»Mein Herr,« sagte der Onkel, »jetzt sind es zwei Jahre her, daß mir täglich das Herz brechen will. Bald werden Sie so weit sein wie ich. Wenn Sie nicht mehr weinen, so werden Sie Ihren Schmerz nicht um so weniger empfinden.«
»Sie haben für sie gesorgt?« sagte der Oberst, dessen Blicke ebensoviel Dankbarkeit wie Eifersucht ausdrückten.
Die beiden Männer verstanden sich; und indem sie sich von neuem die Hand drückten, blieben sie unbeweglich in der Betrachtung der herrlichen Ruhe, die der Schlaf über dieses entzückende Wesen ausbreitete. Von Zeit zu Zeit stieß Stephanie einen Seufzer aus, und dieser Seufzer, der alle Anzeichen des Gefühls zeigte, ließ den unglücklichen Obersten vor Freude erzittern.
»Ach,« sagte Herr Fanjat leise zu ihm, »täuschen Sie sich nicht, mein Herr, Sie sehen sie jetzt bei voller Vernunft.«
Wer je voller Entzücken damit beschäftigt war, ganze Stunden lang eine zärtlich geliebte Person schlafen zu sehen, deren Augen im Schlafe lächeln müßten, wird zweifellos das süße und furchtbare Gefühl begreifen, das den Obersten bewegte. Für ihn war der Schlaf eine Vorspiegelung; das Erwachen mußte für ihn den Tod bedeuten, und zwar den schrecklichsten aller Tode. Plötzlich lief eine junge Ziege in drei Sprüngen auf die Bank zu und witterte Stephanie, welche das Geräusch erweckte; sie richtete sich leicht auf den Füßen auf, ohne daß diese Bewegung das launische Tier erschreckte; aber als sie Philipp bemerkte, floh sie, von ihrem vierfüßigen Gefährten gefolgt, bis zu einer Hollunderhecke; dann ließ sie einen kleinen wilden Vogelschrei hören, den der Oberst nahe beim Gitter schon gehört hatte, wo die Gräfin Herrn d’Albon zum erstenmal erschienen war. Schließlich kletterte sie auf einen wilden Ebenholzbaum, hockte sich in dem grünen Gipfel dieses Baumes fest und fing an, den »Unbekannten« mit der Neugier der Nachtigallen des Waldes zu betrachten.
»Adieu, adieu, adieu!« sagte sie, ohne daß ihre Seele diesem Worte eine Betonung verlieh.
Es war die Gleichgültigkeit eines in der Luft singenden Vogels.
»Sie erkennt mich nicht mehr! rief der verzweifelte Oberst. »Stephanie! Das ist ja Philipp, dein Philipp, Philipp!«
Und der arme Soldat sprang auf den Baum zu; aber als er drei Schritt von ihm entfernt war, sah ihn die Gräfin an, wie um ihm zu trotzen, obwohl ein furchtsamer Ausdruck in ihrem Auge erschien; dann rettete sie sich von dem Ebenholzbaum auf eine Akazie, und von da auf eine nordische Tanne, wo sie sich von Zweig zu Zweig mit unerhörter Leichtigkeit wiegte.
»Verfolgen Sie sie nicht«, sagte Herr Fanjat zu dem Obersten. »Sie könnten zwischen ihr und sich einen unüberwindlichen Zwiespalt aufrichten; ich werde Ihnen helfen, sie kennenzulernen und sie zu zähmen. Kommen Sie auf diese Bank hier. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht auf diese arme Irre richten, dann werden Sie sie bald unmerklich näher kommen sehen, um Sie zu prüfen.«
»Sie! Mich nicht wiedererkennen und mich fliehen!« wiederholte der Oberst und lehnte den Rücken gegen einen Baum, dessen Blätter eine ländliche Bank beschatteten. Der Doktor verharrte stillschweigend.
Bald kam die Gräfin von dem Gipfel der Tanne sachte von oben herab, indem sie wie ein Irrlicht herabschwankte und sich zuweilen mit den Regungen des Windes mitgehen ließ, die er den Bäumen mitteilte. Bei jedem Aste hielt sie still, um nach dem Fremden auszuspähen; aber da sie ihn unbeweglich sah, sprang sie schließlich auf das Gras, stellte sich aufrecht und kam mit langsamem Schritt quer über die Wiese auf ihn zu. Als sie an einem Baum, ungefähr zehn Fuß von der Bank entfernt stand, sagte Herr Fanjat leise zu dem Obersten:
»Nehmen Sie vorsichtig in meiner rechten Tasche etliche Stücke Zucker und zeigen Sie sie ihr, sie wird dann näher kommen; ich werde zu Ihren Gunsten auf das Vergnügen verzichten, ihr einige Leckereien zu verschaffen. Mit Unterstützung des Zuckers wird sie Sie leidenschaftlich lieben, Sie werden sie gewöhnen, Ihnen näher zu kommen und Sie wieder zu erkennen.«
»Als sie ein echtes Weib war,« antwortete Philipp traurig, »hatte sie gar keinen Geschmack für Süßigkeiten.«
Als der Oberst Stephanie mit dem Stückchen Zucker winkte, das er ihr mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hinhielt, stieß sie einen neuen wilden Schrei aus und eilte auf Philipp zu; dann blieb sie stehen, von der instinktiven Furcht bewegt, die sich ihr aufdrängte; abwechselnd betrachtete sie den Zucker und wandte den Kopf ab, wie die armseligen Hunde, denen die Herren verbieten, an ein Gericht zu rühren, bevor man ihnen einen der letzten Buchstaben des Alphabets nennt, das man langsam rezitiert hat. Endlich siegte die tierische Leidenschaft über die Furcht: Stephanie stürzte sich auf Philipp, streckte schüchtern ihre hübsche braune Hand aus, um die Beute zu ergreifen, berührte die Finger ihres Geliebten, packte den Zucker und verschwand in einem Gebüsch des Waldes. Diese schauderhafte Szene schlug den Obersten vollends danieder, der in Tränen ausbrach und sich in seinen Salon flüchtete.
»Verleiht die Liebe denn weniger Mut als die Freundschaft?« sagte Herr Fanjat zu ihm: »Ich habe noch Hoffnung, Herr Baron. Meine arme Nichte war in einem viel bedauernswerteren Zustande, als dem, in dem Sie sie sehen.«
»Ist das noch möglich?« rief Philipp aus.
»Sie war nackt geblieben«, erwiderte der Mediziner. Der Oberst machte eine Schreckensgebärde und erbleichte; der Doktor glaubte in dieser Blässe einige bösen Symptome zu erkennen: er faßte ihm den Puls und fand ihn einem heftigen Fieber ausgeliefert; auf ernstliches Drängen gelang es ihm, ihn ins Bett zu bringen, und er bereitete ihm eine leichte Dosis Opium, um ihm einen ruhigen Schlaf zu verschaffen. So verliefen ungefähr acht Tage, während deren der Baron von Sucy oft mit tödlicher Angst kämpfte; bald fanden seine Augen keine Tränen mehr. Seine oft erschütterte Seele vermochte sich nicht an das Schauspiel zu gewöhnen, das ihm der Irrsinn der Gräfin darbot; aber er fand sich in gewissem Sinne mit der grausamen Lage ab und erblickte in seinem Schmerze einen Trost. Sein Heroismus kannte keine Grenzen. Er fand den Mut, Stephanie zu zähmen, indem er ihr Süßigkeiten aussuchte; er gab sich solche Mühe, ihr diese Nahrung herbeizubringen, er verstand es, die bescheidenen Eroberungen, die er dem Instinkt seiner Geliebten diesen letzten Rest ihrer Intelligenz aufdrängen wollte, so vorsichtig abzumessen, daß es ihm gelang, sie vertraulicher zu machen, als sie es jemals gewesen war.
Der Oberst stieg jeden Morgen in den Park hinunter; und wenn er, nachdem er lange Zeit nach der Gräfin gesucht hatte, nicht ahnen konnte, auf welchem Baum sie sich leicht wiegte, noch in welchem Winkel sie geklettert war, um hier mit einem Tier zu spielen, noch auf welches Dach sie geklettert war, so pfiff er den berühmten Marsch: Partant pour la Syrie, woran sich die Erinnerung an eine Szene ihrer Liebe kettete. Sogleich lief Stephanie mit der Leichtigkeit eines jungen Rehs herbei. Es war ihr so natürlich geworden, den Obersten zu sehen, daß er sie nicht mehr erschreckte; bald gewöhnte sie sich daran, sich neben ihn zu setzen, ihn mit ihrem mageren beweglichen Arm zu umfassen. In dieser, den Liebenden so teuren Haltung, gab ihr Philipp langsam einiges Zuckerzeug, für das die Gräfin eine Vorliebe hatte. Wenn sie alles aufgenascht hatte, geschah es zuweilen, daß Stephanie die Taschen ihres Freundes mit Gesten durchforschte, die die mechanische Schnelligkeit eines Affen zeigten. Wenn sie ganz sicher war, daß er nichts mehr darin hatte, betrachtete sie Philipp mit klarem Auge, ohne Gedanken, ohne ein Wiedererkennen; sie spielte dann mit ihm; sie versuchte dann, ihm die Stiefel wegzunehmen, um seinen Fuß anzusehen, sie zerriß seine Handschuhe, setzte seinen Hut auf; sie ließ ihn seine Hände in ihr Haar stecken, erlaubte ihm, sie in seine Arme zu nehmen, und empfing ohne Vergnügen glühende Küsse. Endlich sah sie ihn schweigend an, wenn er Tränen vergoß; sie begriff wohl den Pfiff von Partant pour la Syrie, aber es wollte ihm nicht gelingen, sie ihren eigenen Namen »Stephanie« aussprechen zu lassen. Philipp wurde bei seinem schrecklichen Unternehmen in einer Hoffnung festgehalten, die ihn niemals verließ. Wenn er an einem schönen Herbstvormittag die Gräfin ruhig auf einer Bank sitzend sah, unter einem gelb gewordenen Pappelbaum, lagerte sich der arme Liebende zu ihren Füßen und sah ihr so lange in die Augen, als sie ihn hineinsehen ließ, in der Hoffnung, daß das Licht, das ihr daraus entschlüpfte, wieder zur Vernunft werden würde. Manchmal bildete er sich etwas ein: er glaubte die harten und unbeweglichen Züge von neuem zitternd, weich und lebendig werden zu sehen und rief aus: »Stephanie! Stephanie! Du verstehst mich, du siehst mich!« Aber sie hörte den Ton seiner Stimme wie ein Geräusch, wie die Wirkung des Windes, der die Bäume bewegte, wie das Brüllen der Kuh, auf die sie kletterte; und der Oberst rang verzweifelt seine Hände, immer von neuen verzweifelt. Die Zeit und seine vergeblichen Versuche vermehrten nur seinen Schmerz. Eines Abends, bei ruhigem Himmel und inmitten des Schweigens und Friedens des ländlichen Asyls, bemerkte der Doktor von fern, wie der Oberst eine Pistole lud. Der alte Arzt begriff, daß Philipp keine Hoffnung mehr hatte; er fühlte, wie alles Blut ihm zu Herzen floß, und wenn er den Schwindel, der sich seiner bemächtigte, widerstand, so geschah es, weil er lieber seine Nichte lebend und irre sehen wollte als tot. Er lief herzu.
»Was machen Sie da?« sagte er.
»Das ist für mich,« antwortete der Oberst und zeigte auf eine geladene Pistole auf der Bank, »und die dort ist für sie!« fügte er hinzu und schob die Kugel in die Waffe, die er hielt.
Die Gräfin lag auf der Erde ausgestreckt und spielte mit den Kugeln.
»Sie wissen also nicht,« sagte kalt der Arzt, der seinen Schrecken verbarg, »daß sie heute Nacht im Schlafe gesagt hat: Philipp?«
»Sie hat meinen Namen genannt!« rief der Baron und ließ seine Pistole zur Erde fallen, die Stephanie wieder aufhob; aber er entriß sie ihren Händen, bemächtigte sich derjenigen, die sich auf der Bank befand, und rettete sich.
»Arme Kleine!« rief der Arzt aus, glücklich über den Erfolg, den seine List gehabt hatte. Er drückte die Irre an seinen Busen und fuhr fort: »Er hätte sie getötet, der Egoist! Er will dir den Tod geben, weil er selber leidet. Er versteht es nicht, dich um deinetwillen zu lieben, mein Kind! Wir werden ihm vergeben, nicht wahr? Er ist unsinnig, und du, du bist nur irre. Gott, mein Liebling, soll dich allein an ihn erinnern. Wir halten dich für unglücklich, weil du an unserem Elend nicht teilnimmst, töricht wie wir sind! Du aber,« sagte er und setzte sie auf seine Knie, »du bist glücklich, nichts stört dich; du lebst wie eine Hirschkuh.«
Sie sprang auf eine junge Amsel los, die hüpfte, packte sie mit einem kleinen Schrei der Genugtuung, erstickte sie, sah die Tote an und ließ sie am Fuße eines Baumes liegen, ohne weiter an sie zu denken.
Als der nächste Morgen tagte, stieg der Oberst in die Gärten hinab. Er suchte Stephanie, er glaubte an sein Glück; und als er sie nicht fand, pfiff er nach ihr. Als die Geliebte herangekommen war, nahm er sie beim Arm und ging mit ihr zum erstenmal in gleichem Schritt, sie begaben sich in ein Gesträuch verblühender Bäume, von denen im Morgenwinde Blätter herabfielen. Der Oberst setzte sich, und Stephanie lehnte sich von selbst an ihn. Philipp zitterte vor Freude.
»Meine Geliebte,« sagte er und küßte mit glühender Liebe die Hände der Gräfin, »ich bin Philipp.«
Sie sah ihn voll Neugierde an.
»Komm«, fügte er hinzu und preßte sie an sich. »Fühlst du, wie mein Herz schlägt? Es hat nur für dich geschlagen. Ich liebe dich noch immer … Philipp ist nicht tot: er ist hier … Du bist bei ihm … Du bist meine Stephanie, und ich bin dein Philipp.«
»Adieu!« sagte sie, »adieu!«
Der Oberst erzitterte, denn er glaubte zu bemerken, daß seine Erregung sich seiner Geliebten mitteilte. Sein zerreißender Schrei, von der Hoffnung angestachelt, diese letzte Anstrengung einer ewigen Liebe, einer verzehrenden Leidenschaft, würde die Vernunft seiner Geliebten erwecken.
»Ach, Stephanie! Wir werden glücklich sein!«
Sie ließ sich einen Schrei der Genugtuung entschlüpfen, und ihre Augen zeigten einen warmen Schimmer von Intelligenz.
»Sie erkennt mich wieder! Stephanie!«
Der Oberst fühlte sein Herz schwellen und seine Augen feucht werden. Aber er sah plötzlich die Gräfin ihm ein Stückchen Zucker zeigen, das sie gefunden hatte, als sie ihn durchsuchte, während er sprach. Er hatte also für einen menschlichen Gedanken diesen Grad von Verstand gehalten, den die List des Affen voraussetzt. Philipp verlor die Besinnung. Herr Fanjat fand die Gräfin auf dem Körper des Obersten sitzend. Sie biß zum Zeichen ihres Vergnügens in ihren Zucker mit einer Schöntuerei, die man bewundert hätte, wenn sie, im Besitz ihrer Vernunft, zum Spaß ihren Papagei oder ihre Katze hätte nachahmen wollen.
»Ach, mein Freund!« rief Philipp aus, als er wieder zur Besinnung kam, »ich sterbe alle Tage, alle Augenblicke! Ich liebe sie zu sehr! Alles würde ich ertragen haben, wenn sie in ihrem Irrsinn ein klein wenig von weiblichem Charakter beibehalten hätte. Aber sie immer wie eine Wilde sehen und selbst schamlos, sie sehen …«
»Sie wollen also einen Opernirrsinn haben«, sagte bitter der Doktor, »und die Hingebung Ihrer Liebe ist Vorurteilen unterworfen? Wie, mein Herr, ich habe mich des trüben Glücks beraubt, meine Nichte zu ernähren, ich habe Ihnen das Vergnügen überlassen, mit ihr zu spielen, und mir nur die drückendsten Lasten vorbehalten … Während Sie schlafen, wache ich über sie, ich … Nein, mein Herr, überlassen Sie sie mir wieder. Verlassen Sie diese traurige Einsiedelei. Ich kann mit diesem teuren kleinen Wesen leben; ich verstehe ihren Irrsinn, ich spähe ihre Gesten aus, ich kenne ihre Geheimnisse. Eines Tages werden Sie mir dafür danken.«
Der Oberst verließ Bons-Hommes, um nur noch einmal dorthin zurückzukehren. Der Doktor war betroffen von der Wirkung, die er bei seinem Gast hervorgerufen hatte; er begann ihn gleichermaßen zu lieben wie seine Nichte. Wenn von den beiden Liebenden der eine des Mitleids wert war, so war es sicher Philipp: trug er nicht für sich selbst allein die Last eines schrecklichen Schmerzes? Der Arzt zog Erkundigungen über den Oberst ein und erfuhr, daß der Unglückliche sich auf ein Gut geflüchtet hatte, das er in der Nähe von Saint-Germain besaß. Der Baron hatte, unter der Eingebung eines Traums, einen Plan gefaßt, um der Gräfin den Verstand wiederzugeben. Ohne Wissen des Doktors verwandte er den Rest des Herbstes auf die Vorbereitungen zu diesem gewaltigen Unternehmen. Ein Flüßchen lief durch seinen Park, wo es im Winter einen großen Sumpf überschwemmte, der fast demjenigen glich, der sich längs des rechten Ufers der Beresina ausbreitete. Das Dorf Satout, das auf einem kleinen Hügel lag, rahmte diese Szene des Schreckens ein, wie Studzianka die Niederung der Beresina umschloß. Der Oberst nahm eine Anzahl Arbeiter an und ließ einen Kanal ziehen, der den reißenden Fluß darstellte, wo die Schätze Frankreichs untergegangen waren, Napoleon und seine Armee. Mit Hilfe seiner Erinnerung gelang es Philipp, in seinem Park das Ufer nachzubilden, wo der General Eblé seine Brücken errichtet hatte. Er pflanzte Büsche und ließ sie anzünden, um dadurch die geschwärzten und halb verbrauchten Bretter darzustellen, die auf beiden Seiten des Ufers den Nachzüglern bezeugt hatten, daß der Weg nach Frankreich ihnen versperrt war. Der Oberst ließ Holztrümmer herbeischleppen, ähnlich denen, deren sich seine Unglücksgefährten bedient hatten, um ihr Fahrzeug zu konstruieren. Er verwüstete seinen Park, um die Illusion vollkommen zu machen, auf die er seine letzte Hoffnung baute. Er beschaffte zerlumpte Uniformen und Kleider, um mehrere hundert Bauern darein zu kleiden. Er errichtete Hütten, Biwaks, Batteriestände, die er in Brand setzte. Kurz er vergaß nichts von alledem, was geeignet war, die schrecklichste aller Szenen nachzubilden, und er erreichte sein Ziel. Um die ersten Tage des Monats Dezember, als der Schnee die Erde mit einem dicken weißen Mantel bedeckt hatte, erkannte er die Beresina wieder. Dieses falsche Rußland war von einer so erschreckenden Wirklichkeit, daß auch mehrere seiner Waffengefährten die Szene ihrer ehemaligen Leiden wiedererkannten. Herr von Sucy hütete das Geheimnis dieser tragischen Darstellung, über die zu jener Zeit sich mehrere Pariser Gesellschaftskreise wie über eine Narrheit unterhielten.
Zu Beginn des Monats Januar 1820 bestieg der Oberst einen Wagen, ähnlich dem, der Herr und Frau von Vandières von Moskau nach Studzianka geführt hatte, und wandte sich nach dem Walde von Ile-Adam. Der Wagen wurde von Pferden gezogen, die fast denen glichen, die er bei Gefahr seines Lebens aus den Reihen der Russen geholt hatte. Er trug die beschmutzten und bizarren Kleider, die Waffen, die Kopfbedeckung, die er am 29. November 1812 anhatte. Er hatte sogar Bart und Haare lang wachsen lassen und sein Gesicht vernachlässigt, damit nichts an dieser scheußlichen Wirklichkeit fehlte.
»Ich habe Ihr Kommen geahnt,« rief Herr Fanjat, als er den Oberst aus dem Wagen steigen sah. »Wenn Sie wünschen, daß Ihr Projekt glückt, dann zeigen Sie sich nicht in diesem Aufzug. Heute Abend werde ich meine Nichte etwas Opium nehmen lassen. Während sie schläft, werden wir sie wie bei Studzianka anziehen und werden sie in diesen Wagen setzen. Ich folge Ihnen in einem Reisewagen.«
Etwa um zwei Uhr morgens wurde die junge Gräfin in den Wagen getragen, auf Kissen gebettet und in eine grobe Decke eingehüllt. Einige Bauern hielten Licht bei dieser einzigartigen Entführung. Plötzlich erscholl ein durchdringender Schrei in der Stille der Nacht. Philipp und der Arzt wandten sich um und erblickten Genovefa, die halbnackt aus der Kammer kam, in der sie schlief.
»Adieu, adieu! Es ist zu Ende, adieu!« rief sie, heiße Tränen weinend.
»Nun, was hast du denn, Genovefa?« sagte Herr Fanjat zu ihr.
Genovefa schüttelte den Kopf mit einer Bewegung der Verzweiflung, hob die Arme gen Himmel, blickte den Wagen an, stieß einen langen Klageton aus, gab sichtliche Zeichen eines tiefen Schreckens und kehrte schweigend ins Haus zurück.
»Das ist ein gutes Vorzeichen«, rief der Oberst. »Dieses Mädchen bedauert, keine Gefährtin mehr zu haben. Sie sieht vielleicht, daß Stephanie den Verstand wiederfinden wird.
»Gott wolle es!« sagte Herr Fanjat, der von diesem Zwischenfall tiefbewegt zu sein schien. Seitdem er sich mit dem Irrsinn beschäftigte, hatte er mehrfache Beispiele prophetischen Geistes und der Gabe des zweiten Gesichts angetroffen, von denen einige Proben von Geisteskranken gegeben worden sind, und die, nach den Erzählungen mehrerer Reisender, auch bei den wilden Völkern zu finden sind.
So wie es der Oberst berechnet hatte, durchquerte Stephanie die vermeintliche Niederung der Beresina etwa um 9 Uhr morgens; sie wurde durch einen Böllerschuß geweckt, der hundert Schritt von dem Ort entfernt abgefeuert wurde, wo die Szene stattfand. Das war das Signal. Tausend Bauern stießen ein schreckliches Geschrei aus, ähnlich dem Verzweiflungsruf, der die Russen erschreckte, als zwanzigtausend Nachzügler sich durch ihre Schuld dem Tode oder der Sklaverei ausgeliefert sahen. Bei diesem Schrei, bei diesem Kanonenschuß sprang die Gräfin aus dem Wagen, rannte mit rasender Angst auf den schneebedeckten Platz, sah die verbrannten Biwaks und das unglückselige Floß, das man in die vereiste Beresina hinabließ. Dort stand der Major Philipp und ließ seinen Säbel über der Menge wirbeln. Frau von Vandières ließ einen Schrei ertönen, der alle Herzen erstarren machte, und stellte sich vor den Oberst hin, der krampfhaft zusammenzuckte. Sie sammelte sich und blickte zunächst unbestimmt dieses fremde Bild an. Während eines Moments, so kurz wie der Blitz, gewannen ihre Augen die entblößte Klarheit der Intelligenz, die wir in dem erstaunten Auge der Vögel bewundern; dann legte sie die Hand an die Stirn mit dem lebhaften Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt, sie erfaßte diese starke Erinnerung, dieses verflossene Erlebnis, das ausgebreitet vor ihr lag, wandte lebhaft den Kopf zu Philipp hin und erkannte ihn. Ein schreckliches Schweigen lastete auf der Menge. Der Oberst seufzte und wagte nicht zu sprechen; der Doktor weinte. Stephanies schönes Gesicht färbte sich schwach; dann, in allmählicher Steigerung, gewann sie den Glanz eines vor Frische strahlenden jungen Mädchens. Ihr Gesicht bekam eine schöne Purpurfarbe. Leben und Glück, angefacht durch eine blitzende Einsicht, nahmen immer mehr zu gleich einer Feuersbrunst. Ein konvulsives Zittern breitete sich von den Füßen bis zum Herzen aus. Dann vereinigten sich diese Erscheinungen, die einen Moment aufleuchteten, gleichsam zu einem gemeinsamen Band, als die Augen Stephanies einen himmlischen Funken, eine bewegte Flamme ausstrahlten. Sie lebte, sie dachte! Sie schauderte, vor Schrecken vielleicht! Gott selbst löste zum zweitenmal die erstorbene Zunge und warf von neuem sein Feuer in diese erloschene Seele. Der menschliche Wille erwuchs mit seinen elektrischen Strömen und belebte diesen Körper, von dem er so lange abwesend gewesen war.
»Stephanie!« schrie der Oberst.
»Oh! das ist Philipp,« sagte die arme Gräfin.
Sie stürzte sich in die zitternden Arme, die der Oberst ihr entgegenstreckte, und die Umarmung der beiden Liebenden erschütterte die Zuschauer. Stephanie floß in Tränen. Plötzlich legte sich ihr Weinen, sie wurde leblos, als wenn der Blitz sie gerührt hätte, und hauchte mit schwacher Stimme: »Adieu, Philipp! Ich liebe dich, adieu!«
»Oh, sie ist tot!« rief der Oberst, indem er die Arme öffnete.
Der alte Arzt fing den leblosen Körper seiner Nichte auf, umarmte sie, wie es ein junger Mann getan hätte, trug sie fort und setzte sich mit ihr auf einen Holzhaufen. Er blickte die Gräfin an und legte ihr seine kraftlose und krampfhaft zuckende Hand aufs Herz. Das Herz schlug nicht mehr.
»So ist es also wahr?« sagte er, indem er abwechselnd den unbeweglichen Oberst und das Gesicht Stephanies betrachtete, über das der Tod eine strahlende Schönheit, eine flüchtige Glorie ausbreitete, das Pfand vielleicht einer glänzenden Zukunft.
»Ja, sie ist tot.
»Ach, dieses Lächeln!« rief Philipp, »sehen Sie nur dieses Lächeln! Ist es möglich?«
»Sie ist schon kalt«, erwiderte Herr Fanjat.
Herr von Sucy machte einige Schritte, um sich von diesem Schauspiel loßzureißen; aber er hielt an, pfiff das Lied, das die Irre kannte, und als er seine Geliebte nicht kommen sah, entfernte er sich mit schwankendem Schritt, wie ein Trunkener, immer pfeifend, aber ohne sich noch einmal umzusehen.
Der General Philipp von Sucy galt in der Gesellschaft als ein sehr liebenswürdiger und namentlich als ein sehr heiterer Mann. Vor einigen Tagen beglückwünschte ihn eine Dame wegen seiner guten Laune und der Beständigkeit seines Charakters.
»Ach, meine Gnädige,« sagte er, »ich bezahle meine Späße recht teuer, des Abends, wenn ich alleine bin!«
»Sind Sie denn jemals allein?«
»Nein,« antwortete er lächelnd.
Wenn ein kluger Beobachter der menschlichen Natur in diesem Augenblick den Ausdruck des Grafen von Sucy hätte beobachten können, würde er vielleicht geschaudert haben.
»Warum heiraten Sie nicht?« fuhr jene Dame fort, die selbst mehrere Töchter in einem Pensionat hatte. »Sie sind reich, Standesperson, von altem Adel; Sie haben Talente, Sie haben noch eine Zukunft, alles lächelt Ihnen zu.«
»Jawohl«, erwiderte er, »aber es ist ein Lächeln, das mich tötet.«
Am nächsten Tage erfuhr die Dame voll Erstaunen, daß Herr von Sucy sich während der Nacht eine Kugel vor den Kopf geschossen hatte. Die gute Gesellschaft unterhielt sich verschiedentlich über dieses außergewöhnliche Ereignis, und jeder suchte nach dem Grunde. Je nach dem Geschmack des Beurteilers wurden das Spiel, die Liebe, der Ehrgeiz, verborgene Ausschweifungen als Erklärung gegeben für diese Katastrophe, die letzte Szene eines Dramas, das im Jahre 1812 begonnen hatte. Zwei Menschen allein, ein Beamter und ein alter Arzt, wußten, daß der Graf von Sucy einer jener starken Menschen war, denen Gott die unglückselige Kraft verleiht, alle Tage siegreich aus einem furchtbaren Kampf hervorzugehen, den sie einem unbekannten Schrecken liefern. Und daß sie, wenn in einem Augenblick Gott ihnen seine mächtige Hand entzieht, unterliegen.