Читать книгу: «Honoré de Balzac – Gesammelte Werke», страница 2

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Die Fra­gen be­gan­nen von neu­em. Aber wie ein ei­gen­wil­li­ges Kind wur­de die Bäue­rin rot, spiel­te mit ih­rem Pan­tof­fel, dreh­te an dem Strick der Kuh, die wie­der ab­zu­wei­den be­gon­nen hat­te, sah sich die bei­den Jä­ger an und prüf­te alle Tei­le ih­res An­zugs; sie kreisch­te, sie knurr­te, sie glucks­te, aber sie brach­te kein Wort her­aus.

»Wie heißt du?« sag­te Phil­ipp und sah sie fest an, als woll­te er sie hyp­no­ti­sie­ren.

»Ge­no­ve­fa«, sag­te sie mit ei­nem dum­men La­chen.

»Bis jetzt ist die Kuh die in­tel­li­gen­tes­te Krea­tur, die wir hier ge­se­hen ha­ben«, rief der Rat. »Ich wer­de einen Schuß ab­feu­ern, da­mit Leu­te kom­men.«

Gera­de als d’Al­bon sei­ne Waf­fe er­griff, hielt ihn der Oberst mit ei­ner Ges­te zu­rück und zeig­te mit dem Fin­ger auf die Un­be­kann­te, die ihre Neu­gier­de so leb­haft er­regt hat­te. Die Frau schi­en in tie­fes Nach­den­ken ver­sun­ken und kam mit lang­sa­men Schrit­ten aus ei­ner ziem­lich ent­fern­ten Al­lee, so daß die bei­den Freun­de Zeit hat­ten, sie ge­nau zu be­trach­ten. Sie war mit ei­nem ganz ab­ge­tra­ge­nen schwar­zen Sei­den­rock be­klei­det. Ihre lan­gen Haa­re fie­len in zahl­rei­chen Wel­len über ihre Stirn, um ihre Schul­tern und reich­ten bis un­ter ihre Tail­le hin­ab, in­dem sie ihr als Schal dienten. An die­se Un­ord­nung of­fen­bar ge­wöhnt, schob sie nur sel­ten ihr Haar von bei­den Schlä­fen hin­weg; dann aber schüt­tel­te sie das Haupt mit jä­her Be­we­gung und brauch­te sich nicht zwei­mal zu be­mü­hen, um ihre Stirn oder ihre Au­gen von dem di­cken Schlei­er zu be­frei­en. Ihre Ges­te zeig­te üb­ri­gens wie bei ei­nem Tier die be­wun­de­rungs­wür­di­ge me­cha­ni­sche Si­cher­heit, de­ren Schnel­lig­keit bei ei­ner Frau wie ein Wun­der er­schei­nen muß­te. Die bei­den Jä­ger sa­hen sie er­staunt auf einen Ast des Ap­fel­baums sprin­gen und sich hier mit der Leich­tig­keit ei­nes Vo­gels fest­hal­ten. Sie griff nach den Früch­ten, ver­speis­te sie, dann ließ sie sich mit zier­li­cher Läs­sig­keit, wie man sie an den Eich­hörn­chen be­wun­dert, zur Erde fal­len. Ihre Glie­der be­sa­ßen eine Elas­ti­zi­tät, die ih­ren ge­rings­ten Be­we­gun­gen je­den An­schein von Mühe oder An­stren­gung nahm. Sie spiel­te auf dem Ra­sen, ku­gel­te sich dort wie ein Kind her­um; dann streck­te sie plötz­lich ihre Füße und Hän­de aus und blieb aus­ge­brei­tet auf der Wie­se mit der Un­be­küm­mert­heit, der Gra­zie und der Na­tür­lich­keit ei­ner jun­gen Kat­ze lie­gen, die in der Son­ne ein­ge­schla­fen ist. Als der Don­ner in der Fer­ne groll­te, wand­te sie sich plötz­lich und stell­te sich mit be­wun­derns­wer­ter Ge­schick­lich­keit auf alle vie­re wie ein Hund, der einen Frem­den kom­men hört. Durch die­se merk­wür­di­ge Hal­tung schied sich ihr schwar­zes Haar so­gleich in zwei brei­te Flech­ten zu je­der Sei­te ih­res Kop­fes und er­laub­te den bei­den Zuschau­ern bei die­ser selt­sa­men Sze­ne ihre Schul­tern zu be­wun­dern, de­ren wei­ße Haut wie die Gän­se­blüm­chen auf der Wie­se leuch­te­ten, und einen Hals, des­sen Voll­kom­men­heit auf all das üb­ri­ge Eben­maß ih­res Kör­pers schlie­ßen ließ.

Sie ließ einen Schmer­zens­schrei hö­ren und stell­te sich ganz auf ihre Füße. Ihre Be­we­gun­gen folg­ten ein­an­der so gra­zi­ös und wur­den so leicht aus­ge­führt, daß sie kein mensch­li­ches We­sen, son­dern eine der durch die Dich­tun­gen Os­sians be­rühmt ge­wor­de­nen Töch­ter der Luft zu sein schi­en. Sie ging an eine der Was­ser­flä­chen her­an, schüt­tel­te leicht ein Bein, um ih­ren Schuh los­zu­ma­chen, und schi­en ein Ver­gnü­gen dar­an zu fin­den, ih­ren ala­bas­ter­wei­ßen Fuß in die Quel­le zu tau­chen, wäh­rend sie sich je­den­falls an den Wel­len­be­we­gun­gen er­götz­te, die sie da­bei er­zeug­te und die Edel­stei­nen gli­chen. Dann knie­te sie an dem Ran­de des Bass­ins nie­der und amü­sier­te sich wie ein Kind da­mit, ihre lan­gen Flech­ten ins Was­ser zu tau­chen und sie dann schnell wie­der her­aus­zu­zie­hen, um Trop­fen für Trop­fen das Was­ser, von de­nen es voll war, hin­a­b­lau­fen zu las­sen, das, von den Son­nen­strah­len durch­leuch­tet, einen förm­li­chen Ro­sen­kranz von Per­len bil­de­te.

»Das Weib ist irr­sin­nig!« rief der Rat aus.

Ein rau­her Schrei, den Ge­no­ve­fa aus­stieß, wur­de laut und schi­en sich an die Un­be­kann­te zu rich­ten, die sich schnell um­wand­te und ihr Haar von bei­den Sei­ten ih­res Ge­sich­tes wegstrich. In die­sem Mo­ment konn­ten der Oberst und d’Al­bon deut­lich die Züge der Frau er­ken­nen, die, als sie die bei­den Freun­de be­merk­te, in meh­re­ren Sprün­gen mit der Leich­tig­keit ei­ner Hirsch­kuh auf das Git­ter zu­eil­te. »Adieu!« sag­te sie mit sanf­ter, wohl­klin­gen­der Stim­me, aber ohne daß die­ser, un­ge­dul­dig von den Jä­gern er­war­te­te me­lo­di­öse Ton das ge­rings­te Emp­fin­den oder das ge­rings­te Den­ken ver­riet.

Herr d’Al­bon be­wun­der­te die lan­gen Wim­pern ih­rer Au­gen, ihre schwar­zen dich­ten Au­gen­brau­en und ihre blen­dend wei­ße Haut ohne den ge­rings­ten Schim­mer von Röte. Fei­ne blaue Adern durch­zo­gen al­lein ih­ren wei­ßen Teint. Als der Rat sich um­wand­te, um sei­nem Freun­de mit­zu­tei­len, wel­ches Er­stau­nen ihm der An­blick die­ses selt­sa­men Wei­bes ein­ge­flö­ßt hat­te, sah er die­sen wie tot auf dem Gra­se lie­gen. Herr d’Al­bon schoß sein Ge­wehr in die Luft ab, um Leu­te her­bei­zu­ru­fen und schrie: »Zu Hil­fe!« wäh­rend er ver­such­te, den Obers­ten auf­zu­rich­ten. Bei dem Knall des Schus­ses floh die Un­be­kann­te, die bis da­hin un­be­weg­lich ver­harrt hat­te, pfeil­schnell da­von, stieß Schre­ckens­schreie wie ein ver­wun­de­tes Tier aus und rann­te über die Wie­se mit al­len Zei­chen tiefs­ten Schre­ckens. Herr d’Al­bon ver­nahm das Her­an­rol­len ei­ner Ka­le­sche auf der Land­stra­ße von Ile-Adam und rief den Bei­stand der Spa­zie­ren­fah­ren­den durch Win­ken mit sei­nem Ta­schen­tuch her­bei. So­gleich lenk­te der Wa­gen nach Bons-Hom­mes ein, und d’Al­bon er­kann­te Herrn und Frau von Grand­ville, sei­ne Nach­barn, die sich be­eil­ten, aus ih­rem Wa­gen zu stei­gen und ihn dem Rat an­zu­bie­ten. Frau von Grand­ville hat­te zu­fäl­li­ger­wei­se ein Fla­kon mit äthe­ri­schem Salz bei sich, das man Herrn de Sucy ein­at­men ließ. Als der Oberst die Au­gen wie­der öff­ne­te, wand­te er sie der Wie­se zu, auf der die Un­be­kann­te nicht auf­hör­te zu ren­nen und zu schrei­en, und stieß einen un­deut­li­chen Ruf aus, der aber doch eine Emp­fin­dung von Schre­cken ver­riet; dann schloß er von neu­em die Au­gen und mach­te eine Be­we­gung, als wol­le er sei­nen Freund bit­ten, ihn die­sem Schau­spiel zu ent­rei­ßen. Herr und Frau von Grand­ville über­lie­ßen dem Rat die freie Ver­fü­gung über ih­ren Wa­gen, in­dem sie ihm ent­ge­gen­kom­men­der­wei­se er­klär­ten, daß sie ihre Pro­me­na­de zu Fuß fort­set­zen woll­ten.

»Wer ist denn die­se Dame?« frag­te der Rat und zeig­te auf die Un­be­kann­te.

»Man ver­mu­tet, daß sie aus Mou­lins kommt«, ant­wor­te­te Herr von Grand­ville. »Sie nennt sich Grä­fin von Van­dières. Man sagt, sie sei irr­sin­nig; aber da sie sich erst seit zwei Mo­na­ten hier auf­hält, kann ich Ih­nen nicht da­für ein­ste­hen, in­wie­weit alle die­se Gerüch­te auf Wahr­heit be­ru­hen.«

Herr d’Al­bon dank­te Herrn und Frau de Grand­ville und fuhr nach Cassan.

»Sie ist es!« rief Phil­ipp, als er wie­der zum Be­wußt­sein ge­kom­men war.

»Wer, sie?« frag­te d’Al­bon.

»Ste­pha­nie. Ach, tot oder le­bend, le­ben­dig oder irr­sin­nig! Ich glaub­te, ich müs­se ster­ben.«

Der vor­sich­ti­ge Rat, der die schwe­re Kri­sis be­griff, in die sein Freund ganz ver­fal­len war, hü­te­te sich wohl, ihn aus­zu­fra­gen oder auf­zu­re­gen; es ver­lang­te ihn un­ge­dul­dig da­nach, ins Schloß zu ge­lan­gen, denn die Ver­än­de­rung, die in den Zü­gen und in der gan­zen Per­sön­lich­keit des Obers­ten sich gel­tend mach­te, ließ ihn be­fürch­ten, daß die Grä­fin Phil­ipp mit ih­rer schreck­li­chen Krank­heit an­ge­steckt habe.

So­bald der Wa­gen die Ein­fahrt nach Ile-Adam er­reicht hat­te, schick­te d’Al­bon den Die­ner zum Arz­te des Fle­ckens; das ge­sch­ah so, daß der Dok­tor sich schon an sei­nem La­ger be­fand, als der Oberst zu Bett ge­bracht wur­de.

»Wäre der Herr Oberst nicht fast nüch­tern ge­we­sen,« sag­te der Chir­urg, »so wäre er ge­stor­ben. Sei­ne Mat­tig­keit hat ihn ge­ret­tet.«

Nach­dem er die ers­ten Vor­sichts­maß­re­geln an­ge­ord­net hat­te, ent­fern­te sich der Dok­tor, um selbst einen be­ru­hi­gen­den Trank zu be­rei­ten. Am an­dern Mor­gen be­fand sich Herr de Sucy bes­ser, aber der Arzt wünsch­te sel­ber, bei ihm zu blei­ben.

»Ich muß Ih­nen ge­ste­hen, Herr Mar­quis,« sag­te der Dok­tor zu Herrn d’Al­bon, »daß ich an eine Ver­let­zung des Ge­hirns ge­glaubt habe. Herr de Sucy ist das Op­fer ei­ner sehr hef­ti­gen Er­re­gung ge­wor­den: sei­ne Lei­den­schaft­lich­keit ist schnell ent­flammt; aber bei ihm ent­schei­det sich al­les auf den ers­ten Schlag. Mor­gen wird er viel­leicht schon au­ßer Ge­fahr sein.«

Der Arzt hat­te sich nicht ge­täuscht; am an­dern Mor­gen er­laub­te er dem Rat, sei­nen Freund wie­der­zu­se­hen.

»Mein lie­ber d’Al­bon,« sag­te Phil­ipp und drück­te ihm die Hand, »ich er­war­te einen Dienst von dir! Eile schnell nach Bons-Hom­mes! Er­kun­di­ge dich nach al­lem, was die Dame be­trifft, die wir ge­se­hen ha­ben, und komm schnell zu­rück, denn ich zäh­le die Mi­nu­ten.«

Herr d’Al­bon sprang auf ein Pferd und ga­lop­pier­te nach der al­ten Ab­tei. Als er an­kam, be­merk­te er vor dem Git­ter einen großen ha­ge­ren Mann mit ein­neh­men­dem Ge­sicht, der be­ja­hend ant­wor­te­te, als der Rat ihn frag­te, ob er die­ses zer­stör­te Haus be­woh­ne. Herr d’Al­bon teil­te ihm den Grund sei­nes Be­su­ches mit.

»Wie, mein Herr,« rief der Un­be­kann­te, »soll­ten Sie es ge­we­sen sein, der den ver­häng­nis­vol­len Flin­ten­schuß hat los­ge­hen las­sen? Sie hät­ten bei­na­he mei­ne arme Kran­ke ge­tö­tet.«

»Oh, mein Herr, ich habe in die Luft ge­schos­sen.«

»Sie hät­ten der Frau Grä­fin we­ni­ger Leid an­ge­tan, wenn Sie sie ge­trof­fen hät­ten.«

»Nun, wir ha­ben uns nichts vor­zu­wer­fen; denn der An­blick Ih­rer Grä­fin hat mei­nen Freund, Herrn de Sucy, bei­na­he ge­tö­tet.«

»Soll­te das der Baron Phil­ipp de Sucy sein?« rief der Un­be­kann­te und preß­te die Hän­de zu­sam­men. »War er in Ruß­land bei dem Über­gang über die Be­re­si­na?«

»Ja­wohl,« er­wi­der­te d’Al­bon; »er wur­de von den Ko­sa­ken ge­fan­gen und nach Si­bi­ri­en ge­bracht, von wo er erst vor etwa elf Mo­na­ten zu­rück­ge­kehrt ist.«

»Kom­men Sie her­ein, mein Herr«, sag­te der Un­be­kann­te und führ­te den Rat in einen im Erd­ge­schoß der Woh­nung be­le­ge­nen Sa­lon, wo al­les die Zei­chen ei­ner lau­nen­haf­ten Zer­stö­rung zeig­te.

Kost­ba­re Por­zel­lan­va­sen stan­den zer­bro­chen ne­ben ei­ner Ka­min­uhr, de­ren Ge­häu­se un­be­rührt war. Die sei­de­nen, an den Fens­tern an­ge­brach­ten Vor­hän­ge wa­ren zer­ris­sen, wäh­rend der dop­pel­te Mus­selin­vor­hang un­be­rührt war.

»Sie se­hen«, sag­te er beim Ein­tre­ten zu Herrn d’Al­bon, »die Zer­stö­run­gen, die das ent­zücken­de We­sen, dem ich mich ge­wid­met habe, ver­übt hat. Sie ist mei­ne Nich­te; trotz der Ohn­macht mei­ner Kunst hof­fe ich, ihr ei­nes Ta­ges den Ver­stand wie­der­ge­ben zu kön­nen, in­dem ich eine Kur an­wen­de, die un­glück­li­cher­wei­se nur den Rei­chen ge­stat­tet ist.« Dann er­zähl­te er, wie alle Per­so­nen, die ein­sam le­ben und im­mer wie­der an ih­rem Schmer­ze zeh­ren, dem Rat ein­ge­hend das nach­fol­gen­de Aben­teu­er, des­sen Dar­stel­lung hier zu­sam­men­ge­faßt und von zahl­rei­chen Ab­schwei­fun­gen, die der Er­zäh­ler und der Rat mach­ten, be­freit ist.

»Als er ge­gen neun Uhr abends die Hö­hen von Stud­zi­an­ka ver­ließ, die er am 28. No­vem­ber 1812 wäh­rend des gan­zen Ta­ges ver­tei­digt hat­te, ließ der Mar­schall Vic­tor hier etwa tau­send Mann zu­rück mit dem Be­fehl, bis zum letz­ten Au­gen­blick die­je­ni­ge der bei­den Brücken über die Be­re­si­na zu de­cken, die noch stand­hielt. Die­se Nach­hut hat­te sich auf­ge­op­fert, um zu ver­su­chen, eine furcht­ba­re Men­ge von vor Frost er­starr­ten Nach­züg­lern zu ret­ten, die sich hart­nä­ckig wei­ger­ten, den Train der Ar­mee im Stich zu las­sen. Der He­ro­is­mus die­ser edel­mü­ti­gen Trup­pe soll­te ver­geb­lich sein. Die Sol­da­ten, die in Mas­sen den Ufern der Be­re­si­na zu­ström­ten, fan­den hier un­glück­li­cher­wei­se eine Rie­sen­men­ge von Wa­gen, Kas­ten und Mö­bel­stücken je­der Art vor, die die Ar­mee ge­nö­tigt war, im Sti­che zu las­sen, als sie wäh­rend des 27. und 28. No­vem­ber ih­ren Marsch aus­führ­te. Als Er­ben un­er­war­te­ter Reich­tü­mer brach­ten sich die­se von der Käl­te er­starr­ten Un­glück­li­chen in den lee­ren Zel­ten un­ter, zer­bra­chen das dem Heer ge­hö­ri­ge Ma­te­ri­al, um sich Hüt­ten dar­aus zu bau­en, mach­ten Feu­er an mit al­lem, was ih­nen in die Hän­de fiel, zer­leg­ten die Pfer­de­kör­per, um sich zu er­näh­ren, zer­ris­sen das Tuch und den Stoff der Wa­gen, um sich zu be­de­cken, und schlie­fen dann, an­statt ih­ren Marsch fort­zu­set­zen und in Ruhe wäh­rend der Nacht die Be­re­si­na zu über­schrei­ten, die ein un­glaub­li­ches Ver­häng­nis der Ar­mee schon so ver­derb­lich ge­macht hat­te. Die Wil­len­lo­sig­keit die­ser ar­men Sol­da­ten kann nur von de­nen be­grif­fen wer­den, die sich er­in­nern wer­den, wie sie die­se rie­si­gen Schnee­wüs­ten durch­wan­dert ha­ben, ohne an­de­res Ge­tränk als Schnee, ohne ein an­de­res Bett als Schnee, ohne einen an­dern Aus­blick als auf einen Ho­ri­zont von Schnee, ohne eine an­de­re Nah­rung als Schnee oder ei­ni­ge er­fro­re­ne Rü­ben und et­li­che Hand­voll Mehl oder Pfer­de­fleisch. Halb­tot vor Hun­ger, Durst, Mü­dig­keit und Schlaf­sucht, lang­ten die Un­glück­li­chen an ei­nem Ufer an, wo sie Holz, Feu­er, Le­bens­mit­tel, un­zäh­li­ge ver­las­se­ne Fuhr­wer­ke und Zel­te vor­fan­den, kurz eine gan­ze im­pro­vi­sier­te Stadt. Das Dorf Stud­zi­an­ka war völ­lig zer­legt, ver­teilt und von den Hö­hen in die Ebe­ne hin­ab­ge­bracht wor­den. Wie kläg­lich und ge­fähr­lich die­se Stadt war, ihr Elend und ihr Jam­mer lach­ten die Leu­te an, die nur die schreck­li­chen Wüs­ten Ruß­lands vor sich sa­hen. Es war nur ein un­ge­heu­res Kran­ken­haus, dem kei­ne zwan­zig Stun­den Exis­tenz be­schie­den wa­ren. Die Mat­tig­keit ih­rer Le­bens­kräf­te oder das Ge­fühl ei­nes un­er­war­te­ten Wohl­be­ha­gens ließ in die­ser Men­schen­mas­se kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken auf­kom­men als den der Ruhe. Ob­gleich die Ar­til­le­rie des lin­ken rus­si­schen Flü­gels ohne Un­ter­laß auf die­se Men­ge schoß, die sich als ein großer, bald dunk­ler, bald flam­men­der Fleck mit­ten auf dem Schnee ab­zeich­ne­te, war der un­er­müd­li­che Ku­gel­re­gen für die er­starr­te Mas­se nur eine Unan­nehm­lich­keit mehr. Es war wie ein Un­wet­ter, des­sen Blit­ze von al­ler Welt ge­ring ge­schätzt wur­den, weil sie hier oder dort nur auf Ster­ben­de, Kran­ke oder viel­leicht schon Tote tra­fen. Je­den Au­gen­blick tra­fen Nach­züg­ler in Grup­pen ein. Die­se Ar­ten wan­deln­der Ka­da­ver ver­teil­ten sich so­gleich und bet­tel­ten von Herd zu Herd um einen Platz; dann, meis­tens zu­rück­ge­trie­ben, ver­ei­nig­ten sie sich von neu­em, um mit Ge­walt die ver­wei­ger­te Gast­freund­schaft zu er­zwin­gen. Taub ge­gen die Stim­men et­li­cher Of­fi­zie­re, die ih­nen den Tod für den nächs­ten Tag vor­aus­sag­ten, ver­brauch­ten sie das für das Über­schrei­ten des Flus­ses er­for­der­li­che Quan­tum von Mut, um sich ein Asyl für die Nacht her­zu­stel­len und eine häu­fig ver­häng­nis­vol­le Mahl­zeit zu sich zu neh­men; der Tod, der sie er­war­te­te, schi­en ih­nen kein Un­glück mehr zu sein, da er ih­nen eine Stun­de Schlaf ver­gönn­te. Mit ›Un­glück‹ be­zeich­ne­ten sie nur den Hun­ger, den Durst, die Käl­te. Wenn sie kein Holz, kein Feu­er, kei­ne Klei­dung, kein Ob­dach fan­den, ent­span­nen sich fürch­ter­li­che Kämp­fe zwi­schen de­nen, die von al­lem ent­blö­ßt hin­zu­ka­men, und den Rei­chen, die eine Woh­nung be­sa­ßen. Die Schwä­che­ren un­ter­la­gen da­bei. Schließ­lich trat der Mo­ment ein, wo et­li­che von den Rus­sen Ver­jag­te nur noch Schnee als La­ger hat­ten und sich dar­auf nie­der­leg­ten, um sich nicht wie­der zu er­he­ben. Un­merk­lich schloß sich die­se Men­ge fast leb­lo­ser We­sen so fest zu­sam­men, wur­de so taub, so stumpf oder viel­leicht auch so glück­se­lig, daß der Mar­schall Vic­tor, ihr hel­den­mü­ti­ger Ver­tei­di­ger, der zwan­zig­tau­send von Witt­gen­stein be­feh­lig­ten Rus­sen Wi­der­stand ge­leis­tet hat­te, ge­nö­tigt war, sich mit schnel­ler Ge­walt einen Weg durch die­sen Wald von Men­schen zu bah­nen, um mit fünf­tau­send Tap­fe­ren, die er dem Kai­ser zu­führ­te, über die Be­re­si­na zu set­zen. Die­se Un­glück­li­chen lie­ßen sich lie­ber tottre­ten als sich zu rüh­ren, und gin­gen still­schwei­gend zu­grun­de, in­dem sie ih­ren er­lo­sche­nen Feu­ern zu­lä­chel­ten, ohne Frank­reichs zu ge­den­ken.

Erst um zehn Uhr abends be­fand sich der Her­zog von Bel­lu­ne am an­dern Ufer des Flus­ses. Be­vor er sich auf die Brücken be­gab, die nach Zem­bin führ­ten, ver­trau­te er das Schick­sal der Nach­hut von Stud­zi­an­ka Eblé an, dem Ret­ter al­ler de­rer, die das Un­glück der Be­re­si­na über­leb­ten. Es war un­ge­fähr ge­gen Mit­ter­nacht, als die­ser große Ge­ne­ral in Beglei­tung ei­nes tap­fe­ren Of­fi­ziers die klei­ne Hüt­te ver­ließ, die er nahe bei der Brücke be­wohn­te, und sich an­schick­te, das Schau­spiel zu be­trach­ten, wel­ches das La­ger zwi­schen dem Ufer der Be­re­si­na und dem Wege von Bo­ri­zof nach Stud­zi­an­ka bot. Die rus­si­sche Ar­til­le­rie hat­te auf­ge­hört zu feu­ern; die un­zäh­li­gen Feu­er in­mit­ten die­ser Schnee­mas­sen, die her­ab­ge­brannt wa­ren und kein Licht mehr zu ver­brei­ten schie­nen, be­leuch­te­ten hier und da Ge­sich­ter, die nichts Men­sch­li­ches mehr an sich hat­ten. Un­ge­fähr drei­ßig­tau­send Un­glück­li­che, zu al­len Na­tio­nen ge­hö­rig, die Na­po­le­on nach Ruß­land ge­wor­fen hat­te, wa­ren hier zu­sam­men und kämpf­ten mit bru­ta­ler Un­be­küm­mert­heit um ihr Le­ben.

›Ret­ten wir die­se al­le‹, sag­te der Ge­ne­ral zu dem Of­fi­zier. ›Mor­gen früh wer­den die Rus­sen Her­ren von Stud­zi­an­ka sein. Man muß also die Brücke nie­der­bren­nen im Au­gen­blick, wo die Rus­sen er­schei­nen wer­den; also Mut, mein Freund! Schla­ge dich durch bis zur Höhe. Sag dem Ge­ne­ral Four­nier, daß er kaum Zeit ha­ben wird, sei­ne Stel­lung auf­zu­ge­ben, die­se gan­ze Ge­sell­schaft zu durch­bre­chen und die Brücke zu pas­sie­ren. So­bald du siehst, daß er sich in Marsch setzt, wirst du ihm fol­gen. Mit Hil­fe ei­ni­ger kräf­ti­ger Leu­te wirst du mit­leid­los die La­ger, die Equi­pa­gen, die Kas­ten, die Wa­gen, al­les nie­der­bren­nen! Trei­be die gan­ze Ge­sell­schaft über die Brücke; zwin­ge al­les, was zwei Bei­ne hat, auf das an­de­re Ufer zu flüch­ten. Das Nie­der­bren­nen ist jetzt un­se­re letz­te Ret­tung. Hät­te Bert­hier mich die­se ver­damm­ten Equi­pa­gen ver­nich­ten las­sen, wür­de der Fluß nie­man­den fort­ge­schwemmt ha­ben als mei­ne ar­men Pio­nie­re, die fünf­zig Hel­den, die die ar­men ge­ret­tet ha­ben und die man ver­ges­sen wird!‹

Der Ge­ne­ral führ­te die Hand an sei­ne Stirn und ver­weil­te schwei­gend. Er hat­te die Emp­fin­dung, daß Po­len sein Grab sein wür­de, und daß kei­ne Stim­me sich zu­guns­ten die­ser edel­mü­ti­gen Män­ner er­he­ben wür­de, die sich im Was­ser hiel­ten, im Was­ser der Be­re­si­na!, um die Brücken­pfäh­le festz­u­ma­chen. Ein ein­zi­ger von ih­nen lebt, oder kor­rek­ter ge­sagt, lei­det heu­te noch in ei­nem Dor­fe, ein Un­be­kann­ter! Der Ad­ju­tant ent­fern­te sich. Kaum hat­te die­ser edel­mü­ti­ge Of­fi­zier hun­dert Schrit­te nach Stud­zi­an­ka hin ge­macht, als der Ge­ne­ral Eblé meh­re­re sei­ner lei­den­den Pio­nie­re auf­weck­te und sein Ret­tungs­werk be­gann, in­dem er die Zel­te, die um die Brücke her­um er­rich­tet wa­ren, an­zün­de­te und so die Schlä­fer, die ihn um­ga­ben, die Be­re­si­na zu über­schrei­ten zwang. In­zwi­schen war der jun­ge Ad­ju­tant nicht ohne Mühe bei dem ein­zi­gen Holz­hau­se an­ge­langt, das noch in Stud­zi­an­ka auf­recht stand.

›Ist denn die­se Ba­ra­cke sehr voll, Ka­me­rad?‹ sag­te er zu ei­nem Man­ne, den er drau­ßen be­merk­te.

›Wenn Sie her­ein­kom­men, wer­den Sie ein ge­schick­ter al­ter Sol­dat sein,‹ er­wi­der­te der Of­fi­zier, ohne sich um­zu­wen­den und ohne auf­zu­hö­ren, mit sei­nem Sä­bel das Holz des Hau­ses zu zer­stö­ren.

›Sind Sie es, Phil­ipp?‹ sag­te der Ad­ju­tant, der am Klan­ge der Stim­me einen sei­ner Freun­de er­kann­te. ›Ja­wohl. Ach, du bist es, mein Al­ter!‹ ent­geg­ne­te Herr de Sucy und be­trach­te­te den Ad­ju­tan­ten, der, wie er, erst drei­und­zwan­zig Jah­re alt war. ›Ich glaub­te dich auf der an­de­ren Sei­te die­ses ver­damm­ten Flus­ses. Bringst du uns Ku­chen und Kon­fekt zu un­se­rem Des­sert? Du wirst schön emp­fan­gen wer­den,‹ füg­te er hin­zu, in­dem er mit dem Los­schä­len der Holz­rin­de be­schäf­tigt war, die er nach länd­li­cher Wei­se sei­nem Pfer­de als Fut­ter reich­te. ›Ich su­che Ihren Kom­man­dan­ten, um ihn im Na­men des Ge­ne­rals Eblé auf­zu­for­dern, nach Zem­bin zu ei­len. Sie wer­den kaum Zeit ha­ben, durch die­se Mas­se von Ka­da­vern hin­durch­zu­kom­men, die ich gleich in Brand set­zen wer­de, um ih­nen Bei­ne zu ma­chen.‹

›Du machst mir ja förm­lich warm! Dei­ne Neu­ig­keit bringt mich in Schweiß. Ich habe zwei Freun­de zu ret­ten! Ach, ohne die­se bei­den Schütz­lin­ge wäre ich schon tot! Ihret­we­gen sor­ge ich für mein Pferd und esse selbst nicht mehr. Um Him­mels­wil­len hast du nicht ir­gend­ein Stück­chen Brot? Es sind jetzt drei­ßig Stun­den her, daß ich nichts in den Ma­gen be­kom­men habe, und ich habe wie ein Wahn­sin­ni­ger ge­kämpft, um mir das biß­chen Wär­me und Mut zu er­hal­ten, das ich noch be­sit­ze.‹

›Ar­mer Phil­ipp! Nichts, nichts. Ver­su­che nicht, hier hin­ein­zu­kom­men! In die­ser Scheu­ne lie­gen un­se­re Ver­wun­de­ten. Stei­ge noch hö­her! Du wirst dann zu dei­ner Rech­ten eine Art von Schwei­ne­ko­ben fin­den: da ist der Ge­ne­ral! Leb wohl, mein Tap­fe­rer. Wenn wir je­mals wie­der auf ei­nem Pa­ri­ser Par­kett Qua­dril­le tan­zen …‹

Er vollen­de­te den Satz nicht: der Sturm weh­te in die­sem Mo­ment so tückisch, daß der Ad­ju­tant los­mar­schier­te, um nicht zu er­frie­ren, und die Lip­pen des Ma­jors Phil­ipp er­starr­ten. Bald herrsch­te völ­li­ges Schwei­gen. Es wur­de nur von Seuf­zern un­ter­bro­chen, die aus dem Hau­se dran­gen, und durch das dump­fe Geräusch, das das Pferd des Herrn de Sucy mach­te, das vor Hun­ger und Wut die er­fro­re­ne Rin­de kau­te, aus der das Haus er­baut war. Der Ma­jor steck­te sei­nen Sä­bel in die Schei­de, nahm das kost­ba­re Tier, das er zu be­wah­ren ver­stan­den hat­te, jäh beim Zü­gel und riß es, trotz sei­nes Wi­der­stan­des, von der un­heil­vol­len Nah­rung zu­rück, nach der es so gie­rig war.

›Vor­wärts, Bi­chet­te, vor­wärts! Du al­lein kannst Ste­pha­nie ret­ten. War­te nur, spä­ter, da wer­den wir uns aus­ru­hen und si­cher ster­ben kön­nen.‹

Phil­ipp, in einen Pelz gehüllt, dem er sei­ne Er­hal­tung und sei­ne Ener­gie ver­dank­te, fing an zu lau­fen, in­dem er mit den Fü­ßen scharf auf den ge­fro­re­nen Schnee trat, um sich warm zu er­hal­ten. Kaum hat­te der Ma­jor fünf­hun­dert Schritt ge­macht, als er ein tüch­ti­ges Feu­er an dem Plat­ze wahr­nahm, wo er seit heu­te mor­gen sei­nen Wa­gen un­ter der Ob­hut ei­nes al­ten Sol­da­ten ge­las­sen hat­te. Eine furcht­ba­re Un­ru­he be­mäch­tig­te sich sei­ner. Wie alle die, wel­che wäh­rend die­ser Flucht von ei­ner mäch­ti­gen Emp­fin­dung be­herrscht wur­den, ver­spür­te er, um sei­nen Freun­den zu hel­fen, Kräf­te in sich, die er zu sei­ner ei­ge­nen Ret­tung nicht auf­ge­bracht hät­te. Bald be­fand er sich we­ni­ge Schritt von ei­ner Ter­rain­fal­te ent­fernt, in der er, vor den Ku­geln ge­bor­gen, eine jun­ge Frau un­ter­ge­bracht hat­te, sei­ne Ju­gend­ge­fähr­tin und sei­nen teu­ers­ten Schatz!

Et­li­che Schrit­te vom Wa­gen hat­ten sich etwa drei­ßig Nach­züg­ler vor ei­nem rie­si­gen Feu­er zu­sam­men­ge­fun­den, das sie mit hin­ein­ge­wor­fe­nen Bret­tern, mit den Ober­tei­len von Kas­ten, mit Rä­dern und Wa­gen­wän­den un­ter­hiel­ten. Die­se Sol­da­ten wa­ren je­den­falls die letz­ten al­ler Her­bei­ge­kom­me­nen, die von dem Ein­schnitt zwi­schen dem Ter­rain von Stud­zi­an­ka bis zu dem ver­häng­nis­vol­len Flus­se einen Ozean von Köp­fen, Feu­ern und Ba­ra­cken bil­de­ten, ein le­ben­des, von fast un­merk­li­chen Wo­gen be­weg­tes Meer, aus dem ein dump­fes, manch­mal von schreck­li­chem Lärm un­ter­bro­che­nes Geräusch em­por­drang. Von Hun­ger und Verzweif­lung ge­trie­ben, hat­ten die­se Un­glück­se­li­gen sich wahr­schein­lich zu dem Wa­gen hin­ge­drängt. Der alte Ge­ne­ral und die jun­ge Frau, die hier auf Fet­zen, in Män­tel und Pel­ze ge­wi­ckelt la­gen, wa­ren in die­sem Mo­ment vor dem Feu­er nie­der­ge­kniet. Der eine Wa­gen­vor­hang war zer­ris­sen. So­bald die um das Feu­er ge­la­ger­ten Män­ner die Trit­te des Pfer­des und des Ma­jors hör­ten, er­ho­ben sie einen Schrei wü­ten­den Hun­gers.

»Ein Pferd, ein Pferd!«

Al­les ver­ei­nig­te sich zu ei­nem ein­zi­gen Ruf.

›Zu­rück! Neh­men Sie sich in acht!‹ rie­fen zwei bis drei Sol­da­ten und mach­ten sich an das Pferd.

Phil­ipp stell­te sich vor sein Tier und sag­te: ›Schuf­te! Ich sto­ße euch alle in euer Feu­er. Da oben gib­t’s ge­nug tote Pfer­de! Holt sie euch.‹

›Ist das ein Spaß­vo­gel, die­ser Of­fi­zier! Eins, zwei, willst du dich weh­ren?‹ ent­geg­ne­te ein rie­si­ger Gre­na­dier. ›Na, gut, wie du willst!‹

Der Schrei ei­ner Frau lenk­te den Schuß ab. Phil­ipp wur­de glück­li­cher­wei­se nicht ge­trof­fen; aber Bi­chet­te, die zu­sam­men­ge­bro­chen war, kämpf­te mit dem Tode; drei Män­ner stürz­ten sich auf sie und ga­ben ihr mit Ba­jo­nett­stö­ßen den Rest.

›Kan­ni­ba­len! Laßt mich we­nigs­tens die De­cke und mei­ne Pis­to­len neh­men,‹ sag­te Phil­ipp ver­zwei­felt. ›Die Pis­to­len, ja‹, er­wi­der­te der Gre­na­dier. ›A­ber was die De­cke an­langt, da ist ein In­fan­te­rist, der seit zwei Ta­gen ›nichts auf sei­ner La­ter­ne‹ hat, und der in sei­nem elen­den Jam­mer­rock zit­tert. Das ist un­ser Ge­ne­ral …‹

Phil­ipp schwieg, als er einen Mann sah, des­sen Schuh­zeug ver­braucht, des­sen Hose an zehn Stel­len durch­lö­chert war, und der auf dem Kop­fe eine schlech­te, mit Eis be­deck­te Po­li­zei­müt­ze trug. Er be­eil­te sich, sei­ne Pis­to­len an sich zu neh­men. Fünf Män­ner zo­gen das Tier vor das Feu­er und be­gan­nen, es mit sol­cher Ge­schick­lich­keit zu zer­le­gen, wie es Flei­scher­ge­sel­len in Pa­ris hät­ten ma­chen kön­nen. Mit be­wun­de­rungs­wür­di­ger Kunst wur­den die Stücke ab­ge­löst und auf Koh­len ge­legt. Der Ma­jor stell­te sich ne­ben die Frau, die einen Schrei des Ent­set­zens aus­ge­sto­ßen hat­te, als sie ihn wie­der­er­kann­te; er sah sie un­be­weg­lich auf ei­nem Wa­gen­kis­sen sit­zend und sich wär­me­nd; sie be­trach­te­te ihn still­schwei­gend, ohne ihm zu­zu­lä­cheln. Phil­ipp sah jetzt ne­ben ihr den Sol­da­ten, dem er die Ver­tei­di­gung des Wa­gens an­ver­traut hat­te; der arme Mensch war ver­wun­det wor­den. Über­wäl­tigt von der Men­ge, war er eben den Nach­züg­lern ge­wi­chen, die ihn an­ge­grif­fen hat­ten; aber wie ein Hund, der bis zum letz­ten Au­gen­blick das Es­sen sei­nes Herrn ver­tei­digt hat, hat­te er sich sei­nen Teil an der Beu­te ge­nom­men und sich aus ei­nem wei­ßen Tuch eine Art Man­tel ge­macht. Jetzt war er da­mit be­schäf­tigt, ein Stück Pfer­de­fleisch um­zu­dre­hen, und der Ma­jor nahm auf sei­nem Ge­sich­te die Freu­de wahr, die ihm die Zu­rüs­tun­gen zu dem Fes­tes­sen ver­ur­sach­ten. Der Graf von Van­dières, seit drei Ta­gen in eine Art kin­di­schen Zu­stan­des ver­fal­len, blieb auf sei­nem Kis­sen ne­ben sei­ner Frau sit­zen und be­trach­te­te mit un­be­weg­li­chen Au­gen die Flam­men, de­ren Wär­me an­fing, sei­ne Er­star­rung zu mil­dern. Er war von der Ge­fahr und der An­kunft Phil­ipps nicht mehr er­regt wor­den, als von dem Kampf, bei dem sein Wa­gen ge­plün­dert wor­den war. Sucy er­griff zu­erst die Hand der jun­gen Grä­fin, um ihr ein Zei­chen sei­ner Hin­ga­be aus­zu­drücken und ihr den Schmerz dar­über kund­zu­ge­ben, daß sie so ins letz­te Elend ge­ra­ten war; aber er blieb stumm ne­ben ihr auf ei­nem Schnee­h­au­fen, der sich in Was­ser auf­lös­te, sit­zen und gab selbst dem Wohl­ge­fühl, sich zu er­wär­men, nach, die Ge­fahr und al­les an­de­re ver­ges­send. Sein Ge­sicht nahm ge­gen sei­ne Ab­sicht einen bei­na­he stumpf­sin­ni­gen Aus­druck von Freu­de an, und er war­te­te un­ge­dul­dig auf den Au­gen­blick, wo das sei­nen Sol­da­ten ge­ge­be­ne Stück Pfer­de­fleisch ge­bra­ten war. Der Ge­ruch die­ses ver­kohl­ten Flei­sches reiz­te sei­nen Hun­ger, und sein Hun­ger ließ sein Her­zens­emp­fin­den, sei­nen Mut und sei­ne Lie­be schwei­gen. Ohne Zorn be­trach­te­te er die Er­geb­nis­se der Plün­de­rung sei­nes Wa­gens. Alle Leu­te, die das Feu­er um­ga­ben, hat­ten sich in die De­cken, die Kis­sen, die Pel­ze, die männ­li­chen und weib­li­chen Klei­dungs­stücke des Gra­fen und der Grä­fin ge­teilt. Phil­ipp wand­te sich um, weil er se­hen woll­te, ob man noch Nut­zen aus sei­ner Kas­se zie­hen konn­te. Beim Lich­te der Flam­men be­merk­te er Gold, Dia­man­ten und Sil­ber­zeug zer­streut, ohne daß je­mand dar­an dach­te, sich auch nur das ge­rings­te Stück da­von an­zu­eig­nen. Je­des der In­di­vi­du­en, die der Zu­fall um das Feu­er zu­sam­men­ge­bracht hat­te, be­wahr­te ein Still­schwei­gen, das et­was Fürch­ter­li­ches an sich hat­te, und tat nichts wei­ter, als was er für sein Wohl­be­fin­den für not­wen­dig er­ach­te­te. Die­ses Elend hat­te et­was Gro­tes­kes. Die von der Käl­te ver­än­der­ten Ge­sich­ter wa­ren mit ei­nem Über­zug von Schmutz be­deckt, auf dem sich die Trä­nen­spu­ren von den Au­gen bis zum un­te­ren Teil der Wan­gen mit ei­ner Fur­che ab­zeich­ne­ten, die die Di­cke die­ser Krus­te an­zeig­te. Die Unsau­ber­keit ih­rer lan­gen Bär­te mach­te die Sol­da­ten noch ab­scheu­li­cher. Die einen wa­ren in Wei­ber­schals ge­wi­ckelt; die an­de­ren tru­gen Pfer­de­scha­bra­cken, schmut­zi­ge De­cken und Lum­pen, be­deckt mit Reif, der an­fing zu zer­schmel­zen; ei­ni­ge hat­ten einen Fuß in ei­nem Schuh, den an­dern in ei­nem Stie­fel; schließ­lich gab es nie­man­den, des­sen Klei­dung nicht ir­gend­ei­ne lä­cher­li­che Be­son­der­heit auf­wies. In­mit­ten die­ser ko­mi­schen Um­hül­lung ver­harr­ten die Män­ner ernst und düs­ter. Das Schwei­gen wur­de nur von dem Kra­chen des Hol­zes un­ter­bro­chen, von dem Fla­ckern der Flam­me, von dem fer­nen Geräusch des Fel­des und von den Sä­bel­hie­ben, die die Ver­hun­gerts­ten Bi­chet­te ver­setz­ten, um die bes­ten Stücke da­von ab­zu­rei­ßen. Ei­ni­ge Un­glück­li­che, mat­ter als die an­dern, schlie­fen be­reits, und wenn ei­ner von ih­nen ins Feu­er roll­te, zog ihn nie­mand zu­rück. Die­se stren­gen Lo­gi­ker dach­ten, daß, wenn er nicht tot war, das Ver­bren­nen ihn schon ver­an­las­sen wür­de, sich an einen ge­eig­ne­te­ren Ort hin­zu­le­gen. Wenn aber der Un­glück­li­che im Feu­er er­wach­te und um­kam, so be­klag­te ihn nie­mand. Et­li­che Sol­da­ten sa­hen ein­an­der an, wie um ihre ei­ge­ne Un­be­küm­mert­heit durch die Gleich­gül­tig­keit der an­de­ren ge­recht­fer­tigt zu se­hen. Die jun­ge Grä­fin hat­te zwei­mal einen sol­chen An­blick und blieb stumm. Als die ver­schie­de­nen Stücke, die man auf die Koh­len ge­legt hat­te, ge­bra­ten wa­ren, still­te je­der sei­nen Hun­ger mit der Freß­gier, die uns bei den Tie­ren so wi­der­wär­tig er­scheint.

94,80 ₽
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Объем:
5534 стр. 474 иллюстрации
ISBN:
9783962815226
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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