfand, als ich gegen Mittag die Kantine aufsuchte. Das Einzige, was man kaufen konnte, war Kaffee!

»Gibt es wenigstens eine Möglichkeit, irgendwo an Land zu gehen, um etwas einzukaufen?«, fragte ich den Mann hinter der Theke. Er verneinte.

Na toll, dachte ich. Jetzt habe ich ein echtes Problem.

Ich kaufte mir einen Kaffee, wärmte meine klammen Finger an dem Becher und spürte, wie wohlige Wärme sich in meinem durchfrorenen Körper ausbreitete.

Wie um alles in der Welt soll ich sechs Tage mit drei Deziliter Cola und einer drei Viertel vollen Schachtel Kekse auskommen?, überlegte ich. Hätte ich bloß nicht so viele davon zum Frühstück gegessen! Warum hatte mir keiner gesagt, dass man auf dem Schiff nichts zu essen bekam?

Ich rechnete mir aus, dass ich pro Tag zwei Kekse essen und etwa 50 Milliliter Coca-Cola trinken durfte. Irgendwie werde ich das schon überleben, dachte ich und schlürfte an meinem Kaffee.

Die zweite Nacht im Container war noch kälter als die erste. An Schlafen war nicht zu denken. Außerdem quälten mich Hunger und Durst. Meine Zuversicht schwand langsam dahin. Am nächsten Morgen gegen elf Uhr ging ich mich in der Kantine aufwärmen, als mich ein chilenischer Matrose ansprach.

»Woher kommst du?«

»Aus der Schweiz«, sagte ich.

»Oh, aus Schweden!«

»Nein, nicht Schweden. Schweiz. Das sind zwei verschiedene Länder.«

»Ah«, sagte der Mann und streckte mir seine schwielige Hand entgegen. »Ich heiße Pepe. Ich arbeite als Maschinist auf der Calbuco.«

»Damaris«, stellte ich mich vor.

»Damaris. Schöner Name. Wieso reist eine junge hübsche Frau wie du auf einem Frachtschiff wie diesem?«

Ich schmunzelte und erklärte es ihm.

»Unfassbar. Die hätten dir überhaupt kein Ticket verkaufen dürfen. Kannst du überhaupt schlafen in dem Bunker?«

»Nicht wirklich, um ehrlich zu sein.«

»Hey, hättest du Lust, dir den Maschinenraum anzusehen?«

»Ja, sehr gerne!«

»Dann komm mit.«

Ich folgte dem Matrosen aus der Kantine, durch einen schmalen Korridor und durch eine schwere Eisentür. Über eine Metallleiter gelangten wir in den Maschinenraum. Es war laut und warm. Die Maschinen dröhnten, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Es roch nach Öl und Metall. Pepe stellte mich all seinen Freunden vor und brachte mich dann wieder nach oben. Ich bedankte mich für die Führung und ging Richtung Bug, um ein paar Fotos von der Landschaft zu machen. Mein Magen knurrte. Wenn ich doch bloß etwas zu essen hätte! Diesen Teil der Geschichte hatte ich Pepe gegenüber absichtlich nicht erwähnt. Ich wollte kein Mitleid erregen.

Es war noch keine Stunde vergangen, als ein anderer Matrose auf mich zukam und mich mit Namen ansprach.

»Damaris?«

»Ja!«

»Der Kapitän möchte dich sehen.«

»Der Kapitän?!«

Verwirrt folgte ich dem Mann. Wieso wollte der Kapitän mich sehen? Er kannte mich doch überhaupt nicht. Der Matrose führte mich in den Mannschaftsessraum, wo mehrere Männer an einem Tisch saßen und eine Suppe schlürften. Pepe war auch da, ebenso der Kapitän, der leicht an seiner Uniform zu erkennen war.

»Ah, da ist sie ja!«, rief Pepe begeistert. »Käpt’n, das ist die junge Schwedin, von der ich dir erzählt habe.«

»Schweizerin.«

»Sag ich doch«, grinste Pepe und deutete auf einen leeren Stuhl. »Setz dich zu uns.«

Der Kapitän reichte mir seine Pranke und begrüßte mich herzlich. »Hast du Hunger?«

»Und wie!« Wenn ihr wüsstet …!, dachte ich.

Der Kapitän gab einem der Matrosen einen Wink, der verschwand in der Kombüse und kam mit einem prall gefüllten Teller mit Fleisch und Kartoffeln zurück. Ich glaubte zu träumen.

»Guten Appetit!«, sagte der Kapitän. »Lass es dir schmecken.«

Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Gierig machte ich mich über den Teller her. Ich hatte einen Kohldampf, ich hätte ein ganzes Pferd verspeisen können. Das Fleisch war zwar mehr Fett als Fleisch, aber das war mir egal. Ich aß den ganzen Teller leer, auch wenn mir die halbe Portion bei Weitem gereicht hätte. Doch ich wollte nicht unhöflich sein, außerdem wusste ich nicht, wann ich das nächste Mal ein anständiges Essen zwischen die Zähne kriegen würde.

Es kam noch besser. Nachdem ich aufgegessen und lange mit der Mannschaft geplaudert und gelacht hatte, bat mich Pepe, mit ihm mitzukommen. Er führte mich in seine Kajüte, die er mit einem anderen Maschinisten teilte.

»Wenn du willst, kannst du meine Koje haben. Vorne im Bunker ist es viel zu kalt.«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Er stellte mir seine eigene Schlafkoje zur Verfügung? Zugegeben, der Gedanke an ein warmes Bett war verführerisch. Doch bei so viel Freundlichkeit gab es bestimmt einen Haken. Wollte er im Gegenzug vielleicht etwas von mir?

»Und wo schläfst du dann?«, fragte ich vorsichtig.

»Mein Kumpel und ich teilen uns die obere Koje. Wir arbeiten sowieso in Schichten. Du kannst also gerne in der unteren schlafen.«

»Bist du sicher?«

»Absolut. Es sei denn, du ziehst es vor, mit den anderen Reisenden im Container zu bleiben.«

Ich überlegte. Natürlich war es ziemlich naiv, einem wildfremden Matrosen einfach so zu vertrauen. Aber eine weitere Nacht im Bug durchschlottern wollte ich auch nicht. Und so nahm ich sein Angebot an. Ich bereute es nicht. Pepe und auch alle anderen Matrosen hatten offenbar einen Narren an mir gefressen. Ich wurde ihr VIP. Ich durfte jeden Tag mit dem Kapitän und der Mannschaft zu Mittag essen und konnte in einem warmen Bett schlafen. Was wollte ich mehr?

Von nun an konnte ich die Reise auf der Calbuco in vollen Zügen genießen. Je weiter wir nach Süden vorstießen, desto kälter wurde es. Das Wetter war regnerisch und ungemütlich. Am dritten Tag erreichten wir die berühmte Laguna San Rafael. Pepe lieh mir eine dicke Jacke, Handschuhe und Wollmütze aus. In zwei kleinen Rettungsbooten tuckerten wir in die Nähe der gewaltigen Gletscherzunge. Zu nahe durfte man nicht heran, denn mehr als einmal lösten sich riesige Eisbrocken vom Gletscher und stürzten krachend ins Meer. Es war absolut eindrücklich. Zur Krönung des Ausflugs wurde Whisky ausgeschenkt, der traditionsgemäß mit tausendjährigen Eiswürfeln getrunken wurde, die man sich selbst vom Boot aus angeln konnte.

Die dreitägige Rückreise war ebenfalls unvergesslich. Wir liefen die verschiedensten kleinen Häfen an, wo Einheimische an Land gingen und neue Fracht an Bord kam oder den Inselbewohnern übergeben wurde. Ich liebte es, der Schiffscrew beim Entladen und Verladen zuzusehen. Die Inselbewohner ruderten in kleinen Holzbooten herbei, um die Nahrungsmittel, Muscheln, Fische und Früchte in Empfang zu nehmen oder der Calbuco zum Transport mitzugeben. Einmal wurden ein Bett, eine Tür und zwei Fenster mit dem Kran auf ein Ruderboot gehievt, ein anderes Mal kam ein ganzes Motorboot an Bord und einmal wurde sogar ein Lama aufgeladen. Sehr eindrücklich war auch ein Dorf am Rand einer Insel, das man Plastikstadt nannte, weil alle Häuser aus Plastik waren.

In Puerto Montt verabschiedete ich mich von Pepe und der ganzen Besatzung und ging von Bord. Von all den Abenteuern, die ich bisher in Südamerika erlebt hatte, war dieses eindeutig das spektakulärste gewesen. Ich hatte ja keinen Schimmer, dass die Abenteuer, die mich in Brasilien erwarteten, noch um einiges heftiger würden. Vor allem um einiges gefährlicher …

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São Paulo

Donnerstag, 4. Juni 1996. São Paulo, Brasilien. Mit 20 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken und acht Kilogramm am Bauch, der Wegbeschreibung in der einen und der Armbanduhr in der anderen Hosentasche – damit sie nicht geklaut würde – schlug ich mich mit Bus und Metro zur Rua Vergueiro durch.

Wenn bloß niemand auf die Idee kommt, mich auszurauben!, dachte ich die ganze Zeit und gab mir Mühe, einen möglichst unauffälligen Eindruck zu erwecken. Man hörte schließlich allerhand Horrorgeschichten von Überfällen in dieser Millionenstadt.

Hier war ich nun also. Im Stadtzentrum von São Paulo, der letzten Station auf meiner sechsmonatigen Südamerikareise. Ich schaute dieser Zeit mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Einen Monat würde ich in dieser kriminellen Metropole verbringen. Wie würde ich das bloß überstehen? Würde mich Gott auch hier zur rechten Zeit an den rechten Ort führen? Alles, worauf ich mich stützte, waren eine Adresse der Hilfsorganisation Hope in Christ International1, kurz HCI, und ein Telefongespräch mit Roland, einem Pastor dieser Organisation, der mir vor einem Monat in gebrochenem Deutsch ein Bett in ihrem Studentenheim in São Paulo zugesichert hatte.

Eigentlich hatte ich keinen Grund zur Sorge. Wenn es etwas gab, was ich in den vergangenen fünf Monaten gelernt hatte, dann, dass Gott mich nie im Stich ließ. Er war der beste Reiseleiter, den man sich wünschen konnte. Er hatte mir auf der Calbuco ein Bett und zu essen gegeben. Er hatte mir in einem Bus die Schwester des Schweizer Skirennfahrers Daniel Mahrer über den Weg geschickt, die mich anschließend für einen Monat in Santiago de Chile bei sich beherbergt hatte, damit ich mein Buch über Chile (Kampf um den Regenwald) schreiben konnte. Er hatte mich in einer 15-minütigen Pause mit Erna Thoma bekannt gemacht, durch die ich zu einem zweimonatigen Aufenthalt in Belém an der Mündung des Amazonas gekommen war, wo ich Portugiesisch gelernt und eine deutsche Straßenkindermissionarin kennengelernt hatte, die mir die Adresse von HCI in São Paulo gegeben hatte.

Gott hatte meine ganze Südamerikareise perfekt orchestriert und mich vor Hunderten von Gefahren bewahrt, wie zum Beispiel in der chilenischen Wüste, als ich mitten im Nirgendwo am Straßenrand stand, weil ich zu früh aus einem Bus ausgestiegen war. Irgendjemand hatte mir geraten, ich solle hier in einen anderen Bus umsteigen, was völliger Quatsch war. Es gab überhaupt keinen anderen Bus, nur Wüste, so weit das Auge reichte. Mehrere Stunden stand ich in der sengenden Sonne, 60 Kilometer von jeglicher Zivilisation entfernt, bis endlich ein Auto kam und mich in die nächste Stadt mitnahm.

Oder da war die Geschichte mit meinem 26-Kilometer-Marsch durch den Nationalpark Alerce Andino, ein Naturreservat mit schmalen, morastigen Pfaden. Mutterseelenallein, ohne irgendeinen Kontakt zur Außenwelt, wanderte ich durch diesen chaotischen Naturwald, kletterte über tausend Jahre alte umgestürzte Bäume und kämpfte mich durch Sümpfe und Gestrüpp. Hätte ich den Pfad verloren oder mir den Fuß verknackst, ich glaube, niemand hätte mich je gefunden.

Ja, Gott hatte in Chile die Hand über mir gehalten und nicht zugelassen, dass mir irgendetwas zustieß. Er würde auch in São Paulo bei mir sein.

Nervös war ich trotzdem.

Hope in Christ International (HCI) ist eine weltweite christliche Organisation, die in vielen Ländern der Welt tätig ist und ihren internationalen Sitz in Atlanta hat. Es gibt sowohl christliche Gemeinden als auch soziale Einrichtungen von HCI, die meist Hand in Hand laufen und von Pastoren derselben Organisation geleitet werden. Jedes Land funktioniert eigenständig und hat seine eigene Bibelschule für seine zukünftigen Pastoren. Anders als bei anderen kirchlichen Organisationen dürfen die Pastoren ihren Einsatzort nicht frei wählen. Er wird ihnen von der Landesleitung zugeteilt und ändert sich im Schnitt alle vier bis sechs Jahre, je nach Bedarf. An der Spitze des jeweiligen Landes steht der Landesleiter. Gleich unter ihm in der Hierarchie kommt der Vize-Landesleiter, dem wiederum mehrere Gebietsleiter unterstellt sind. Jeder Gebietsleiter ist zuständig für einen einzelnen Staat und hat die Leitung über sämtliche Pastoren dieses Staates inne. Da es in ärmeren Ländern oft zu wenig einheimische Pastoren gibt, sendet HCI auch Pastoren aus Europa und den USA in diese Länder, wo sie dann unter der jeweiligen nationalen Landesleitung dienen.

So auch die Schweizer Pastoren Rosa und Roland. Sie kamen aus dem Welschland, dem französisch sprechenden Teil der Schweiz, und leiteten in São Paulo eine Kirchengemeinde und ein Sozialhilfeprogramm von HCI Brasilien. Sie hießen mich mit offenen Armen willkommen, gaben mir ein Bett in einem Viererzimmer im Studentenheim und luden mich gleich zum Mittagessen ein.

»Du willst also ein Buch über Straßenkinder schreiben?«, fragte mich Roland interessiert.

»Ja. Ich habe dafür extra Portugiesisch gelernt«, sagte ich in meinem sehr gebrochenen Portugiesisch. »Ich hoffe, ich kann hier genug Material sammeln.«

»Das kannst du auf jeden Fall«, sagte Rosa. »Und dein Timing ist perfekt: Wir stehen seit zwei Jahren in der Planung eines Straßenkinderprojektes. Und in einer Woche wird es eröffnet.«

»In einer Woche? Das ist ja unglaublich!«

»Es wäre toll, wenn du im Projekt mithelfen könntest, solange du hier bist.«

»Aber klar! Auf jeden Fall!«

Ich war hellauf begeistert. Wieder staunte ich über die präzise Reiseplanung von oben. Einen besseren Zeitpunkt für meinen Aufenthalt in São Paulo hätte ich nicht wählen können.

»Wir können dich auch mit einem Straßenmissionar in Kontakt bringen, der dich mit zu den Straßenkindern nimmt, wenn du das möchtest.«

»Ja, großartig! Das ist … Wow! Vielen Dank!«

Der Missionar, von dem sie sprachen, hieß Virgilio. Er war nicht bei HCI, aber Rosa und Roland arbeiteten mit den verschiedensten Sozialwerken zusammen und waren gut vernetzt. Virgilio war ein ungefähr 40-jähriger Brasilianer, der Tag für Tag auf den Straßen São Paulos unterwegs war und dort die Straßenkinder besuchte. Ich traf ihn am Montag bei einer Metrostation und er gab mir eine Stadtführung, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde.

Als Erstes machten wir bei einer Brücke halt. Unter der Brücke war ein riesiger Hohlraum, rundum von hohen Betonmauern umgeben. Virgilio schwang sich über das Brückengeländer und hangelte sich entlang eines Gitters bis zu einem steilen, glitschigen Abhang.

»Komm!«, rief er mir zu. »Keine Angst.«

Zögerlich folgte ich ihm, während die Passanten verwundert stehen blieben und sich wohl fragten, was zum Geier wir da machten. Mehrere schauten neugierig über das Geländer und beobachteten, wie wir im miefenden Dreck den Hügel hinabkraxelten. Wir erreichten ein Loch in der Betonmauer, der Einstieg zum Unterschlupf der Straßenkinder. Er war ungefähr einen Meter hoch und 50 Zentimeter breit. Virgilio zwängte sich hindurch, ich tat es ihm gleich. Dahinter war es düster. Unter uns, am Fuße des Abhangs, war alles mit Müll übersät. Aber ich sah keine Kinder.

»Hier übernachten die Straßenkinder«, erklärte mir Virgilio. »Hier nehmen sie Drogen, schlafen miteinander. Es gibt auch Ratten, die beißen. Ich komme hier öfter des Nachts her, um mit den Kindern zu reden und ihnen von Jesus zu erzählen.«

»Hast du keine Angst vor ihnen? Ich habe in einem Buch gelesen, dass Straßenkinder sehr gefährlich sein können.«

»Nicht, wenn du ihnen Liebe schenkst. Anfangs war es schon etwas schwierig und es kam vor, dass sie mir ein Messer an den Hals hielten. Doch in der Zwischenzeit kennen sie mich. Sie umarmen mich, schmutzig wie sie sind. Und stell dir vor, ich habe noch nie Läuse bekommen.« Er lachte. »Das ist ein Wunder von Gott, sage ich dir. Keine Läuse!«

»Warst du früher auch ein Straßenkind?«

»Nein. Ich war ein Schläger in Rio de Janeiro. Allein Gottes Gnade hat mich daran gehindert, Menschen zu töten. Ich habe ein paar hübsche Narben aus meinem alten Leben davongetragen.«

»Was war dein gefährlichstes Erlebnis auf der Straße?«

»Oh, da gibt es ständig welche. Kürzlich, als ich mit einer Gruppe von Straßenkindern redete, kam ein Polizist und drohte mir mit vorgehaltener Waffe, mich zu erschießen.«

»Was?« Meine Augen weiteten sich. »Wie hast du reagiert?«

»Nun, ich habe innerlich gezittert, ihn angeschaut und gesagt: ›Sie können mich erschießen, denn ich weiß, wohin ich gehe. Aber wenn Sie das tun, wer wird dann diesen Kindern von der Liebe Gottes erzählen, diesen Kindern, die ihr Polizisten schlagt und misshandelt?‹ Da hat er mich gehen lassen.«

»Meine Güte. Ich dachte, die Polizisten wären die Guten. Und du sagst, sie misshandeln die Kinder?«

»Sie bringen auch viele um.«

»Bitte was?!«

»Straßenkinder stören das Stadtbild«, sagte Virgilio mit einer Selbstverständlichkeit, die mich noch mehr schockierte. »Keiner will sie haben. Man sieht sie nicht als Menschen, sondern als lästiges Ungeziefer. Die Polizei handelt nach dem Motto: Ein toter Bandit ist ein guter Bandit. Es gibt nur wenige, die sich wirklich für diese Kinder einsetzen. Und wenn du es tust, musst du 100-prozentig wissen, dass Gott dich dazu berufen hat, sonst stehst du es nicht lange durch.«

Das bestätigte eine Aussage der Straßenkindermissionarin Elke aus Belém, Worte, die sich mir tief eingeprägt hatten: »Wenn du keine klare Berufung von Gott für diese Arbeit hast, lässt du besser die Finger davon.«

Langsam begann ich zu begreifen, was sie damit meinte.

Wir verließen das üble Versteck und die Tour ging weiter. Ich staunte über die vielen modernen Hochhäuser und die Massen an gut gekleideten Leuten, die sich außer ihrer dunkleren Hautfarbe kaum von den Passanten in Zürich unterschieden. Alle waren beschäftigt und hatten es eilig, irgendwo hinzukommen. Was anders war als in Zürich, waren die vielen Straßenhändler und Bettler und die Menschenschlangen, die sich in den Bankgebäuden oder vor irgendwelchen Schaltern bildeten. Anstehen und warten nahm in São Paulo – wie ich noch herausfinden würde – sehr viel Zeit in Anspruch.

Virgilio steuerte auf eine weitere Brücke zu. Hinter einem Absperrgitter, verschanzt in einer Burg aus Kartons, Decken und Türmen von Abfall, lagen mehrere Straßenkinder. Es war ein Anblick von Elend und Hoffnungslosigkeit. Ich war zutiefst erschüttert.

»Hey! Bernardo!«, rief Virgilio durch das Gitter. Ein vielleicht 14-jähriger Junge hob den Kopf. Sein erloschenes Gesicht hellte sich auf, als er Virgilio sah.

»Tio2 Virgilio!«, rief er und kam sofort auf uns zugelaufen.

Er reichte Virgilio seine Hand durchs Gitter. Dann gab er auch mir die Hand. Es kostete mich einiges an Überwindung, sie zu schütteln. Sie war so schmutzig, dass man den Schmutz regelrecht fühlen konnte. Der Junge strotzte vor Dreck, sein zerschlissener Pullover und die viel zu weiten Hosen waren bestimmt seit Monaten nicht gewaschen worden. Virgilio unterhielt sich eine Weile mit Bernardo. Ich verstand nicht alles, aber ich sah die Liebe Gottes aus Virgilios Augen strahlen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Es kam mir wirklich vor, als würde Jesus höchstpersönlich mit diesem Straßenjungen reden. Ich war zutiefst bewegt.

Wenn Jesus heute als Mensch unter uns leben würde, dann wäre er genau wie Virgilio, dachte ich. Und er würde genau hier sein, hier unter dieser Brücke inmitten von Müll und Dreck, und würde diesem Straßenjungen sagen, wie sehr er ihn liebe und dass er einen Plan für sein Leben habe.

Als Nächstes führte mich Virgilio zu einem Autotunnel. Über eine Treppe gelangten wir in den Tunnel hinunter. Links und rechts von der Treppe waren viereckige Löcher im Beton, Schächte, die den Straßenkindern als Schlupfwinkel dienten. Der Lärm der Autos war ohrenbetäubend. Wir mussten schreien, um einander zu verstehen.

»Hier, entlang der Mauer, schlafen nachts etwa 30 Kinder!«, rief mir Virgilio zu.

Über den schmalen Randstein neben den dahinbrausenden Autos gelangten wir zurück ins Freie. Wir gingen weiter. An jeder Straßenecke, bei jeder Treppe, hinter jedem Gebäude wusste Virgilio eine Geschichte zu erzählen. Er berichtete von Jugendlichen, die erstochen oder erschossen worden waren, alles Straßenkinder, die er persönlich gekannt hatte. Die Realität der Straße war brutaler als jeder Horrorfilm. Ich hätte mir noch vor einer Woche nicht im Entferntesten vorstellen können, dass es so etwas überhaupt gab. Es war übel. Wirklich übel.

Unter einer mehrspurigen Autobahnbrücke trafen wir auf eine Straßenkindergruppe, die auf dem vier Meter breiten Betonstreifen in der Mitte der Fahrbahnen lebte. Sie kannten Virgilio und empfingen ihn freudig. Es roch nach Abgas und Urin. Zwei etwa achtjährige Knaben zeigten mir stolz ihr Quartier, ein paar Matratzen, Decken, ein zerschlissenes Sofa und ungefähr 20 junge Hündchen, die sie in einer großen Kartonschachtel aufbewahrten. Ein Mädchen hielt sich eine Plastiktüte mit einer gelben, klebrigen Masse vor den Mund. Es war Klebstoff, wie ich später erfuhr. Das Mädchen inhalierte die giftigen Dämpfe und war so beduselt davon, dass sie viel zu nah an der Fahrbahn herumtorkelte. Ich hatte echt Angst, sie würde jeden Moment einen falschen Schritt machen und von einem Auto erfasst werden. Plötzlich entdeckte ich ein etwa 50 Zentimeter großes Loch in der Decke der Brücke und einen Kopf, der daraus hervorlugte. Ich traute meinen Augen nicht.

Mein Gott, die leben in der Brücke drin!, dachte ich verstört. Wie um alles in der Welt können die da drin leben?!

Ein Strick wurde heruntergelassen und ein Mädchen kletterte daran hoch und verschwand in der Öffnung. Ich schoss ein paar Fotos und ging dann zu Virgilio, der neben ein paar Jugendlichen auf dem schmutzigen Boden kniete und ihnen von Jesus erzählte. Zum Schluss sang er ein Lied mit ihnen und betete für sie. Freude und Dankbarkeit spiegelten sich in ihren trüben Augen, als wir uns mit Handschlag von ihnen verabschiedeten und weiterzogen. Wir besuchten noch ein paar weitere Orte, doch es waren keine Straßenkinder da.

»Sie sind ständig in Bewegung«, erklärte mir Virgilio. »Mal sind sie hier, mal dort. Man weiß nie, wo man sie antrifft.«

Mit tausend Eindrücken im Kopf kam ich am späten Nachmittag zurück ins Studentenheim. Ich brauchte dringend eine Dusche. Ich war erschüttert von dem, was ich gesehen und gehört hatte. Im Vorfeld hatte ich viele Bücher über Straßenkinder gelesen. Aber ihr Elend mit eigenen Augen zu sehen, war etwas gänzlich anderes. Es brach mir das Herz. Ich war so behütet aufgewachsen und diese Kinder lebten auf der Straße und hatten niemanden auf der Welt außer sich selbst. Gleichzeitig hatte ich miterlebt, wie Virgilio inmitten dieser Trostlosigkeit Hoffnung und Liebe verbreitet hatte. Nie zuvor hatte ich die Kraft des Evangeliums so eindrücklich in Aktion gesehen. Gottes Wort war tatsächlich lebendig und in der Lage, den Hunger dieser Kinder zu stillen! Unglaublich!

Am Mittwoch war im HCI-Gebäude eine Planbesprechung für das Straßenkinderprojekt, das am Montag eröffnet werden sollte. Das Projekt hieß Drei Herzen und würde Straßenjungen, die von der Straße wegkommen wollten, eine provisorische Übernachtungsmöglichkeit geben. Und ich war mittendrin bei den letzten Vorbereitungen. Das war so cool! Wir kauften Gitarren, Bücher, Spiele, Kleider und Geschirr. Ich schrieb Lieder auf Plakate, eine Hausordnung wurde erstellt, die Betten wurden bezogen, die Vorratskammer aufgefüllt, Pfannen und Töpfe in die Küchenregale geräumt.

Ich freundete mich rasch mit allen Mitarbeitern an. Da war als Erstes die quirlige kleine Brasilianerin namens Ana. Sie alberte ständig herum, brauchte immer eine Ewigkeit, um sich schick zu machen, und wollte später Pastorin bei HCI werden. Sie quatschte mich von morgens bis abends voll und obwohl sie schwarz und drei Köpfe kleiner war als ich, erklärte sie mich zu ihrer Zwillingsschwester.

Der Zweite im Bunde war Cleudemir. Cleudemir war vorgesehen, die Nachtschicht im Projekt zu übernehmen. Er hatte ein kaputtes Bein und ging am Stock. Er war ein schrulliger Bursche, stets guter Laune und für jeden Schabernack zu haben. Manchmal besorgte er sich im Secondhandshop im Erdgeschoss irgendwelche Kleider oder Perücken und schlüpfte in die unmöglichsten Rollen. Mal mimte er eine alte Dame mit Hut, dann wieder einen hartgesottenen Soldaten in Tarnuniform. Mit Cleudemir gab es immer etwas zu lachen.

Und zu guter Letzt war da noch Leonardo. Leonardo war 18 Jahre alt und hatte fast sein ganzes Leben auf der Straße verbracht. Eine Sozialarbeiterin hatte ihn vor zwei Jahren bei HCI abgeliefert. In einem Begleitschreiben stand: »Nachdem wir bereits alle Projekte und Heime ausprobiert haben, seid ihr unsere letzte Hoffnung. Leonardo integriert sich nirgends.« Die Polizei hatte ihm eine Geburtsurkunde ausgestellt, auf der stand: »Vater unbekannt. Mutter unbekannt.« Leonardo war bei seinem Stiefvater aufgewachsen, bis dieser ermordet worden war. Daraufhin hatte der Bruder des ermordeten Stiefvaters ihn bei sich aufgenommen. Allerdings nur, bis er selber wegen Mordes im Gefängnis landete, weil er den Mörder seines Bruders umgebracht hatte. So kam Leonardo ins Heim, wo er mit acht Jahren abhaute und von da an auf der Straße lebte.

Rosa und Roland nahmen ihn bei sich auf und innerhalb weniger Monate blühte der 16-Jährige förmlich auf. Sein erstes Gebet, so sagte Rosa, habe sie zu Tränen gerührt. Er begann auf einmal zu lachen, machte Witze, war unglaublich hilfsbereit und kehrte nie wieder auf die Straße zurück. Er hatte ein Zuhause gefunden. Sein radikaler Ausstieg von der Straße war es auch, der Rosa und Roland dazu animiert hatte, ein Straßenkinderprojekt zu eröffnen. Als Leonardo davon erfahren hatte, hatte er nur noch gestrahlt und gesagt, er wolle unbedingt als Leiter im Projekt mithelfen, wenn es so weit wäre. Und nun war er tatsächlich mit im Team.

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9783775174923
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