Читать книгу: «Die Hungrige Hexe», страница 3

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Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Samira wiederkam. Luke war das nur recht, so konnte sie sich nicht sehr wundern, dass er seinen Kaffee schon ausgetrunken hatte. Aber dafür war ihrer, wie sie nun klagte, nur noch lauwarm.

„Tu ihn doch in die Mikrowelle“, riet Luke ihr beiläufig. Wenn sie ihn jetzt einfach wegschüttete und sich einen Neuen machte … Sie verzog das Gesicht. „Ach“, knurrte sie zu seiner unendlichen Erleichterung, „so geht’s noch.“ Sie leerte die Tasse in drei langen Zügen und schüttelte sich.

„Und, hast du was gesehen? Wo warst du so lange?“, fragte er und lehnte sich schnaufend zurück, der Magen vor Kuchen aus allen Nähten platzend.

„Da waren komische Spuren in der feuchten Erde am Zaun. Ich denke, das war nur ein Tier, aber wir sollten die Augen offen halten.“

„Gut, machen wir.“

Samira schaltete den Fernseher ein, und zusammen sahen sie sich die Jerry-Springer Show an. Luke begann nach zwanzig Minuten, zu gähnen. Das fiel ihm nicht schwer; der Kuchen lag in seinem Magen wie ein Wackerstein und zuzusehen, wie sich irgendwelche Rednecks gegenseitig mit Wackelpudding bewarfen, war auch nicht so das Gelbe vom Ei. Samira bemerkte seine Schläfrigkeit mit Befriedigung.

Nach weiteren zehn Minuten schloss Luke die Augen und tat, als dämmere er langsam weg. Er hatte schon Übung darin, er öffnete die Augen wieder ein bisschen … Schloss sie wieder ... Murmelte etwas … und atmete in langen, tiefen Zügen, den Körper vollständig entspannt. Samira stand sofort vorsichtig auf und schlich die Treppe hoch. Oben ging sie ins Bad. Lukes Blutdruck stieg, als er hörte, dass sie nicht die Treppe wieder herunterkam, auch nicht ins Schlafzimmer ging … sondern weiter … zum abgeschlossenen Hexenzimmer! Ja, kein Zweifel, da drehte sich der Schlüssel langsam im Schloss und die Tür wurde fast geräuschlos geöffnet. Beinahe sofort hörte er den wütenden Schrei, und er kam nicht aus Samiras Kehle.

Luke sprang auf und rannte so schnell er konnte die Treppe rauf. Dass Samira ihn hören konnte, war ihm egal. Er bog um die Ecke und betrat keuchend das Hexenzimmer. Dort stand Samira und starrte auf den offenen Spiegel. Der schwarze Stoff lag als unordentlicher Ballen daneben, genau dort, wo Luke ihn achtlos hingeworfen hatte. Im Spiegel war Samira, aber sie bewegte sich nicht synchron mit der, die davor stand. Sie führte jetzt ein Eigenleben. Ihre Hand hob sich, ein spitzer Nagel wies anklagend auf ihn.

„ER!! ER WAR HIER!!! VERRAT! TÖTE IHN! ER HAT GESEEEEHN!“, kreischte sie schrill.

Samira starrte Luke eine Sekunde sprachlos an. Dann erfasste sie alles, seinen Verrat, seine Herumschnüffelei, sein Vorgeben, die Drogen zu nehmen, und sie sprang ihn mit einem ebenso schrillen Kreischen an wie ihr Spiegelbild. Luke war darauf nicht vorbereitet. Ihre langen Nägel krallten sich in sein Gesicht und ein Knie wurde in seinen Unterleib gerammt, aber da hatte Samira sich verrechnet, denn die von ihr selbst angemästeten Speckschwarten fingen das Schlimmste ab und er knickte nicht wie erhofft vor Schmerz zusammen.

Aber Samira war völlig außer Kontrolle. Sie schrie und kreischte, sie biss ihn in den Oberarm, sie kniff ihn und versuchte, einen Zeigefinger in sein Auge zu rammen. Luke wusste, wie stark sie für gewöhnlich war, aber heute war sie nicht in Form. Vielleicht wirkte das Mittel ja schon. Trotzdem verlor er unter diesem hasserfüllten Bombardement das Gleichgewicht und fiel hin. Sofort warf sie sich auf ihn, und ihr Spiegelbild feuerte sie kräftig an.

„Los, zeig dem Penner, was `ne Harke ist! Gib’s ihm! Mach ihn fertig!“ Das Spiegelbild hüpfte aufgeregt auf und ab wie bei einem besonders spannenden Boxkampf. Aber Luke hatte inzwischen ihre Arme zu fassen bekommen und hielt sie fest. Samira keuchte, Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht und ihre Kräfte erlahmten. Plötzlich sackte sie auf ihm zusammen, fast wie sie es im Bett immer tat, und fiel kraftlos zur Seite. Das Bralocolin hatte endlich gewirkt, und da Samira kaum halb so viel wog wie Luke und nicht an so hohe Dosen gewöhnt war wie er, war sie von einer Sekunde auf die andere völlig weggetreten und nicht nur schläfrig. Vielleicht reichte die Dosis sogar aus, sie endgültig aus dem Weg zu schaffen.

„Verdammte Kacke! Das kann doch nicht wahr sein!“, tobte die Samira im Spiegel, „steh wieder auf! Er entkommt dir noch!“

„So schnell nicht, du Hexe“, keuchte Luke, „erst mal werde ich mich hier umsehen. Die macht mir keinen Kummer mehr.“

„Was hast du getan“, fauchte die Spiegel-Samira, „wie hast du das gemacht?!“

„Ich habe ihr nur sprichwörtlich eine Dosis ihrer eigenen Medizin verabreicht“, lächelte Luke. Obwohl es ihn gruselte, trat er näher an den unheimlichen Spiegel heran. Samira starrte ihn böse an, konnte aber nichts tun.

„Wer oder was bist du“, flüsterte er.

„Na, ein Spiegelbild, du hirnloser Elch!“

„Das sehe ich auch! Aber wie kommt es, dass … dass du …“

„Dass ich ein Eigenleben habe?“

„Ja. Genau.“

„Wieso sollte ich dir das sagen?“

„Weil mir sieben Jahre Pech nichts ausmachen. Ich hatte schon viereinhalb Jahre unsägliches Pech. Und jetzt auch wieder. Komme doch glatt in ein Hexenhaus.“

„Das würdest du nicht wagen!!“

„Willst du es drauf ankommen lassen?“

Sie schwieg und warf einen nachdenklichen Blick auf die am Boden liegende Samira.

„Die wird so schnell nicht mehr munter. Du kannst dich ruhig mit mir unterhalten.“ Luke griff, um sie noch mehr zu reizen, nach einem der alten Bücher.

„Stell das sofort weg!“

„Was is’n das?“

„Eine Grimoire, du Idiot. Das sagt dir sowieso nichts, du dummes Stück Affenscheiße!“

„Ein so hübscher Mund … und dann kommen da solche Seemannsflüche raus. Zum Glück weiß ich, dass du auch andere Sachen damit machen kannst, und die gefallen mir sehr viel besser! Also, beantwortest du jetzt alle meine Fragen, oder soll ich schon mal ein Kehrblech holen?“

Die falsche Samira holte tief Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre grünen Augen bohrten sich voller Hass in Lukes, aber der wandte sich ab und blätterte in dem Buch. Die Seiten waren alt und bräunlich, die Tinte dunkelbraun. Aber Luke hatte in seinem Leben schon genug getrocknetes Blut gesehen, um es auch in einem alten Buch zu erkennen. Wieder schauderte es ihn.

„Was willst du wissen?“, knurrte Samira indes und warf einen schnellen Blick auf das Original, das noch immer bewusstlos am Boden lag.

„Was steht hier drinnen?“

„Beschwörungsformeln, Flüche, die Namen der Dämonen und ihre Rangordnung in der höllischen Hierarchie, die wahre Entstehung der Welt und alles über die menschlichen Schwächen und Sündhaftigkeiten. Jetzt bist du trotzdem nicht viel schlauer, was, du Hornochse?“ Sie warf den Kopf zurück und lachte verächtlich. Das Lachen brach aber sofort ab, als Luke nach einem der Schädel griff und ihn drohend hob.

„Schon gut“, rief sie hastig, „also, was willst du wissen?“

„Was kann man damit anfangen?“

„’Man’ kann damit gar nix anfangen“, ätzte sie ironisch, „nur Hexen können eine Grimoire richtig benutzen. Und du bist keine. Also vergiss es.“

„Wenn ich so eine Beschwörungsformel aufsage, passiert also überhaupt nichts?“

„Kommt drauf an“, entgegnete sie von oben herab. Aber Luke sah plötzliche Angst in den grellen grünen Augen aufflackern.

„Auf was?“, setzte er nach und hob wieder den Schädel. Sie wich im Spiegel zurück und wirkte wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.

„Ein paar von den Sprüchen funktionieren auch für Nicht-Eingeweihte“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Welche?“ Lukes Mund schien plötzlich trocken zu werden. Berge von Blei, von ihm in Gold verwandelt oder die Lottozahlen für die nächsten zehn Jahre tanzten Walzer in seinem Kopf.

„Nun ja … einer ist auf Seite vierunddreißig, aber ich will nicht, dass du … hör auf! Lass das!“ Sie tobte hilflos im Spiegel herum, als Luke achtlos die kostbaren Blätter mit seinen großen Pranken heftig umblätterte. Auf der Seite sah Luke ein kompliziert aussehendes Diagramm mit ineinander verschlungenen Dreiecken, Pfeilen und einem Viereck, das dreidimensional gezeichnet worden war. Einer der Pfeile wies in das Viereck hinein, ein anderer wieder heraus.

„Was ist das für ein Zauber?“, fragte Luke und holte mit dem Schädel aus, als wolle er den Spiegel zerschmettern.

„Nicht! Nein! Na gut … es ist ein Anziehungszauber für Geld!“ sprudelte Samira hervor und schützte instinktiv ihren Kopf mit beiden Armen.

„Lüg mich nicht an, du Fotze!“, brüllte Luke und schlug den Schädel mit Wucht auf den Rahmen. Samira schrie erschrocken auf und duckte sich. Die Spiegelfläche hielt, aber das ganze Ding zitterte bedrohlich.

„Nein! Bitte! Es stimmt!“

„Ich traue dir kein Stück“, knurrte Luke und griff sich einen zierlichen, antiken Stuhl, der vor einem Mahagonitischchen stand. Darauf lagen Stapel von Tarotkarten, eine Kristallkugel schimmerte im düsteren Licht des Dachfensters und ein Becher aus Ton mit bräunlichen Flecken darin stand in einer Ecke. Ein beidseitig geschliffenes Messer lag davor.

„Nein! Warte! Sie hat ihn selbst benutzt!“, schrie Samira hastig, als Luke den Stuhl hob, um den Spiegel endgültig zu zerstören.

Luke senkte ihn, aber nur ein wenig.

„Sie hat ihn benutzt? Beweise es!“

„Sie hat jeden Zauber, den sie einmal ausprobiert hat, in dem schwarzen kleinen Notizbuch vermerkt“, plapperte Samira hastig. Luke sah die Panik in ihrem Gesicht. Er stellte den Stuhl weg und fand nach Samiras Angaben das Büchlein in der Schublade des Schreibtischs. Er blätterte darin herum. Da, da war tatsächlich eine Aufstellung: Grimoire, Seite vierunddreißig, Diagramm nachgezeichnet und Spruch gesagt. Funktioniert einwandfrei.

„Hm … muss ich auch was zeichnen?“, brummte Luke, der ungern malte.

„Nein … man muss es nur ein einziges Mal zeichnen. Mit Blut.“

Luke beschloss, das Wagnis einzugehen. Samira hatte es ja auch getan und lebte noch. Auch wenn sie jetzt nicht unbedingt danach aussah.

Er straffte sich und sagte die Worte laut und feierlich: „Teg attuo eht ydoolb rorrim, ouy tuls!“

Ein Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. Ein schrilles Kichern erklang aus dem Spiegel, und Samira stieg einfach aus ihm heraus, als wäre es ein Aufzug, der in der Unterwäscheabteilung angehalten hatte. Luke starrte sie sprachlos an. Seine Knie drohten zu versagen. Das alte Buch entfiel seinen Händen, und das ermöglichte ihm die Flucht, denn Samira Schrei des Triumphes verwandelte sich in einen des Schreckens, und sie rannte zu dem geschundenen Buch herüber und hob es so zärtlich auf, als wäre es ein fallengelassener Säugling. Luke witterte seine Chance und wankte so schnell er konnte zur Tür hinaus, wobei er der bewusstlosen Samira auswich. Er fiel mehr die Treppen herunter, als dass er ging. Hinter ihm fuhr Samira zischend herum und legte das Buch vorsichtig auf den Tisch, dann rannte sie hinter Luke her. In ihrem Eifer und wegen der Dämmerung im Zimmer übersah sie jedoch die echte Samira und stolperte über ihren schlaffen Körper. Sie fiel ungeschickt der Länge nach hin, stand fluchend wieder auf und versetzte ihrem Original einen wütenden Fußtritt. Dann setzte sie Luke nach, der schon zur Haustür hinaus war und schnaufend und mit wabbelnden Fettwülsten zur Straße lief.

Auf der Flucht

8

Luke verfluchte sich. Wie konnte man nur auf so was hereinfallen! Jetzt hatte er schon wieder eine Hexe am Hals! Aber wer konnte auch ahnen, dass sie so einfach aus dem Spiegel steigen würde? Samira musste sie dorthinein verbannt haben oder so etwas in der Art. Luke wusste nichts über Magie, sonst hätte Samira ihm sagen können, dass sie einfach ihr normales Spiegelbild zum Leben erweckt hatte, ihr Anti-Ich, das körperlich und geistig wie sie selbst war, aber keine Seele besaß. Allerdings konnte sie in der Anti-Dimension, der Welt hinter dem Spiegel, sehr nützliche Dinge tun und unter anderem die Zukunft vorhersagen. Es war einfacher, einen magischen Spiegel dieser Art zu haben, als einen niederen Dämonen zu beschwören, der die Dreckarbeit verrichten, aber auch immer unter Kontrolle gehalten werden musste. Denn jeder Dämon war darauf aus, seine Fesseln zu lösen und den zu töten, der ihn beschworen hatte. Das Spiegelbild war loyal. Denn ohne sein Original hörte es sofort auf, zu existieren. Samiras Hatz nach Luke war reiner Selbsterhaltungstrieb.

Das Spiegelbild riss den Autoschlüssel vom Bord an der Haustür und rannte zu dem kleinen Sportwagen. Sie holte noch schnell etwas aus dem Kofferraum, sprang ins Auto, ließ es an, und raste davon. Wo war der Kerl hin? Weit konnte er mit seiner Wampe noch nicht gekommen sein. Samiras Kopf ruckte wild nach rechts und nach links, das lange Haar flog. Da! Da keuchte er die Straße entlang. Das Spiegelbild lachte: Den hätte sie auch zu Fuß einholen können!

Luke quiekte unglücklich wie ein Schwein, das den Metzger kommen sieht, als der elegante Sportwagen auf ihn zugeschossen kam. Da war das Spiegelbild, und er bemerkte resigniert, dass es auf jeden Fall das gespiegelte Ebenbild war. Denn Samira war Linkshänderin. Aber die Hand, mit der sie jetzt das Betäubungsgewehr auf ihn richtete, war die Rechte. Wie interessant.

Er erwartete den Knall und den Stich im Oberschenkel oder Po, als es plötzlich Plopp! machte und Samira verschwand. Das Betäubungsgewehr fiel auf den Beifahrersitz. Luke starrte dümmlich durch das geöffnete Fenster ins Innere. Das Spiegelbild war verschwunden! Vielleicht hatte er ja den Spruch falsch gesagt?

„Ist ja auch egal“, knurrte er. „Nichts wie weg hier!“ Er stieg mühsam in den kleinen, niedrigen Wagen und fuhr geduckt davon. Bequem war es nicht, aber wenigstens hatte er jetzt einen fahrbaren Untersatz. Er würde in die Stadt zurückfahren, direkt zu seinem Bewährungshelfer. Bestimmt kam er wieder in den Knast, weil er sich dort seit Monaten nicht hatte sehen lassen, aber besser lebendig im Gefängnis sitzen, als weiter bei dieser Hexe unter Drogen gesetzt werden, die wer weiß was mit ihm vorhatte!

„Doktor Roberts hat das mit deinem Bewährungshelfer schon geregelt, Luke“, hatte sie geflötet, „alles kein Problem! Er ist froh, dass du beim Programm mitmachen willst. Doktor Roberts wird mit dir hinfahren, wenn er kommt.“ Ja, und der Mond war aus grünem Stinkekäse!

Luke gab Gas. Er hatte keine Ahnung, wo er hier war. Es standen nirgendwo Schilder und rechts und links gab es nur Wald. Aber im Moment war es egal. Weg, nur weit weg. Da kam er an eine Weggabelung, und endlich, nach fast einer halben Stunde Fahrt, sah er ein Schild. Na endlich!

Ryan’s Field stand auf einem Schild mit einem Pfeil nach links darauf. Da fuhr Samira doch immer zum Einkaufen hin! Luke witterte eine Polizeistation, ein sicheres Gefängnis, bevor man ihn zurückverfrachtete, vielleicht hörte ihm sein Bewährungshelfer auch zu und veranlasste eine Durchsuchung von Samiras Haus. Das schwarze Zimmer sprach Bände, und die versteckten Drogen würden seine Geschichte bestätigen. Vielleicht musste er dann nicht mal zurück in den Knast. Auf jeden Fall gab es dort ein Telefon. Luke bog nach links ab und gab wieder Gas.

Er weinte beinahe vor Erleichterung, als er in den kleinen Ort fuhr und mitten in der Stadt anhielt. Menschen, die rechts und links auf den Bürgersteigen spazierten, blieben stehen und starrten ihn an. Luke stieg ächzend aus dem Wagen und verrenkte sich dabei beinahe die Hüfte. Verdammt, wie war er vor drei Monaten nur in das winzige Gefährt hineingekommen?

Er eilte auf eine Frau zu, die ein schwarzes Trägerkleid und eine weiße Bluse darunter trug. Sie sah ihn gebieterisch und kalt an. Noch bevor er nur in ihrer Nähe war, stellte sich eine andere Frau mutig davor, obwohl sie einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Sie trug ein Sommerkleid, aber in Grau. Auch der Junge trug eine graue Hose und ein weißes T-Shirt.

„Was wollen Sie“, verlangte die Frau im grauen Kleid zu wissen. Luke bemerkte verwirrt, dass alle Menschen auf den Bürgersteigen angehalten hatten. Auch aus den kleinen Läden kamen Frauen und Männer, und auch aus dem nur mittelgroßen Supermarkt strömten sie heraus. Alle trugen entweder graue oder schwarze Kleidung mit etwas Weißem kombiniert. Die in Grau traten jedoch sofort respektvoll beiseite, wenn jemand in Schwarz in ihre Nähe kam.

„Ich brauche ein Telefon. Oder am besten Sie sagen mir, wie ich zur Polizei komme.“

„Polizei?“ Die Frau öffnete den Mund zu einem abscheulichen Barrakuda-Lächeln, das Luke fatal an Samira erinnerte.

„Ja, die Polizei. Ich wurde als Geisel gehalten. In einem Haus hier ganz in der Nähe.“ Luke wunderte sich, als die Leute um ihn herum plötzlich beinahe unisono ein erleichtertes Seufzen ausstießen und sich entspannten. Manche lächelten ihn sogar an. Die Frau in Schwarz schob die schützend vor ihr stehende energisch beiseite. Sofort verneigte sich die in Grau – und ihr kleiner Sohn tat es ihr sofort nach – und gab den Weg frei.

Luke sah die Frau in Schwarz an. Auch die lächelte, kalt und herzlos. Sie war blond und völlig unscheinbar, sie benutzte nicht mal Make-up und trug das Haar in einem schlichten, unmodernen und strengen Knoten. Er ließ sie aussehen wie vierzig, aber sie schien eher Mitte zwanzig zu sein.

„Ich bin Sandra Sun ... Hart. Mein Großvater ist der … der Bürgermeister dieser Stadt. Ich kenne dieses Auto. Was sagten Sie gerade, Sie wurden als Geisel gehalten?“

Luke schluckte. Ihm schien es, als sei er vom Regen in die Traufe geraten. Sandra wechselte ihren altmodischen Flechtkorb mit den Einkäufen in die andere Hand. Das Trägerkleid erinnerte von der Strenge und dem hochgeschlossenen Kragen an die Kleidung einer Amish-Frau, aber die Kälte und der gebieterische Blick wollten so überhaupt nicht dazu passen. Irgendetwas war hier merkwürdig. Aber es umstanden ihn mindestens fünfzig Leute, und die in Grau waren während des Gesprächs zwischen ihm und Sandra unauffällig näher gekommen. Er konnte nirgendwohin flüchten. Vor Samiras Auto lauerten mindestens zehn Männer in grauen Hosen.

„Äh, ja, wurde ich“, stammelte Luke nun nervös und warf ängstliche Blicke nach rechts und links. Er hatte so etwas mal in einem Film gesehen oder in einem Buch gelesen: Immer, wenn er nicht hinsah, rückten diese Leute anscheinend näher, ohne dass er die Bewegung irgendwie wahrgenommen hätte.

„Dann sollten wir meinen Großvater sofort benachrichtigen.“ Sandra tat etwas, das so lächerlich schien, dass Luke beinahe laut losgelacht hätte: Sie zog ein hochmodernes Handy aus der Tasche ihres Kleides, das man nach einem Muster von anno dunnemals zusammengeschneidert hatte.

„Das wird nicht nötig sein. Ich kenne ihn.“ Alle wandten sich um, als die Stimme ertönte. Luke wurde beinahe übel vor Erleichterung, dann aber fiel ihm das unheimliche Gespräch zwischen Samira und dem jungen Mann, der sich jetzt durch die Menge schob, wieder ein: William. Sandras Augen leuchteten auf und ihre Wangen röteten sich.

„William! Oh, du kennst ihn also …?“

„Ja, ich habe ihn bei Samira getroffen.“ Ein Murmeln ging durch die Menge.

Sandra kicherte. „Dann ist er der Erste, der ihr entkommen ist! Das wird ihr ja gar nicht gefallen!“ Alle um sie herum brachen in schallendes, hämisches Gelächter aus. Luke spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er hätte einfach weiterfahren sollen. Jetzt saß er tief in der Scheiße. Die Menschen verfolgten jede seiner Bewegungen und der Ring um ihn herum war beinahe undurchdringlich geworden. Gierige Blicke trafen ihn, die er nicht verstand. Aber die Augen entbehrten zwei Dinge völlig: Mitgefühl und geistige Gesundheit. Sogar bei den Kindern. Ihn schauderte es heftig.

„Wir sollten ihn zu ihr zurückbringen“, schlug William nun vor, „ich habe einen Deal mit Samira gemacht, der deinem Großvater gefallen dürfte.“

„Oh, wirklich? In dem Fall …“ Sandra strahlte ihn an. Unter den Schwarzgewandeten erhob sich unzufriedenes Gemurmel. Scheinbar fanden sie es nicht gut, dass Sandra so offensichtlich in William verliebt war.

William wandte sich um und kam wenig später mit einem klappernden Kastenwagen zurück. Er lehnte sich aus dem Fenster und sah Luke an. „Einsteigen“, befahl er kalt. Luke sah die anderen an. Die kamen drohend noch einen Schritt auf ihn zu. Er konnte schon die Wärme ihrer Körper fühlen und sah, wie sie die Zähne fletschten wie Raubtiere.

Luke kletterte auf die Ladefläche und beschloss, gleich nach der Stadt abzuspringen. Selbst wenn er sich dabei ein Bein brach, was machte das schon? Sein Herz sank ihm in die Schuhe, als hinter ihm fünfzehn graugewandete Männer aufstiegen. Einer von ihnen rief etwas zu einem der Ladenbesitzer herüber, woraufhin der in seinen Verkaufsraum stürzte und wenig später mit einem Seil zurückkam. Sie fesselten Luke die Arme auf den Rücken. Dann zogen sie das Seil noch durch ein paar Ösen, die sonst der Befestigung der Ladung dienten, und banden ihn dicht am Boden fest. Sie gingen kein Risiko ein.

Die Karre setzte sich schaukelnd in Bewegung. Hinter ihnen stieg eine der Frauen in Schwarz in Samiras Auto und fuhr hinterher.

Zwanzig Minuten später, in denen die Männer um Luke herum fröhlich gelacht und geschwatzt hatten, bog der Konvoi in Samiras Einfahrt ab. Luke wurde hoch gezerrt und von der Ladefläche gestoßen. Unsanft fiel er in Samiras Rosenbeet und die Dornen stachen ihm schmerzhaft ins Gesicht und zerfetzten sein Hemd.

Zwei Graue rissen ihn wieder hoch und schubsten ihn zurück in das Hexenhaus, das so nett aussah, aber so ein grässliches Geheimnis barg.

„Hey, Samira!“, rief William. Bald darauf hörte man schwankende, unsichere Schritte auf der Treppe. Samira kam herunter und hielt sich mit einer Hand krampfhaft am Geländer fest, mit der anderen stützte sie sich an der Wand ab. Sie war sehr bleich und hatte dunkle Ringe unter den trüben, halb geschlossenen Augen. Sie stöhnte. Als sie Luke sah, funkelten Wut, Erleichterung und Triumph in ihrem Blick.

„Ah! Da ist er ja!“ Mühsam beschleunigte sie, und als sie endlich unten angekommen war, versetzte sie dem aus winzigen Dornenwunden blutenden Luke eine schallende Ohrfeige. Die Männer lachten.

„Er lief uns direkt in die Arme. Ich hoffe, dass du uns deine Unterstützung zukommen lassen wirst bei der Suche nach Chris …?“

Wütend sah Samira William an, aber der hatte unerbittlich die Arme verschränkt. „Wenn wir ihn dir nicht wiedergebracht hätten, wären jetzt die Cops hier. Er war schon fast auf dem Weg nach Meddington. Das wäre dein Ende gewesen.“

„Wenn ich meine Schwestern verrate, ist das erst recht mein Ende“, keifte sie zurück, aber mit wenig Überzeugung. Sie wusste, sie schuldete den Graugewandeten viel.

„Du musst uns ja nicht direkt zu ihm bringen … aber ich weiß, ein paar von uns sind zu ihm geflohen, ein paar Abtrünnige. Sind sie bei ihm aufgenommen worden? Mehr muss ich gar nicht wissen.“

Samira senkte den Blick. „Ja“, gestand sie schließlich. Alle entspannten sich.

„Gut. Hier hast du dein kleines Mastschweinchen. Amüsiere dich noch gut mit ihm im Bett. Oink, oink!“

Samira errötete, als alle angewidert verächtliche Grimassen schnitten und sich zum Gehen wandten.

„Halt! Ich bin noch nicht so ganz auf der Höhe. Bringt ihn mir bitte noch in den Garten.“ William nahm achselzuckend den Strick und zerrte Luke zur Verandatür hinaus den gewundenen Kiesweg entlang. Samira folgte ihnen.

„Wie hat er dich denn erledigt?“, frage William abschätzig. Samira errötete noch mehr.

„Er hat mir irgendwie sein Bralocolin verabreicht.“

„Seine Dosis??“

„Ja.“

„Dann hast du Glück, dass du noch lebst.“

Samira schwieg.

Luke stolperte hinter William her durch den herrlichen Garten, den er immer so bewundert hatte. Für die bunten Blumen und hübschen kleinen japanischen Kirschbäumchen hatte er keinen Blick mehr. Es war aus. Zumindest würde er endlich mal in den Pavillon kommen, denn genau darauf steuerten sie zu. Samira hatte ihm nie erlaubt, dorthin zu gehen.

Der Pavillon schien nichts Besonderes zu sein. Einfach weiß, mit einer Kuppel, in der eine runde Öffnung freigelassen worden war. Es gab komischerweise keine Sitzgelegenheiten, keine Bänke, Stühle oder Tische. Der Boden war gefliest. Luke wunderte sich. Warum hatte er hier nie hin gedurft?

Das Rätsel löste sich schneller als gedacht: William band Luke an einem der Pfosten an wie ein Stück Vieh, dann bückte er sich und rollte den Fliesenboden einfach auf wie einen Teppich. Luke staunte. Die Fliesen sahen ziemlich echt aus, waren aber nur einfacher PVC Bodenbelag.

Darunter kam festgestampfte Erde zum Vorschein. Und ein fünfzackiger Stern, den man in den Boden hineingeritzt hatte. Eher gegraben als geritzt, dachte Luke, denn die Linien waren mindestens zehn Zentimeter tief und so breit wie sein Oberarm.

Es überraschte ihn nicht mehr sonderlich, dass der Stern an den Zacken einbetonierte Ösen aufwies, an denen dünne, aber sehr stark aussehende Ketten mit Handschellen befestigt worden waren. Der Stern war so groß, dass ein ausgewachsener Mann genau hineinpasste, wenn er mit ausgestreckten Armen und Beinen dort angekettet lag.

Luke zerrte verzweifelt an dem Seil. Er wusste zwar nicht ganz genau, was Samira mit ihm vorhatte, aber er konnte es sich denken.

William sah sich Lukes Kampf mit seinen Fesseln kurz an, dann zog er einen Elektroschocker aus seiner Hosentasche und schoss Luke ohne mit der Wimper zu zucken Tausende von Volt durch den Körper.

Luke krümmte sich, Schmerzen jagten durch ihn und er fiel zu Boden. Er konnte sich nicht wehren und musste hilflos dulden, dass Samira und William ihn rasch und geschickt in das Pentagramm zogen und an die Ketten fesselten. Das Pentagramm war so sorgfältig gemacht worden, dass auch Lukes in die Mitte geschleifter Körper es nicht zerstörte.

Er erholte sich nur langsam von der Attacke mit dem Elektroschocker. Er hob einen Arm und zog an der Kette; irgendein Stahl, der eine Menge aushielt. Man hätte wohl auch ein Kreuzfahrtschiff damit am Kai festmachen können.

Luke und Samira standen indes ein paar Meter weiter und unterhielten sich. Eine Machtverschiebung war erkennbar, William wirkte jetzt entschieden weniger ehrerbietig, und Samira schämte sich offenbar ganz furchtbar.

„Hey!“, brüllte Luke nun, „komm zurück, Samira! Heeeey! Du willst mich doch hier nicht liegen lassen, oder?“

Samira ignorierte ihn und redete noch eine Weile mit William. Dann nickte sie ergeben und William wandte sich zum Gehen. Eine Frau in Schwarz kam und gab Samira mit einem abschätzigen Lachen den Wagenschlüssel. Dann warf sie einen angewiderten Blick auf den strampelnden Luke und schüttelte den Kopf.

„Wie kann man nur mit so was das Bett teilen? Abscheulich!“

„Er war sehr viel trainierter, als er zu mir k- “

„Das meine ich nicht! Er ist so … so erbärmlich. Die Außenseiter taugen wahrlich nur für die eine Sache, und damit meine ich nicht diesen ekelhaften Sex! Lass ab von deinem Tun, Samira, und werde eine von uns! Als Verabscheute kannst du ein gutes Leben haben in Ryan’s Field, vielleicht darfst du sogar in Sharpurbie wohnen!“

Samiras Gesicht nahm einen spöttischen Ausdruck an. Sie nahm der älteren Frau den Autoschlüssel ab und stopfte ihn in ihre Hosentasche.

„Ich bin und bleibe eine Hexe, Lydia. Ich danke dir … Unsere Welten unterscheiden sich, aber trotzdem haben wir genug gemeinsam, um nebeneinander existieren zu können.“

Lydia nickte. „Wir sehen uns beim großen Barbecue.“

„Bis dann, Lydia.“

Luke brach in Gelächter aus. Friedliche Koexistenz von Hexen und … ja, wovon noch? ‚Verschiedene Welten, trotzdem Gemeinsamkeiten’ … was war das, eine Ansprache vor den Vereinten Nationen? Es war einfach zu bizarr.

„Was gibt’s da zu feixen, du Schwachkopf?“ Samira war unbemerkt näher gekommen und trat ihm wütend in die fleischige Wade. Sie mochte es gar nicht, wenn man sich über sie lustig machte.

„Was hast du jetzt mit mir vor, Samira?“ Luke ging auf ihre Frage nicht ein. Sie würde ihn ja doch nicht verstehen. Sie und er waren es, die in unterschiedlichen Welten lebten. Nur Gemeinsamkeiten hatten sie nicht viele. Eigentlich nur im Bett, aber das war ja nun auch vorbei. Selbst wenn sie jetzt um der alten Zeiten willen noch mal aufgestiegen wäre, das Rodeo wäre ausgefallen. Schon der Gedanke ließ Luke noch mehr einschrumpfen.

„Jetzt habe ich gar nichts mit dir vor, Luke. Du hast Glück und Pech zugleich.“ Luke musste schon wieder lachen.

„Ach ja“, kicherte er, „wieso Glück? Das musst du mir erklären. Das mit dem Pech, das spar dir ruhig. Ist mir schon klar, inwiefern ich Pech habe.“

„Das glaube ich nicht“, grinste sie. Es war das kälteste, fieseste Grinsen, das Luke je gesehen hatte. Selbst im Gefängnis, als Pedro einem Neuling befahl, die Seife aufzuheben, hatte der nicht dermaßen gemein gegrinst.

„Okay, dann erklär mir mein Glück.“ Kraftlos ließ Luke den Kopf sinken und starrte durch die Öffnung im Dach in den herrlichen blauen Himmel. Er war nun unerreichbar für ihn. Nie wieder, wurde ihm klar, würde er den blauen Himmel wiedersehen. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel im Wald, die bunten Blumen und die surrenden Bienen, all das war nah und trotzdem unerreichbar. Und so endlich.

Und weit weg, irgendwo im Wald. Luke ging erst jetzt auf, dass er hier noch nie einen Vogel gesehen oder gehört hatte. Das Gleiche galt für Insekten oder überhaupt irgendwelche Tiere. Sie mieden diesen wunderschönen Garten. Und das Haus. Samira hatte keine Fliegentür, trotzdem war keine Mücke, keine Fliege, kein Käfer je ins Haus eingedrungen. Und er, Dummkopf, der er war, hatte sich nichts dabei gedacht.

„Dein Glück ist, dass du nur bis morgen warten musst. Und das ist wiederum Teil deines Pechs: Es ist erst morgen Vollmond. Also musst du noch warten.“

„Wieso ist das wichtig?“

„Man erntet, wenn der Mond voll ist und die Säfte hochsteigen.“

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