Читать книгу: «Die Hungrige Hexe», страница 4

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„Was willst du denn ernten?“

Sie kam näher, die schlanken Beine in den engen schwarzen Jeans schienen bis an die Decke zu reichen. Sie sah beinahe zärtlich auf ihn herab.

„Weißt du das wirklich nicht, Luke?“

Er wandte den Blick ab. Selbst am Anfang, in innigster Umarmung, hatte sie ihn nicht so angesehen wie jetzt. Und ihm dämmerte, dass sie ihn während der „Ernte“ sogar noch liebevoller ansehen würde.

„Doch“, flüsterte er und eine Träne rann an seiner Wange herunter, „ich glaube schon.“

Sie nickte langsam und wandte sich ab.

„Halt!“, rief Luke, „warte!“ Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Er schauderte. Ihr Blick war geistesabwesend. Sie war wohl in Gedanken schon bei ganz anderen Sachen, von denen er lieber nichts wissen wollte.

„Was ist denn noch?“

„Warum ist dein Spiegelbild plötzlich verschwunden?“

Sie stutzte kurz, dann lachte sie kurz und humorlos. „Ach, das! Tja, mein Spiegelbild konnte nur so lange in dieser Dimension existieren, bis ich wieder bei Bewusstsein war. Als ich wieder zu mir kam, musste sie zwangsläufig in den Spiegel zurück. Hat die geflucht! Geschimpft wie ein Rohrspatz! Du hättest sie hören sollen.“

„Ach so. Dann war es ja mein Glück, dass du wieder wach geworden bist.“

„Ja, Luke. Wieder Glück und Pech. Dein Glück, dass ich wieder wach wurde. Dein Pech, nach Ryan’s Field zu fahren. Dein Pech, dass du damals in meinen Wagen gestiegen bist. Dein Glück, dass du vor deinem Tod noch so viel Spaß haben durftest. Du siehst, Glück und Pech liegen nah beieinander.“

Luke brach in Tränen aus. Dass sie so beiläufig über seinen Tod sprach, machte ihm unmissverständlich klar, dass er tatsächlich bald sterben würde.

„Weine nicht, Luke. Vielleicht, wenn ich gute Laune habe, werde ich dafür sorgen, dass es für dich weitergeht. Es geht immer irgendwie weiter. Wer weiß, vielleicht hast du deine Schuld jetzt abgebüßt und darfst in diesen lächerlichen christlichen Himmel. Obwohl ich glaube, auch dein schrecklich qualvoller Tod wird dir keinen Zugang gewähren. Die wollen da oben keinen, der zwei siebzehnjährige Mädchen über Stunden vergewaltigt hat. Die wollen nur Heilige haben, Schafe, die nie gelebt und nie Spaß gehabt haben. Es muss schrecklich leer da oben sein. Sei froh, wenn du zur Hölle fährst, da unten ist ordentlich was los! Du wirst Menschen aus allen Schichten treffen. Ärzte, viele, viele Anwälte und Richter, also Leute aus den besten Familien. Hier würden die dich nicht mal mit dem Arsch angucken, aber dort unten hast du Zugang zu den höchsten Kreisen. Es wird dir gefallen!“

„Du verdammte Schlampe“, schluchzte Luke besiegt. Das höhnische Lächeln auf Samiras Gesicht vertiefte sich. Dann wurde sie ernst.

„Nein, wirklich Luke, wenn du dich beträgst und nicht die ganze Nacht um Hilfe brüllst, dann sorge ich dafür, dass du da vorerst noch nicht hin musst. Ich brauche meinen Schlaf, und es hört dich ohnehin niemand.“

„Wieso sollte ich die ganze Nacht brüllen“, fragte Luke erschöpft. Ein fürchterlicher Kopfschmerz breitete sich in seiner Stirn aus.

„Das tun sie immer. Alle.“ meinte Samira schlicht. Luke schluckte.

Immer. Alle. Sie tat es tatsächlich regelmäßig. Der Boden im Garten war mit den Gebeinen seiner Vorgänger gedüngt. Aus ihnen wuchsen Blumen, Kräuter, Gemüse.

„Überleg es dir, Luke. Für dich gibt es zwei Pfade, nachdem alles vorbei ist: Einer führt steil nach unten in eine Welt, in der sich keiner Gedanken macht, ob zu viel Heizen dem Klima schadet, und einer führt direkt zurück in ein neues Leben. Du bist der Einzige, dem ich das je angeboten habe.“

„Warum?“, krächzte Luke.

„Weil ich dich irgendwie mag. Und aus Respekt. Noch keiner hat es geschafft, mir zu entkommen. Das war mutig. Und gerissen, wie eine räudige, alte Ratte.“

„Dann lass mich doch am Leben“, bettelte Luke.

„Falsche Antwort.“ Ihre Stimme war jetzt kalt wie Eis. Sie wandte sich wieder ab.

„Entschuldige! Okay! Ich werde brav sein“, quiekte er hastig. Samira sah ihn zwar nicht an, nickte aber leicht.

„Bis morgen, Luke.“ Sie ging. Und ließ ihn allein.

Die Nacht war das Gruseligste, das Luke je erlebt hatte. Dass er irgendwie weiterleben durfte, flößte ihm wieder etwas Hoffnung ein, aber trotzdem hatte er vor dem, was ihm wohl bevorstand, schreckliche Angst. Sein Herz stolperte in der Brust und Luke hoffte beinahe, dass es einfach stehen bleiben würde. Dass es Himmel und Hölle gab, stand jetzt absolut fest. Denn Samira und ihr teuflisches Spiegelbild waren eindeutig Wesen aus der Hölle. Dann gab es auch einen Himmel, einen Gott und somit Gnade. Luke betete, Speichel lief ihm aus dem Mund, er stotterte sich durch das Vaterunser und den Rosenkranz, aber das war so lange her, dass er lange Pausen brauchte, um es einigermaßen richtig zu machen. Einst war er Messdiener gewesen, hatte das alles aber schnell für Mist gehalten. Jetzt flehte er die himmlischen Mächte um Erbarmen an, fragte sich aber auch resigniert, ob sie ihm denn überhaupt Gehör schenken würden, wo er doch einen Deal mit der Hexe hatte.

Um ihn herum war es Nacht geworden. Die Geschöpfe des Tages mochten Samiras Haus und Garten meiden, die der Nacht suchten ihre Nähe. Eulen schuhuten um ihn herum, es raschelte überall und irgendwo in nicht allzu großer Ferne heulte ein Wolf. Es war eiskalt geworden und Luke fror erbärmlich. Die Arme, vor allem die Schultern, schmerzten wegen der unnatürlichen und unbequemen Haltung, die die Ketten ihm aufzwangen. Jetzt wusste er, was sie mit Pech meinte, dass Pech, bis morgen warten zu müssen: ständig schlimmer werdenden Schmerzen, die Kälte und die schreckliche Verzweiflung, die wuchs und wuchs. Er weinte viel, betete, und zerrte ab und zu ohne große Hoffnung an den Ketten. Die Nacht wollte und wollte nicht enden.

Endlich stieg die Sonne auf, und Luke sah mit tränenden Augen zu, wie sich der Himmel langsam rötlich färbte. Sein letzter Sonnenaufgang. Und er konnte ihn hier im Pavillon nicht einmal richtig sehen. Die letzte große Verarsche.

Der Tag verging zäh, aber er fror nicht mehr so schrecklich und es war wenigstens hell. Irgendwann vormittags kam Samira zu ihm und wusch ihn von oben bis unten ab. Sie hatte einen Eimer mit einer duftenden Kräuterseife dabei, sie schrubbte gründlich und achtete nicht auf seine Schmerzenslaute, wenn der raue Schwamm seine Haut aufscheuerte. Dann rasierte sie ihn. Luke hielt zwar still, aber sie nahm auch hier keine große Rücksicht und grämte sich nicht, wenn die Klinge ihm die Haut zerschnitt. Sie rasierte wirklich alles und lachte, als er eine mächtige Erektion bekam. Luke errötete. Er fühlte sich zutiefst gedemütigt, ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als sie auch Tiefen auslotete, die keine Rasierklinge je zu Gesicht bekommen sollte.

„Du fühlst dich beinahe vergewaltigt, was, mein Schatz?“

„Ja“, stieß Luke zähneknirschend hervor.

„Dann denk dabei an das Mädchen, das du geschändet hast.“

„Was bist du jetzt, ein Moralapostel? Gerade du?“

„Nein, ach wo. Aber ich will, dass du leidest. Je stärker du leidest, desto besser ist das für mich. Leidest du, Luki-Maus?“

„Du verdammtes Dreckstück! Scher dich zum- AH!“ Sie hatte die Klinge in die empfindlichste Stelle mit der dünnsten Haut gedrückt, dort, wo die Sonne niemals schien.

„Vorsicht. Schon Konfuzius sagt: Beleidige niemals eine Hexe, die gerade deinen Arsch rasiert.“

Luke schloss schmerzgepeinigt die Augen. Auch seine Handgelenke pochten vom Gezerre an den Handschellen.

Samira sah es und lächelte. „Mach dir um deine Handgelenke keine Sorgen, wenn ich mit dir fertig bin, werden sie bis auf den Knochen durchgescheuert sein.“

Luke stöhnte. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Samira spritzte ihn von oben bis unten mit dem Gartenschlauch ab, um die Härchen zu entfernen, zog sich die Latexhandschuhe aus, die sie vorher angezogen hatte, damit sie den, mit dem sie einst das Bett geteilt hatte, nicht zu berühren brauchte, nahm den Eimer und ging einfach weg. Wieder begann das Warten.

Es war schon dunkel geworden, als Samira zurückkehrte. Luke war nur halb bei Bewusstsein gewesen, aber nun war er sofort hellwach, als sie ihn in die Seite trat. Er bedauerte, den Mund geöffnet und gierig Wasser gesoffen zu haben, als sie ihn abspülte, denn hätte er das unterlassen, wäre er jetzt vielleicht wegen Dehydrierung völlig weggetreten gewesen und hätte nichts mehr mitbekommen.

Er staunte. Sie hatte unzählige schwarze Kerzen rundum verteilt. Der ganze Pavillon leuchtete in einem düsteren Licht. Samira stand neben ihm am Fußende. Sie sah so schön aus, dass ihn wieder Begehren durchfuhr, wenn auch mit einem sauren Beigeschmack. Sie hatte sich gebadet und geschminkt. Das Haar floss ihr lang und glänzend den Rücken herunter. Sie trug die lange, weite schwarze Robe aus dem Kleiderschrank. Die roten Stickereien leuchteten, als würden sie von verborgenen Scheinwerfern angestrahlt.

Sie hob den Kopf und sah an die Decke. Luke folgte ihrem Blick und erschrak so sehr, dass er einen kleinen Schrei ausstieß: Dort an der Decke prangte ein Teufelsgesicht, der Kopf eines Ziegenbocks mit bösen Augen, die direkt in seine starrten. Das Gesicht leuchtete bläulich, wie Leuchtfarbe. Zwischen den hasserfüllten Augen war die Öffnung in der Decke, durch die der Vollmond auf Luke herunter schien.

„Hübsch, nicht wahr? Man braucht nur ein paar Chemikalien und Schwarzlicht dazu. Und Blut. Die Leuchtröhren sind in den Fußleisten verborgen … ach, sieh mich an, da stehe ich hier herum und schwatze, dabei ist es höchste Zeit.“

„Was … was wirst du mit mir machen?“

„Leider kann ich dir das nicht in allen Details sagen, aber wenn du dir meinen Werkzeugkasten mit den Zangen, Scheren, Nadeln und die Kettensäge ansiehst, und ich dir noch einen Tipp gebe, kommst du bestimmt darauf.“

„Tipp …?“

„Nun ja …“ Samira beugte sich zu Luke herunter und flüsterte ihm gutgelaunt ins Ohr: „Du hast den Grill doch selbst verputzt! Und das hast du gemacht, damit ich dich verputzen kann.“ Sie stellte sich wieder gerade hin und brach in ein schrilles Lachen aus. Luke schrie. Er konnte nicht mehr anders.

Nach einer Weile war er heiser und verstummte mit einem Wimmern. Er sah, wie Samira etwas in seinen Sichtkreis zerrte: den Spiegel aus dem schwarzen Zimmer.

Das Spiegelbild lachte hämisch los. Aber unbändige Wut lag in ihrem Blick

„So, das hattest du dir so gedacht, was? Einfach abhauen? Blöder Idiot! Uns geht keiner durch die Lappen! Allein für den Versuch wirst du noch mehr unerträgliche Qualen leiden! Penner! Wichser!“, keifte die andere Samira.

„Scheiße“, stöhnte Luke und ließ den Kopf wieder sinken. Jetzt waren auch noch zwei von der Sorte da. Sogar eine schwarze Robe trug das Spiegelbild, und hinter ihr flackerten Kerzen, die sie in oder auf einige ihrer Totenschädel gesteckt hatte. Bald, befürchtete Luke, würde ihre Sammlung um ein Prachtstück reicher sein.

So langsam beschlich ihn das Gefühl, dass es den VWKG gar nicht gab.

„Still“, befahl Samira ihrem Spiegelbild mild. Ihre Hilfe bei der Verfolgung wurde nun dadurch belohnt, dass sie bei der Opferung zusehen durfte. Samira öffnete den Werkzeugkasten. Luke begann zu schwitzen.

Es dauerte lange und war entsetzlich. Selbst ein hartgesottener Horrorfilm Fanatiker hätte sich im Strahl übergeben. Sogar die Bäume schienen unter den qualvollen Schreien zu erzittern. Die Samira im Spiegel amüsierte sich prächtig.

„Nochmal! Nochmal das mit der Schere! Ja! Und jetzt die Zange! Nein, nicht die, die Rotglühende! Nicht da! Da, wo’s richtig wehtut! Ja, genau da! Stech noch `ne Nadel da rein! Prima!“

Erst im Morgengrauen hatte Samira alles Fleisch abgepackt und in ihre Tiefkühltruhe verfrachtet. Das Blut war ins Erdreich geflossen, der Schädel bekam einen Ehrenplatz im schwarzen Zimmer, die anderen Knochen wurden in den Beeten vergraben. Der Spiegel kam wieder an seinen Platz, aber so gedreht, dass die Spiegel-Samira den Schädel sehen konnte. Sie wirkte sehr zufrieden. Wie ihr echtes Ebenbild war ihre Robe über und über mit Blut bespritzt.

Müde räumte Samira auf und steckte ihre Robe in die Waschmaschine. Sie wollte nur noch schlafen, während Lukes Fleisch in den Plastikbeuteln langsam gefror, aber sie hatte ihm ein Versprechen gegeben. Und das würde sie auch halten. Denn er hatte sich auch prächtig gehalten. Und tiefgefroren würde er sich sogar noch länger halten.

Jim und Jessie

1

„Du bist bestimmt der einzige Typ in der freien Welt ohne Navi“, nörgelte Jessica. Sie saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz. Jim, oder auch Jimbo, wie er sich gern nennen ließ, knurrte Unverständliches. Okay, er hatte sich verfahren, okay, er hatte eben kein Navigationsgerät. Dafür besaß er eine Landkarte. Und wer konnte die nicht lesen? Wusste nicht mal, wie rum man sie halten musste? Und meckerte jetzt nur noch?

„Halt die Klappe“, zischte er, als das Gekeife neben ihm kein Ende nehmen wollte. „Es sind deine bescheuerten Verwandten, die hier irgendwo in dieser Einöde heiraten wollen. Nicht meine!“

Jessica schwieg. Sie hasste Meddington, die Kleinstadt, aus der ihre Eltern bei Nacht und Nebel abgehauen waren. Jessica war damals erst zehn gewesen, aber sie wusste noch sehr gut, wie die neue Heimatstadt sie zuerst erschreckt hatte: Die Menschen redeten und lachten, waren freundlich und so lebhaft. Meddington erinnerte irgendwie an eine Geisterstadt. Die Bewohner schlichen kraft- und farblos umher. Meddington, hatte ihr Vater zu ihr gesagt, sei ausgeblutet. „Wenn du nur einen Funken Verstand besitzen würdest, dann hättest du diese Einladung abgelehnt! Was haben wir mit denen noch zu schaffen? Nichts! Die Leute dort haben sich aufgegeben. Fahr bloß nicht da hin!“

Aber Jessica war total blank und hoffte, aus ihrer Tante Annie ein paar Kröten rauszuholen. Denn von ihren Eltern bekam sie keinen Cent mehr. Und ihre Cousine irgendeines Grades, die heiratete, nahm bei ihrer Hochzeit bestimmt auch Tausende von Dollar ein. Jessica war vorbereitet: Sie hatte einen leeren Briefumschlag, den sie der Braut in den Beutel stecken würde, und sie hatte einen langen, weiten Ärmel, in den sie die Umschläge, die sie dabei unauffällig mit herauszuziehen gedachte, schieben konnte. Jimbo lenkte derweil die Braut mit einem Witz oder dergleichen ab. Ein Kinderspiel.

Leider hatte Jimbo sich verkalkuliert und die zwanzig Dollar für das Benzin reichten doch nicht „dicke bis nach Meddington“. Der Motor stotterte schon und drohte, bald stehenzubleiben. Vielleicht hatte er auch bloß wieder vergessen, irgendetwas nachzusehen oder nachzufüllen, der Schussel. Und jetzt wussten sie nicht einmal, wo sie waren. Schon ewig hatte Jim kein Schild mehr gesehen, nur vor längerer Zeit hatte irgendwo an irgendeiner Kreuzung eines in Richtung einer Stadt namens „Ryan’s Field“ gewiesen.

„Wir fahren doch nur im Kreis!“, meckerte Jessica weiter, „wir werden zu spät kommen! Verdammt!“

Jim öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass sie den ihren schließen solle, oder er würde sie aus dem Wagen werfen und allein weiterfahren, da tauchte auf einmal auf der rechten Seite ein wunderschönes Haus auf. Ein niedriger weißer Zaun trennte den Vorgarten von der staubigen Straße ab, dahinter blühten farbenprächtige Blumen. In einem liebevoll angelegten Kräutergärtchen mit von weißen Steinen abgegrenzten Beeten wuchsen viele verschiedene Kräuter.

Auch die Blumenkästen an den Fenstern blühten üppig und verschönerten die weiße Fassade.

Jim trat auf die Bremse. Jessica, die darauf nicht vorbereitet war, hing beinahe auf dem Armaturenbrett.

„Bist du völlig bekloppt?“, brüllte sie, „jetzt muss ich den Mascara neu auftragen!“

Jim war das egal. „Guck mal, in dem Haus gibt’s bestimmt ein Telefon! Oder die haben vielleicht sogar Benzin!“ Er machte den hustenden Motor aus und verließ erleichtert das Auto. Jessica kam sofort hinterher.

„Wie kann man nur in dieser Einöde wohnen? Hier ist doch rundum nur Wald!“, schimpfte sie. Jim verdrehte die Augen. Immer nur am Meckern. Er erwog ernstlich, sie bei ihren komischen Verwandten zu lassen. Einfach Gas geben und weg.

Er musste sich etwas runterbeugen, um das Gartentörchen zu öffnen. Quietschend gab es den Weg frei. Jessica konnte sich kaum sattsehen an den Blumen und Rosensträuchern. Ihr Duft wurde nur von dem aus dem Kräuterbeet übertroffen.

„Was riecht ’n hier so intensiv?“, fragte Jim abschätzig.

„Ich glaube, das ist Thymian“, gab Jessica nachdenklich zurück. Zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt redete sie in normaler Lautstärke und ohne ihn wegen irgendetwas fertigzumachen. Der Vorgarten haut wohl sogar auch sie aus den nuttigen Stiefeln.

Jim stieg die paar Stufen zur Haustür hoch und klopfte. Er kam sich in seinen zerrissenen Jeans und dem nach abgestandenem Bier müffelnden Tank Top etwas fehl am Platz vor. Auch seine dreckigen Turnschuhe machten bestimmt keinen guten Eindruck auf die Hausbewohner. Jessica sah beinahe noch schlimmer aus. Sie hatte einen extrem kurzen, engen Rock an, Schaftstiefel, abgeschnittenes Shirt, das ihren Nabel freiließ, der gepierct war, genau wie ihre Nase. Die Haare hatte sie sich vor Monaten schwarz und rot gefärbt, genau am Scheitel. Nur war das schmuddelige Blond inzwischen wieder zum Vorschein gekommen. Und geschminkt war sie, als wäre sie dreimal hintereinander in den Farbtopf gefallen. Selbst Jim musste zugeben, dass er es den Hausbewohnern nicht verdenken konnte, wenn sie die Tür gleich wieder zuschlugen oder gar nicht erst aufmachten.

Die Tür ging jedoch auf, und Jim schnappte nach Luft: Eine schlanke, hübsche Frau um die dreißig in einem weißen Sommerkleid stand freundlich lächelnd vor ihnen. Ihr dunkles Haar hing ihr bis auf den Rücken.

„Ähm, äh, hallo“, stammelte er verlegen, „wir haben uns verfahren und kein Benzin mehr. Könnten wir wohl Ihr Telefon benutzen?“

Jessica verdrehte die Augen. Kaum war eine attraktive Frau im Spiel, kramte er seine Sonntagsmanieren hervor.

Der Ausdruck der Frau hatte sich trotz der abgerissenen Erscheinung vor ihr nicht verändert. Ihr Lächeln vertiefte sich sogar.

„Oh! Na, da habt ihr ja Pech gehabt, was? Klar, kommt ruhig rein!“ Sie öffnete die Tür noch weiter und gab den Blick in einen hellen Flur frei. Neugierig betraten die beiden das Haus. Hinter ihnen knallte die Tür ins Schloss. Erschrocken fuhren sie herum. Jessica jagte ein Schauder über den Rücken: Für einen Bruchteil einer Sekunde glaubte sie in den Augen der Frau etwas Gieriges, Verschlagenes und widerlich Gemeines gesehen zu haben. Aber schon lächelte sie wieder. „Tut mir leid, das muss der Wind gewesen sein! Ich habe eine kleine Party, und deswegen ist die Verandatür offen. Kommt, das Telefon ist gleich da drüben!“ Sie wies ins Wohnzimmer, wo ein schnurloses Telefon auf dem gläsernen Couchtisch lag. Jim und Jessica traten schüchtern näher. Dieses helle, freundliche Haus gehörte für sie normalerweise in die Kategorie „Spießer“, aber die Eleganz und Sauberkeit schüchterten sie irgendwie ein und die Bewohnerin hatte nichts Spießbürgerliches an sich. Sie war auf ihr Heim sichtlich stolz. Nichts lag herum, alles war perfekt aufgeräumt. An der Wand hing nur ein Foto: Das lächelnde Gesicht der Frau, darüber lag schemenhaft noch ein anderes. Das andere lächelte nicht, sondern sah ernst auf sie herab. Ein faszinierendes Bild von dunkler Schönheit. Es ließ Jessica gar nicht los.

„Zwei Fotos von mir übereinandergelegt, das eine davon beinahe durchsichtig. Fotomanipulation. Ein kleines Hobby von mir.“ Die Frau nahm auf der Couch Platz. „Toll“, stotterte Jessica. Die einladende Geste schlug sie mit einem Kopfschütteln aus. Sie hatte den Eindruck, die Reinheit um sich herum zu beschmutzen. Sie kam sich vor wie Pig Pen von den Peanuts. Jim sah sogar noch schlimmer aus, fand sie. Jessica hätte nicht mal sagen können, wann er sich das letzte Mal geduscht hatte, der Sack.

Der Sack hatte in der Zwischenzeit das Telefon genommen und eine Nummer gewählt. Verwirrt nahm er den Hörer vom Ohr und starrte darauf.

„Da ist so ein Störsignal.“

Die Frau nahm es ihm aus der Hand, lauschte, runzelte die Stirn, und schaltete es ab.

„Bestimmt hat der Sturm vor ein paar Tagen eine Leitung beschädigt. Wie schade.“

„Haben Sie kein Handy?“

„Nein, leider nicht. Habt ihr denn keins?“

Die beiden schüttelten den Kopf. Sie hatten zwar eins, aber ohne Guthaben. Nutzlos.

„Tja, dann seid ihr hier erst mal gestrandet. Aber das macht ja nichts, kommt mit raus, ich stelle euch meinen Gästen vor. Apropos, tut mir leid, ich hatte ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Samira.“ Sie streckte die Hand mit den silbernen Armbändern und Ringen aus. Jessica und Jim schüttelten sie und sahen sich an.

„Also, eigentlich wollten wir weiter nach Meddington …“

„Ach! Sieh an!“

„Äh, ja … Jessicas Cousine heiratet …“

„Wie schön!“

„Ja … und wir wollten eigentlich … also, wir möchten eigentlich weiterfahren …“

„Wie denn, so ohne Benzin?“, strahlte Samira. Jessica und Jim sahen sich unbehaglich an.

„Nun ja, haben Sie vielleicht etwas Benzin?“

„Nein. Leider nicht.“

„Oder könnten Sie uns nach Meddington fahren?“

„Mein Wagen ist leider kaputt. Ihr werdet wohl die Nacht hier verbringen müssen.“

„Und …“ Jim schluckte, denn das Lächeln auf dem hübschen Gesicht war mit jeder seiner Fragen etwas geschwunden, „… und könnte vielleicht einer von Ihren Gästen uns hinfahren …?“

„Ach, die kommen nicht von da, keiner von denen. Aber wir werden mal sehen, vielleicht nach der Party. Jetzt kann ich niemanden um so etwas bitten, Meddington ist ja auch über eine Stunde entfernt! Kommt, ich stelle euch vor!“

Zögernd folgten die beiden Samira durch die geöffnete Schiebetür nach draußen. Sie sperrten bei diesem riesigen, prächtigen Garten die Münder auf. Ihn zu durchqueren dauerte eine ganze Weile. Der Duft von bratendem Fleisch lag in der Luft und wurde immer intensiver. Jessica und Jim spürten erst jetzt, wie hungrig sie waren. Auch für Verpflegung war kein Geld da gewesen.

Weiter hinten im Garten gab es einen kleinen Badeteich. Davor standen mehrere Stühle und Gartenliegen und eine Bierzeltgarnitur. Auf den langen Tischen reihten sich Schüsseln mit Nudel- Kartoffel- Bohnen- und anderen Salaten aneinander. Flaschen mit Cola und Bier standen bereit, ebenso wie Teller und Besteck. Sie störten wohl gerade ein Barbecue.

Der Grill befand sich noch ein Stück weiter hinten, damit der Rauch die Gäste nicht belästigte. Er war gemauert und verputzt und sehr groß. Der Rost reichte bestimmt für einen ganzen Ochsen. Die Gäste wandten sich fragend um, als Samira mit den beiden jungen Leuten wiederkam.

„Ich war gerade in der Küche, da klopft es an der Tür! Was für ein Glück, dass ich nicht hier hinten war, sonst hätte ich diese beiden netten Leute in Not verpasst!“

Alle brachen in lautes Gelächter aus. Jim fand es etwas übertrieben für diesen Sparwitz.

Jessica betrachtete derweil abschätzig die Aufmachung der Gäste. Ein alter, gebeugter Mann mit Glatze und grauem Rauschebart in einem schwarzen Blazer, schwarzer Bundfaltenhose und weißem Hemd, eine junge Frau in einem schwarzen Trägerkleid mit weißer Bluse und straff hochgestecktem Haar, ein junger Mann in einer grauen Jeans und einem weißen Jeanshemd. Sie standen mit Gläsern in den Händen herum und warteten auf ihr Essen, das vor sich hin briet. Jessica fragte sich, warum Samira ihre Gäste hier in der Sonne schmoren ließ, obwohl sie in der Mitte des Gartens einen weißen Pavillon hatte.

Samira stellte die Gäste als William Hart und seine Enkelin Sandra vor, sowie einem weiteren William, der von Sandra immerzu angehimmelt wurde. Alle lächelten freundlich, hatten aber etwas Kaltes und Lauerndes in ihren Blicken, das Jessica und Jim schaudern ließ.

„Wie gut, dass du so viel Fleisch hast, was, Samira?“, kicherte William jetzt, und Mr. Hart und seine Enkelin lachten wieder.

„Ja, es ist zum Glück reichlich da! Wenn ihr Salat und etwas zum Trinken wollt, auf den Tischen steht alles. Bedient euch!“ Sie schnappte sich eine Grillzange und wendete die Steaks.

Jessica und Jim ließen sich das nicht zweimal sagen. Jessica öffnete eine Flasche Cola und schenkte sich und Jim ein Glas ein. Sie reichte Jim eins und trank selbst. Dann stutzte sie.

„Ist was?“, raunte Jim ihr zu.

„Die haben auch alle ein Glas, auch Samira“, flüsterte sie zurück.

„Äh, ja und?“

„Die beiden hier sind unbenutzt. Die waren über!“

„Äh, ja und?“

Jessica verdrehte wieder die Augen.

„Das bedeutet, dass sie zwei Gläser mehr als nötig hier hingeschleppt hat! Als ob sie wusste, dass wir kommen!“

Jim lachte. „Boah, und ich dachte immer, ich wäre der Paranoiker von uns beiden!“

„Ach, Klappe! Bei dir kommt die Paranoia vom schlechten Gras. Aber das ist doch merkwürdig, oder?“

„Wieso? Vielleicht hat sie nicht abgezählt oder einfach zwei Gläser mehr mitgenommen, falls eins runterfällt oder … oder was auch immer. Entspann dich. Wenigstens kriegen wir was zu essen. Ich falle schon vom Fleisch.“

Jessica seufzte. Sie und Jim waren beide ziemlich dünn. Sie sah die Gäste an und schluckte, als sie deren Blicke bemerkte. Sie sahen abfällig auf ihre schmuddeligen Klamotten, die mit 99 Cent Haarfärbemitteln selbst verbrochenen Frisuren, Jessicas Make-up, Jims Kaskade von Ohrsteckern, die das ganze Ohr in einen Schweizer Käse verwandelt hatten, und ihre hervorstehenden Hüftknochen.

„Seid ihr von zuhause weggelaufen, Kinder?“, fragte Mr. Hart jetzt voller Güte. Bei Jim schrillte sofort ein Alarm los, denn dieses falsche Mitleid kannte er.

„Nein. Wir sind schon Mitte zwanzig.“

„Ja, aber vorher, ich meine, ihr lebt doch schon lange auf der Straße, oder?“

„Nein“, schnauzte Jessica sofort, „bei uns sehen viele so aus. Wir wollen nicht so sein wie alle anderen.“

Die drei Gäste sahen die beiden Neuankömmlinge aufmerksam an. Sogar Samira drehte sich um.

„Dafür haben wir mehr Verständnis, als ihr glaubt“, sagte Mr. Hart mit einem so warmen Blick, dass sich die beiden wieder entspannten.

„Ich hoffe, die denken nicht, ihre bescheuerte Aufmachung wäre irgendwie cool, und jetzt machen die auf Verbrüderung oder so“, murmelte Jessica Jim ins metallverzierte Ohr.

„Mann, Jessie, sei doch mal nett“, knurrte Jim und nahm von Samira einen Teller entgegen. Auch Jessica bekam einen. Alle sahen wohlwollend zu, wie die beiden hungrigen jungen Leute sich Unmengen Salat aufluden, das Fleisch in Ketchup ertränkten und alles hastig runterschlangen. Sie nahmen auch den Nachschlag dankbar an.

Erst nach der dritten Portion versorgte Samira ihre anderen Gäste mit Fleisch, aber die schienen das absolut nicht übelzunehmen.

Sie setzten sich zu Jessica und Jim und aßen. Jessica saß direkt neben dieser Sandra und sie rückte instinktiv ein Stück ab; irgendwie fühlte sie sich in der Nähe der jungen Frau, die in ihrem Alter zu sein schien, aber durch ihre krähenhafte Aufmachung viel älter aussah, nicht wohl. Sie roch auch merkwürdig, nach Kräutern und irgendwie muffig. So ähnlich hatte es mal in der Metzgerei von ihrem Onkel Fred gerochen. Aber da war Jessica schon seit vielen Jahren nicht mehr gewesen.

„Oh, wer bist denn du? Du bist aber süß!“, rief sie jetzt, als eine schwarze Katze gemächlich zu ihr kam und sich an ihrem Bein rieb. Sie trug ein Halsband mit einem Glöckchen daran.

„Das ist mein Kater“, erklärte Samira und setzte sich neben William.

„Ach, Sie haben eine Katze“, lächelte Jim und streichelte das Tier.

„Nein, einen Kater. Das muss man ihm schon lassen, er ist ein sehr männlicher Kater.“

„Äh, aha. Und wie heißt er?“, fragte Jessica.

„Luke“, erwiderte Samira mit einem Grinsen, das Jessica nicht so recht verstand.

„Hallo Luke.“ Sie kraulte das Tier hinter den Öhrchen. Luke schnurrte.

Samira warf ihrem Kater ein Stück Fleisch zu.

„Hier, Luke, sollst auch nicht leben wie ein Hund!“ Luke fuhr zurück, sah das Stück vorwurfsvoll an, fauchte wütend und lief davon. Alle brachen in schallendes Gelächter aus.

„So ein verwöhntes Vieh“, rief Jim fröhlich. Die anderen lachten noch lauter. William grölte so sehr, dass er sich verschluckte. Jessica fand es übertrieben. Die hatten hier einen seltsamen Sinn für Humor.

2

Bald waren Jim und Jessica völlig satt. Luke, der schmollende Kater, trieb sich in einiger Entfernung herum. Immer wenn seine Herrin einen amüsierten Blick in seine Richtung warf, fauchte er und machte einen Buckel. Das Glöckchen klingelte melodisch. Jessica fand es merkwürdig, dass so ein stattlicher Kater ein Glöckchen umhatte. Ihr erschien das etwas spöttisch, so als würde ein Terrier einen Maulkorb tragen.

„Das hat wunderbar geschmeckt“, lobte Jim höflich.

„Vielen Dank.“ Samira sah, wie Jim seine Freundin hilfesuchend ansah. Schnell schnitt sie die sich anbahnende Frage, ob sie nicht jemand nach Meddington fahren könne, ab: „Ich hole uns allen noch ein Schnäpschen, zur Verdauung.“ Und schon eilte sie den Weg zurück zum Haus. Bald kam sie wieder und reichte Jim und Jessica ein kleines Gläschen mit einer bräunlichen Flüssigkeit, die extrem bitter schmeckte, wie Jim Jessies Grimasse entnehmen konnte. Er hob zögernd das Glas. Plötzlich war der Kater neben ihm und kratzte an Jims Stiefel.

„Na? Du willst wohl gekrault werden, was?“ Jim streichelte den Kater. Der fauchte plötzlich und schlug mit der Pfote nach dem Glas, das nun, da Jim sich zu ihm herunter gebeugt hatte, in seiner Reichweite war.

„He, gehörst wohl zu den Antialkoholikern, was?“, scherzte Jim, aber keiner lachte. Alle sahen stirnrunzelnd zu Samiras Kater herunter, der mit der Pfote an Jims Bein herumkratzte und sich jedes Mal schüttelte, wenn Jim Anstalten machte, das Gläschen zu leeren.

„Luke! Böses Kätzchen! Teuflisches Höllenkätzchen! Willst wohl alle neun Leben auf einmal aufbrauchen, hm?“ schimpfte Samira und funkelte den Kater an. Der ließ den Kopf hängen wie ein Hund, der beim Pinkeln auf den Wohnzimmerteppich erwischt worden war, und sauste davon.

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9783847641537
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