Die Fragen begannen von neuem. Aber wie ein eigenwilliges Kind wurde die Bäuerin rot, spielte mit ihrem Pantoffel, drehte an dem Strick der Kuh, die wieder abzuweiden begonnen hatte, sah sich die beiden Jäger an und prüfte alle Teile ihres Anzugs; sie kreischte, sie knurrte, sie gluckste, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Wie heißt du?« sagte Philipp und sah sie fest an, als wollte er sie hypnotisieren.
»Genovefa«, sagte sie mit einem dummen Lachen.
»Bis jetzt ist die Kuh die intelligenteste Kreatur, die wir hier gesehen haben«, rief der Rat. »Ich werde einen Schuß abfeuern, damit Leute kommen.«
Gerade als d’Albon seine Waffe ergriff, hielt ihn der Oberst mit einer Geste zurück und zeigte mit dem Finger auf die Unbekannte, die ihre Neugierde so lebhaft erregt hatte. Die Frau schien in tiefes Nachdenken versunken und kam mit langsamen Schritten aus einer ziemlich entfernten Allee, so daß die beiden Freunde Zeit hatten, sie genau zu betrachten. Sie war mit einem ganz abgetragenen schwarzen Seidenrock bekleidet. Ihre langen Haare fielen in zahlreichen Wellen über ihre Stirn, um ihre Schultern und reichten bis unter ihre Taille hinab, indem sie ihr als Schal dienten. An diese Unordnung offenbar gewöhnt, schob sie nur selten ihr Haar von beiden Schläfen hinweg; dann aber schüttelte sie das Haupt mit jäher Bewegung und brauchte sich nicht zweimal zu bemühen, um ihre Stirn oder ihre Augen von dem dicken Schleier zu befreien. Ihre Geste zeigte übrigens wie bei einem Tier die bewunderungswürdige mechanische Sicherheit, deren Schnelligkeit bei einer Frau wie ein Wunder erscheinen mußte. Die beiden Jäger sahen sie erstaunt auf einen Ast des Apfelbaums springen und sich hier mit der Leichtigkeit eines Vogels festhalten. Sie griff nach den Früchten, verspeiste sie, dann ließ sie sich mit zierlicher Lässigkeit, wie man sie an den Eichhörnchen bewundert, zur Erde fallen. Ihre Glieder besaßen eine Elastizität, die ihren geringsten Bewegungen jeden Anschein von Mühe oder Anstrengung nahm. Sie spielte auf dem Rasen, kugelte sich dort wie ein Kind herum; dann streckte sie plötzlich ihre Füße und Hände aus und blieb ausgebreitet auf der Wiese mit der Unbekümmertheit, der Grazie und der Natürlichkeit einer jungen Katze liegen, die in der Sonne eingeschlafen ist. Als der Donner in der Ferne grollte, wandte sie sich plötzlich und stellte sich mit bewundernswerter Geschicklichkeit auf alle viere wie ein Hund, der einen Fremden kommen hört. Durch diese merkwürdige Haltung schied sich ihr schwarzes Haar sogleich in zwei breite Flechten zu jeder Seite ihres Kopfes und erlaubte den beiden Zuschauern bei dieser seltsamen Szene ihre Schultern zu bewundern, deren weiße Haut wie die Gänseblümchen auf der Wiese leuchteten, und einen Hals, dessen Vollkommenheit auf all das übrige Ebenmaß ihres Körpers schließen ließ.
Sie ließ einen Schmerzensschrei hören und stellte sich ganz auf ihre Füße. Ihre Bewegungen folgten einander so graziös und wurden so leicht ausgeführt, daß sie kein menschliches Wesen, sondern eine der durch die Dichtungen Ossians berühmt gewordenen Töchter der Luft zu sein schien. Sie ging an eine der Wasserflächen heran, schüttelte leicht ein Bein, um ihren Schuh loszumachen, und schien ein Vergnügen daran zu finden, ihren alabasterweißen Fuß in die Quelle zu tauchen, während sie sich jedenfalls an den Wellenbewegungen ergötzte, die sie dabei erzeugte und die Edelsteinen glichen. Dann kniete sie an dem Rande des Bassins nieder und amüsierte sich wie ein Kind damit, ihre langen Flechten ins Wasser zu tauchen und sie dann schnell wieder herauszuziehen, um Tropfen für Tropfen das Wasser, von denen es voll war, hinablaufen zu lassen, das, von den Sonnenstrahlen durchleuchtet, einen förmlichen Rosenkranz von Perlen bildete.
»Das Weib ist irrsinnig!« rief der Rat aus.
Ein rauher Schrei, den Genovefa ausstieß, wurde laut und schien sich an die Unbekannte zu richten, die sich schnell umwandte und ihr Haar von beiden Seiten ihres Gesichtes wegstrich. In diesem Moment konnten der Oberst und d’Albon deutlich die Züge der Frau erkennen, die, als sie die beiden Freunde bemerkte, in mehreren Sprüngen mit der Leichtigkeit einer Hirschkuh auf das Gitter zueilte. »Adieu!« sagte sie mit sanfter, wohlklingender Stimme, aber ohne daß dieser, ungeduldig von den Jägern erwartete melodiöse Ton das geringste Empfinden oder das geringste Denken verriet.
Herr d’Albon bewunderte die langen Wimpern ihrer Augen, ihre schwarzen dichten Augenbrauen und ihre blendend weiße Haut ohne den geringsten Schimmer von Röte. Feine blaue Adern durchzogen allein ihren weißen Teint. Als der Rat sich umwandte, um seinem Freunde mitzuteilen, welches Erstaunen ihm der Anblick dieses seltsamen Weibes eingeflößt hatte, sah er diesen wie tot auf dem Grase liegen. Herr d’Albon schoß sein Gewehr in die Luft ab, um Leute herbeizurufen und schrie: »Zu Hilfe!« während er versuchte, den Obersten aufzurichten. Bei dem Knall des Schusses floh die Unbekannte, die bis dahin unbeweglich verharrt hatte, pfeilschnell davon, stieß Schreckensschreie wie ein verwundetes Tier aus und rannte über die Wiese mit allen Zeichen tiefsten Schreckens. Herr d’Albon vernahm das Heranrollen einer Kalesche auf der Landstraße von Ile-Adam und rief den Beistand der Spazierenfahrenden durch Winken mit seinem Taschentuch herbei. Sogleich lenkte der Wagen nach Bons-Hommes ein, und d’Albon erkannte Herrn und Frau von Grandville, seine Nachbarn, die sich beeilten, aus ihrem Wagen zu steigen und ihn dem Rat anzubieten. Frau von Grandville hatte zufälligerweise ein Flakon mit ätherischem Salz bei sich, das man Herrn de Sucy einatmen ließ. Als der Oberst die Augen wieder öffnete, wandte er sie der Wiese zu, auf der die Unbekannte nicht aufhörte zu rennen und zu schreien, und stieß einen undeutlichen Ruf aus, der aber doch eine Empfindung von Schrecken verriet; dann schloß er von neuem die Augen und machte eine Bewegung, als wolle er seinen Freund bitten, ihn diesem Schauspiel zu entreißen. Herr und Frau von Grandville überließen dem Rat die freie Verfügung über ihren Wagen, indem sie ihm entgegenkommenderweise erklärten, daß sie ihre Promenade zu Fuß fortsetzen wollten.
»Wer ist denn diese Dame?« fragte der Rat und zeigte auf die Unbekannte.
»Man vermutet, daß sie aus Moulins kommt«, antwortete Herr von Grandville. »Sie nennt sich Gräfin von Vandières. Man sagt, sie sei irrsinnig; aber da sie sich erst seit zwei Monaten hier aufhält, kann ich Ihnen nicht dafür einstehen, inwieweit alle diese Gerüchte auf Wahrheit beruhen.«
Herr d’Albon dankte Herrn und Frau de Grandville und fuhr nach Cassan.
»Sie ist es!« rief Philipp, als er wieder zum Bewußtsein gekommen war.
»Wer, sie?« fragte d’Albon.
»Stephanie. Ach, tot oder lebend, lebendig oder irrsinnig! Ich glaubte, ich müsse sterben.«
Der vorsichtige Rat, der die schwere Krisis begriff, in die sein Freund ganz verfallen war, hütete sich wohl, ihn auszufragen oder aufzuregen; es verlangte ihn ungeduldig danach, ins Schloß zu gelangen, denn die Veränderung, die in den Zügen und in der ganzen Persönlichkeit des Obersten sich geltend machte, ließ ihn befürchten, daß die Gräfin Philipp mit ihrer schrecklichen Krankheit angesteckt habe.
Sobald der Wagen die Einfahrt nach Ile-Adam erreicht hatte, schickte d’Albon den Diener zum Arzte des Fleckens; das geschah so, daß der Doktor sich schon an seinem Lager befand, als der Oberst zu Bett gebracht wurde.
»Wäre der Herr Oberst nicht fast nüchtern gewesen,« sagte der Chirurg, »so wäre er gestorben. Seine Mattigkeit hat ihn gerettet.«
Nachdem er die ersten Vorsichtsmaßregeln angeordnet hatte, entfernte sich der Doktor, um selbst einen beruhigenden Trank zu bereiten. Am andern Morgen befand sich Herr de Sucy besser, aber der Arzt wünschte selber, bei ihm zu bleiben.
»Ich muß Ihnen gestehen, Herr Marquis,« sagte der Doktor zu Herrn d’Albon, »daß ich an eine Verletzung des Gehirns geglaubt habe. Herr de Sucy ist das Opfer einer sehr heftigen Erregung geworden: seine Leidenschaftlichkeit ist schnell entflammt; aber bei ihm entscheidet sich alles auf den ersten Schlag. Morgen wird er vielleicht schon außer Gefahr sein.«
Der Arzt hatte sich nicht getäuscht; am andern Morgen erlaubte er dem Rat, seinen Freund wiederzusehen.
»Mein lieber d’Albon,« sagte Philipp und drückte ihm die Hand, »ich erwarte einen Dienst von dir! Eile schnell nach Bons-Hommes! Erkundige dich nach allem, was die Dame betrifft, die wir gesehen haben, und komm schnell zurück, denn ich zähle die Minuten.«
Herr d’Albon sprang auf ein Pferd und galoppierte nach der alten Abtei. Als er ankam, bemerkte er vor dem Gitter einen großen hageren Mann mit einnehmendem Gesicht, der bejahend antwortete, als der Rat ihn fragte, ob er dieses zerstörte Haus bewohne. Herr d’Albon teilte ihm den Grund seines Besuches mit.
»Wie, mein Herr,« rief der Unbekannte, »sollten Sie es gewesen sein, der den verhängnisvollen Flintenschuß hat losgehen lassen? Sie hätten beinahe meine arme Kranke getötet.«
»Oh, mein Herr, ich habe in die Luft geschossen.«
»Sie hätten der Frau Gräfin weniger Leid angetan, wenn Sie sie getroffen hätten.«
»Nun, wir haben uns nichts vorzuwerfen; denn der Anblick Ihrer Gräfin hat meinen Freund, Herrn de Sucy, beinahe getötet.«
»Sollte das der Baron Philipp de Sucy sein?« rief der Unbekannte und preßte die Hände zusammen. »War er in Rußland bei dem Übergang über die Beresina?«
»Jawohl,« erwiderte d’Albon; »er wurde von den Kosaken gefangen und nach Sibirien gebracht, von wo er erst vor etwa elf Monaten zurückgekehrt ist.«
»Kommen Sie herein, mein Herr«, sagte der Unbekannte und führte den Rat in einen im Erdgeschoß der Wohnung belegenen Salon, wo alles die Zeichen einer launenhaften Zerstörung zeigte.
Kostbare Porzellanvasen standen zerbrochen neben einer Kaminuhr, deren Gehäuse unberührt war. Die seidenen, an den Fenstern angebrachten Vorhänge waren zerrissen, während der doppelte Musselinvorhang unberührt war.
»Sie sehen«, sagte er beim Eintreten zu Herrn d’Albon, »die Zerstörungen, die das entzückende Wesen, dem ich mich gewidmet habe, verübt hat. Sie ist meine Nichte; trotz der Ohnmacht meiner Kunst hoffe ich, ihr eines Tages den Verstand wiedergeben zu können, indem ich eine Kur anwende, die unglücklicherweise nur den Reichen gestattet ist.« Dann erzählte er, wie alle Personen, die einsam leben und immer wieder an ihrem Schmerze zehren, dem Rat eingehend das nachfolgende Abenteuer, dessen Darstellung hier zusammengefaßt und von zahlreichen Abschweifungen, die der Erzähler und der Rat machten, befreit ist.
»Als er gegen neun Uhr abends die Höhen von Studzianka verließ, die er am 28. November 1812 während des ganzen Tages verteidigt hatte, ließ der Marschall Victor hier etwa tausend Mann zurück mit dem Befehl, bis zum letzten Augenblick diejenige der beiden Brücken über die Beresina zu decken, die noch standhielt. Diese Nachhut hatte sich aufgeopfert, um zu versuchen, eine furchtbare Menge von vor Frost erstarrten Nachzüglern zu retten, die sich hartnäckig weigerten, den Train der Armee im Stich zu lassen. Der Heroismus dieser edelmütigen Truppe sollte vergeblich sein. Die Soldaten, die in Massen den Ufern der Beresina zuströmten, fanden hier unglücklicherweise eine Riesenmenge von Wagen, Kasten und Möbelstücken jeder Art vor, die die Armee genötigt war, im Stiche zu lassen, als sie während des 27. und 28. November ihren Marsch ausführte. Als Erben unerwarteter Reichtümer brachten sich diese von der Kälte erstarrten Unglücklichen in den leeren Zelten unter, zerbrachen das dem Heer gehörige Material, um sich Hütten daraus zu bauen, machten Feuer an mit allem, was ihnen in die Hände fiel, zerlegten die Pferdekörper, um sich zu ernähren, zerrissen das Tuch und den Stoff der Wagen, um sich zu bedecken, und schliefen dann, anstatt ihren Marsch fortzusetzen und in Ruhe während der Nacht die Beresina zu überschreiten, die ein unglaubliches Verhängnis der Armee schon so verderblich gemacht hatte. Die Willenlosigkeit dieser armen Soldaten kann nur von denen begriffen werden, die sich erinnern werden, wie sie diese riesigen Schneewüsten durchwandert haben, ohne anderes Getränk als Schnee, ohne ein anderes Bett als Schnee, ohne einen andern Ausblick als auf einen Horizont von Schnee, ohne eine andere Nahrung als Schnee oder einige erfrorene Rüben und etliche Handvoll Mehl oder Pferdefleisch. Halbtot vor Hunger, Durst, Müdigkeit und Schlafsucht, langten die Unglücklichen an einem Ufer an, wo sie Holz, Feuer, Lebensmittel, unzählige verlassene Fuhrwerke und Zelte vorfanden, kurz eine ganze improvisierte Stadt. Das Dorf Studzianka war völlig zerlegt, verteilt und von den Höhen in die Ebene hinabgebracht worden. Wie kläglich und gefährlich diese Stadt war, ihr Elend und ihr Jammer lachten die Leute an, die nur die schrecklichen Wüsten Rußlands vor sich sahen. Es war nur ein ungeheures Krankenhaus, dem keine zwanzig Stunden Existenz beschieden waren. Die Mattigkeit ihrer Lebenskräfte oder das Gefühl eines unerwarteten Wohlbehagens ließ in dieser Menschenmasse keinen anderen Gedanken aufkommen als den der Ruhe. Obgleich die Artillerie des linken russischen Flügels ohne Unterlaß auf diese Menge schoß, die sich als ein großer, bald dunkler, bald flammender Fleck mitten auf dem Schnee abzeichnete, war der unermüdliche Kugelregen für die erstarrte Masse nur eine Unannehmlichkeit mehr. Es war wie ein Unwetter, dessen Blitze von aller Welt gering geschätzt wurden, weil sie hier oder dort nur auf Sterbende, Kranke oder vielleicht schon Tote trafen. Jeden Augenblick trafen Nachzügler in Gruppen ein. Diese Arten wandelnder Kadaver verteilten sich sogleich und bettelten von Herd zu Herd um einen Platz; dann, meistens zurückgetrieben, vereinigten sie sich von neuem, um mit Gewalt die verweigerte Gastfreundschaft zu erzwingen. Taub gegen die Stimmen etlicher Offiziere, die ihnen den Tod für den nächsten Tag voraussagten, verbrauchten sie das für das Überschreiten des Flusses erforderliche Quantum von Mut, um sich ein Asyl für die Nacht herzustellen und eine häufig verhängnisvolle Mahlzeit zu sich zu nehmen; der Tod, der sie erwartete, schien ihnen kein Unglück mehr zu sein, da er ihnen eine Stunde Schlaf vergönnte. Mit ›Unglück‹ bezeichneten sie nur den Hunger, den Durst, die Kälte. Wenn sie kein Holz, kein Feuer, keine Kleidung, kein Obdach fanden, entspannen sich fürchterliche Kämpfe zwischen denen, die von allem entblößt hinzukamen, und den Reichen, die eine Wohnung besaßen. Die Schwächeren unterlagen dabei. Schließlich trat der Moment ein, wo etliche von den Russen Verjagte nur noch Schnee als Lager hatten und sich darauf niederlegten, um sich nicht wieder zu erheben. Unmerklich schloß sich diese Menge fast lebloser Wesen so fest zusammen, wurde so taub, so stumpf oder vielleicht auch so glückselig, daß der Marschall Victor, ihr heldenmütiger Verteidiger, der zwanzigtausend von Wittgenstein befehligten Russen Widerstand geleistet hatte, genötigt war, sich mit schneller Gewalt einen Weg durch diesen Wald von Menschen zu bahnen, um mit fünftausend Tapferen, die er dem Kaiser zuführte, über die Beresina zu setzen. Diese Unglücklichen ließen sich lieber tottreten als sich zu rühren, und gingen stillschweigend zugrunde, indem sie ihren erloschenen Feuern zulächelten, ohne Frankreichs zu gedenken.
Erst um zehn Uhr abends befand sich der Herzog von Bellune am andern Ufer des Flusses. Bevor er sich auf die Brücken begab, die nach Zembin führten, vertraute er das Schicksal der Nachhut von Studzianka Eblé an, dem Retter aller derer, die das Unglück der Beresina überlebten. Es war ungefähr gegen Mitternacht, als dieser große General in Begleitung eines tapferen Offiziers die kleine Hütte verließ, die er nahe bei der Brücke bewohnte, und sich anschickte, das Schauspiel zu betrachten, welches das Lager zwischen dem Ufer der Beresina und dem Wege von Borizof nach Studzianka bot. Die russische Artillerie hatte aufgehört zu feuern; die unzähligen Feuer inmitten dieser Schneemassen, die herabgebrannt waren und kein Licht mehr zu verbreiten schienen, beleuchteten hier und da Gesichter, die nichts Menschliches mehr an sich hatten. Ungefähr dreißigtausend Unglückliche, zu allen Nationen gehörig, die Napoleon nach Rußland geworfen hatte, waren hier zusammen und kämpften mit brutaler Unbekümmertheit um ihr Leben.
›Retten wir diese alle‹, sagte der General zu dem Offizier. ›Morgen früh werden die Russen Herren von Studzianka sein. Man muß also die Brücke niederbrennen im Augenblick, wo die Russen erscheinen werden; also Mut, mein Freund! Schlage dich durch bis zur Höhe. Sag dem General Fournier, daß er kaum Zeit haben wird, seine Stellung aufzugeben, diese ganze Gesellschaft zu durchbrechen und die Brücke zu passieren. Sobald du siehst, daß er sich in Marsch setzt, wirst du ihm folgen. Mit Hilfe einiger kräftiger Leute wirst du mitleidlos die Lager, die Equipagen, die Kasten, die Wagen, alles niederbrennen! Treibe die ganze Gesellschaft über die Brücke; zwinge alles, was zwei Beine hat, auf das andere Ufer zu flüchten. Das Niederbrennen ist jetzt unsere letzte Rettung. Hätte Berthier mich diese verdammten Equipagen vernichten lassen, würde der Fluß niemanden fortgeschwemmt haben als meine armen Pioniere, die fünfzig Helden, die die armen gerettet haben und die man vergessen wird!‹
Der General führte die Hand an seine Stirn und verweilte schweigend. Er hatte die Empfindung, daß Polen sein Grab sein würde, und daß keine Stimme sich zugunsten dieser edelmütigen Männer erheben würde, die sich im Wasser hielten, im Wasser der Beresina!, um die Brückenpfähle festzumachen. Ein einziger von ihnen lebt, oder korrekter gesagt, leidet heute noch in einem Dorfe, ein Unbekannter! Der Adjutant entfernte sich. Kaum hatte dieser edelmütige Offizier hundert Schritte nach Studzianka hin gemacht, als der General Eblé mehrere seiner leidenden Pioniere aufweckte und sein Rettungswerk begann, indem er die Zelte, die um die Brücke herum errichtet waren, anzündete und so die Schläfer, die ihn umgaben, die Beresina zu überschreiten zwang. Inzwischen war der junge Adjutant nicht ohne Mühe bei dem einzigen Holzhause angelangt, das noch in Studzianka aufrecht stand.
›Ist denn diese Baracke sehr voll, Kamerad?‹ sagte er zu einem Manne, den er draußen bemerkte.
›Wenn Sie hereinkommen, werden Sie ein geschickter alter Soldat sein,‹ erwiderte der Offizier, ohne sich umzuwenden und ohne aufzuhören, mit seinem Säbel das Holz des Hauses zu zerstören.
›Sind Sie es, Philipp?‹ sagte der Adjutant, der am Klange der Stimme einen seiner Freunde erkannte. ›Jawohl. Ach, du bist es, mein Alter!‹ entgegnete Herr de Sucy und betrachtete den Adjutanten, der, wie er, erst dreiundzwanzig Jahre alt war. ›Ich glaubte dich auf der anderen Seite dieses verdammten Flusses. Bringst du uns Kuchen und Konfekt zu unserem Dessert? Du wirst schön empfangen werden,‹ fügte er hinzu, indem er mit dem Losschälen der Holzrinde beschäftigt war, die er nach ländlicher Weise seinem Pferde als Futter reichte. ›Ich suche Ihren Kommandanten, um ihn im Namen des Generals Eblé aufzufordern, nach Zembin zu eilen. Sie werden kaum Zeit haben, durch diese Masse von Kadavern hindurchzukommen, die ich gleich in Brand setzen werde, um ihnen Beine zu machen.‹
›Du machst mir ja förmlich warm! Deine Neuigkeit bringt mich in Schweiß. Ich habe zwei Freunde zu retten! Ach, ohne diese beiden Schützlinge wäre ich schon tot! Ihretwegen sorge ich für mein Pferd und esse selbst nicht mehr. Um Himmelswillen hast du nicht irgendein Stückchen Brot? Es sind jetzt dreißig Stunden her, daß ich nichts in den Magen bekommen habe, und ich habe wie ein Wahnsinniger gekämpft, um mir das bißchen Wärme und Mut zu erhalten, das ich noch besitze.‹
›Armer Philipp! Nichts, nichts. Versuche nicht, hier hineinzukommen! In dieser Scheune liegen unsere Verwundeten. Steige noch höher! Du wirst dann zu deiner Rechten eine Art von Schweinekoben finden: da ist der General! Leb wohl, mein Tapferer. Wenn wir jemals wieder auf einem Pariser Parkett Quadrille tanzen …‹
Er vollendete den Satz nicht: der Sturm wehte in diesem Moment so tückisch, daß der Adjutant losmarschierte, um nicht zu erfrieren, und die Lippen des Majors Philipp erstarrten. Bald herrschte völliges Schweigen. Es wurde nur von Seufzern unterbrochen, die aus dem Hause drangen, und durch das dumpfe Geräusch, das das Pferd des Herrn de Sucy machte, das vor Hunger und Wut die erfrorene Rinde kaute, aus der das Haus erbaut war. Der Major steckte seinen Säbel in die Scheide, nahm das kostbare Tier, das er zu bewahren verstanden hatte, jäh beim Zügel und riß es, trotz seines Widerstandes, von der unheilvollen Nahrung zurück, nach der es so gierig war.
›Vorwärts, Bichette, vorwärts! Du allein kannst Stephanie retten. Warte nur, später, da werden wir uns ausruhen und sicher sterben können.‹
Philipp, in einen Pelz gehüllt, dem er seine Erhaltung und seine Energie verdankte, fing an zu laufen, indem er mit den Füßen scharf auf den gefrorenen Schnee trat, um sich warm zu erhalten. Kaum hatte der Major fünfhundert Schritt gemacht, als er ein tüchtiges Feuer an dem Platze wahrnahm, wo er seit heute morgen seinen Wagen unter der Obhut eines alten Soldaten gelassen hatte. Eine furchtbare Unruhe bemächtigte sich seiner. Wie alle die, welche während dieser Flucht von einer mächtigen Empfindung beherrscht wurden, verspürte er, um seinen Freunden zu helfen, Kräfte in sich, die er zu seiner eigenen Rettung nicht aufgebracht hätte. Bald befand er sich wenige Schritt von einer Terrainfalte entfernt, in der er, vor den Kugeln geborgen, eine junge Frau untergebracht hatte, seine Jugendgefährtin und seinen teuersten Schatz!
Etliche Schritte vom Wagen hatten sich etwa dreißig Nachzügler vor einem riesigen Feuer zusammengefunden, das sie mit hineingeworfenen Brettern, mit den Oberteilen von Kasten, mit Rädern und Wagenwänden unterhielten. Diese Soldaten waren jedenfalls die letzten aller Herbeigekommenen, die von dem Einschnitt zwischen dem Terrain von Studzianka bis zu dem verhängnisvollen Flusse einen Ozean von Köpfen, Feuern und Baracken bildeten, ein lebendes, von fast unmerklichen Wogen bewegtes Meer, aus dem ein dumpfes, manchmal von schrecklichem Lärm unterbrochenes Geräusch empordrang. Von Hunger und Verzweiflung getrieben, hatten diese Unglückseligen sich wahrscheinlich zu dem Wagen hingedrängt. Der alte General und die junge Frau, die hier auf Fetzen, in Mäntel und Pelze gewickelt lagen, waren in diesem Moment vor dem Feuer niedergekniet. Der eine Wagenvorhang war zerrissen. Sobald die um das Feuer gelagerten Männer die Tritte des Pferdes und des Majors hörten, erhoben sie einen Schrei wütenden Hungers.
»Ein Pferd, ein Pferd!«
Alles vereinigte sich zu einem einzigen Ruf.
›Zurück! Nehmen Sie sich in acht!‹ riefen zwei bis drei Soldaten und machten sich an das Pferd.
Philipp stellte sich vor sein Tier und sagte: ›Schufte! Ich stoße euch alle in euer Feuer. Da oben gibt’s genug tote Pferde! Holt sie euch.‹
›Ist das ein Spaßvogel, dieser Offizier! Eins, zwei, willst du dich wehren?‹ entgegnete ein riesiger Grenadier. ›Na, gut, wie du willst!‹
Der Schrei einer Frau lenkte den Schuß ab. Philipp wurde glücklicherweise nicht getroffen; aber Bichette, die zusammengebrochen war, kämpfte mit dem Tode; drei Männer stürzten sich auf sie und gaben ihr mit Bajonettstößen den Rest.
›Kannibalen! Laßt mich wenigstens die Decke und meine Pistolen nehmen,‹ sagte Philipp verzweifelt. ›Die Pistolen, ja‹, erwiderte der Grenadier. ›Aber was die Decke anlangt, da ist ein Infanterist, der seit zwei Tagen ›nichts auf seiner Laterne‹ hat, und der in seinem elenden Jammerrock zittert. Das ist unser General …‹
Philipp schwieg, als er einen Mann sah, dessen Schuhzeug verbraucht, dessen Hose an zehn Stellen durchlöchert war, und der auf dem Kopfe eine schlechte, mit Eis bedeckte Polizeimütze trug. Er beeilte sich, seine Pistolen an sich zu nehmen. Fünf Männer zogen das Tier vor das Feuer und begannen, es mit solcher Geschicklichkeit zu zerlegen, wie es Fleischergesellen in Paris hätten machen können. Mit bewunderungswürdiger Kunst wurden die Stücke abgelöst und auf Kohlen gelegt. Der Major stellte sich neben die Frau, die einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen hatte, als sie ihn wiedererkannte; er sah sie unbeweglich auf einem Wagenkissen sitzend und sich wärmend; sie betrachtete ihn stillschweigend, ohne ihm zuzulächeln. Philipp sah jetzt neben ihr den Soldaten, dem er die Verteidigung des Wagens anvertraut hatte; der arme Mensch war verwundet worden. Überwältigt von der Menge, war er eben den Nachzüglern gewichen, die ihn angegriffen hatten; aber wie ein Hund, der bis zum letzten Augenblick das Essen seines Herrn verteidigt hat, hatte er sich seinen Teil an der Beute genommen und sich aus einem weißen Tuch eine Art Mantel gemacht. Jetzt war er damit beschäftigt, ein Stück Pferdefleisch umzudrehen, und der Major nahm auf seinem Gesichte die Freude wahr, die ihm die Zurüstungen zu dem Festessen verursachten. Der Graf von Vandières, seit drei Tagen in eine Art kindischen Zustandes verfallen, blieb auf seinem Kissen neben seiner Frau sitzen und betrachtete mit unbeweglichen Augen die Flammen, deren Wärme anfing, seine Erstarrung zu mildern. Er war von der Gefahr und der Ankunft Philipps nicht mehr erregt worden, als von dem Kampf, bei dem sein Wagen geplündert worden war. Sucy ergriff zuerst die Hand der jungen Gräfin, um ihr ein Zeichen seiner Hingabe auszudrücken und ihr den Schmerz darüber kundzugeben, daß sie so ins letzte Elend geraten war; aber er blieb stumm neben ihr auf einem Schneehaufen, der sich in Wasser auflöste, sitzen und gab selbst dem Wohlgefühl, sich zu erwärmen, nach, die Gefahr und alles andere vergessend. Sein Gesicht nahm gegen seine Absicht einen beinahe stumpfsinnigen Ausdruck von Freude an, und er wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo das seinen Soldaten gegebene Stück Pferdefleisch gebraten war. Der Geruch dieses verkohlten Fleisches reizte seinen Hunger, und sein Hunger ließ sein Herzensempfinden, seinen Mut und seine Liebe schweigen. Ohne Zorn betrachtete er die Ergebnisse der Plünderung seines Wagens. Alle Leute, die das Feuer umgaben, hatten sich in die Decken, die Kissen, die Pelze, die männlichen und weiblichen Kleidungsstücke des Grafen und der Gräfin geteilt. Philipp wandte sich um, weil er sehen wollte, ob man noch Nutzen aus seiner Kasse ziehen konnte. Beim Lichte der Flammen bemerkte er Gold, Diamanten und Silberzeug zerstreut, ohne daß jemand daran dachte, sich auch nur das geringste Stück davon anzueignen. Jedes der Individuen, die der Zufall um das Feuer zusammengebracht hatte, bewahrte ein Stillschweigen, das etwas Fürchterliches an sich hatte, und tat nichts weiter, als was er für sein Wohlbefinden für notwendig erachtete. Dieses Elend hatte etwas Groteskes. Die von der Kälte veränderten Gesichter waren mit einem Überzug von Schmutz bedeckt, auf dem sich die Tränenspuren von den Augen bis zum unteren Teil der Wangen mit einer Furche abzeichneten, die die Dicke dieser Kruste anzeigte. Die Unsauberkeit ihrer langen Bärte machte die Soldaten noch abscheulicher. Die einen waren in Weiberschals gewickelt; die anderen trugen Pferdeschabracken, schmutzige Decken und Lumpen, bedeckt mit Reif, der anfing zu zerschmelzen; einige hatten einen Fuß in einem Schuh, den andern in einem Stiefel; schließlich gab es niemanden, dessen Kleidung nicht irgendeine lächerliche Besonderheit aufwies. Inmitten dieser komischen Umhüllung verharrten die Männer ernst und düster. Das Schweigen wurde nur von dem Krachen des Holzes unterbrochen, von dem Flackern der Flamme, von dem fernen Geräusch des Feldes und von den Säbelhieben, die die Verhungertsten Bichette versetzten, um die besten Stücke davon abzureißen. Einige Unglückliche, matter als die andern, schliefen bereits, und wenn einer von ihnen ins Feuer rollte, zog ihn niemand zurück. Diese strengen Logiker dachten, daß, wenn er nicht tot war, das Verbrennen ihn schon veranlassen würde, sich an einen geeigneteren Ort hinzulegen. Wenn aber der Unglückliche im Feuer erwachte und umkam, so beklagte ihn niemand. Etliche Soldaten sahen einander an, wie um ihre eigene Unbekümmertheit durch die Gleichgültigkeit der anderen gerechtfertigt zu sehen. Die junge Gräfin hatte zweimal einen solchen Anblick und blieb stumm. Als die verschiedenen Stücke, die man auf die Kohlen gelegt hatte, gebraten waren, stillte jeder seinen Hunger mit der Freßgier, die uns bei den Tieren so widerwärtig erscheint.