Читать книгу: «Honoré de Balzac – Gesammelte Werke», страница 3

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»Das ist das ers­te­mal, daß man drei­ßig In­fan­te­ris­ten auf ei­nem Pfer­de ge­se­hen hat,« rief der Gre­na­dier, der das Tier ab­ge­sto­chen hat­te.

Das war der ein­zi­ge Scherz, der na­tio­na­len Witz be­zeug­te.

Bald roll­te sich die Mehr­zahl der ar­men Sol­da­ten in ihre Klei­der, leg­te sich auf Bret­ter, auf al­les, was sie vor der Berüh­rung mit dem Schnee schüt­zen konn­te, und schlief un­be­küm­mert bis zum nächs­ten Mor­gen. Als der Ma­jor sich er­wärmt und sei­nen Hun­ger ge­füllt hat­te, drück­te ihm ein un­be­zwing­li­ches Schlaf­be­dürf­nis auf die Wim­pern. Wäh­rend sei­nes ziem­lich kur­z­en Kamp­fes mit dem Schla­fe be­trach­te­te er die jun­ge Frau, die, mit dem Ge­sicht zum Feu­er ge­wen­det, um zu schla­fen, ihre ge­schlos­se­nen Au­gen und einen Teil ih­rer Stirn se­hen ließ; sie war in einen dich­ten Pelz und einen di­cken Dra­go­ner­man­tel ge­wi­ckelt; ihr Kopf lag auf ei­nem blut­be­fleck­ten Kopf­kis­sen; ihre, von ei­nem um den Hals ge­schlun­ge­nen Ta­schen­tuch fest­ge­hal­te­ne Astra­chan­müt­ze schütz­te ihr Ge­sicht so viel als mög­lich vor der Käl­te; die Füße hat­te sie in den Man­tel ver­steckt. So in sich selbst zu­sam­men­ge­rollt, glich sie in der Tat nichts Men­sch­li­chem. War sie die letz­te Mar­ke­ten­de­rin? War sie die ent­zücken­de Frau, der Stolz ei­nes Lieb­ha­bers, die Kö­ni­gin der Pa­ri­ser Bäl­le? Ach! Selbst das Auge ih­res hin­ge­bends­ten Freun­des konn­te nichts Weib­li­ches mehr in die­sem Hau­fen von Wä­sche und Lum­pen er­ken­nen. Der Käl­te war die Lie­be im Her­zen ei­ner Frau ge­wi­chen. Durch die dich­ten Schlei­er, die der un­wi­der­steh­lichs­te Schlaf über die Au­gen des Ma­jors brei­te­te, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punk­te. Die Flam­men des Feu­ers, die Ge­sich­ter über­all, die schreck­li­che Käl­te, die, drei Schrit­te von der flüch­ti­gen Wär­me ent­fernt, sich durch­boh­rend gel­tend mach­te, al­les floß in einen Traum zu­sam­men. Ein pein­li­cher Ge­dan­ke er­schreck­te Phil­ipp. »Wir wer­den alle ster­ben, wenn ich ein­schla­fe; ich will nicht schla­fen,« sag­te er sich. Aber er schlief. Ein schreck­li­cher Lärm und eine Ex­plo­si­on er­weck­ten Herrn de Sucy nach ei­ner Stun­de Schlaf. Das Ge­fühl, sei­ne Pf­licht tun zu müs­sen, die Ge­fahr sei­ner Freun­de fie­len ihm plötz­lich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähn­lich ei­nem Ge­heul aus. Er und sein Sol­dat stan­den al­lein auf­recht. Sie er­blick­ten ein Feu­er­meer vor sich, das im Schat­ten der Nacht vor ih­nen eine Mas­se Men­schen ab­schnitt, in­dem es die Hüt­ten und Zel­te ver­zehr­te; sie hör­ten Verzweif­lungs­schreie und Ge­heul; sie sa­hen Tau­sen­de von ent­setz­ten Ge­sich­tern und wü­ten­den Köp­fen. In­mit­ten die­ser Höl­le bahn­te sich eine Ko­lon­ne von Sol­da­ten einen Weg nach der Brücke zu zwi­schen zwei Rei­hen von Ka­da­vern hin­durch.

»Das ist der Rück­zug uns­res Nachtrabs!« rief der Ma­jor. »Kei­ne Hoff­nung mehr!«

»Ich habe Ihren Wa­gen ge­schont, Phil­ipp,« sag­te eine Freun­des­s­tim­me.

Als er sich um­wand­te, er­kann­te Sucy beim Licht der Flam­men den jun­gen Ad­ju­tan­ten.

»Ach, es ist al­les ver­lo­ren!« er­wi­der­te der Ma­jor. »Sie ha­ben mein Pferd ver­zehrt. Und wie soll ich auch den stumpf­sin­ni­gen Ge­ne­ral und sei­ne Frau auf den Weg brin­gen?«

»Neh­men Sie einen Feu­er­brand und dro­hen Sie ih­nen.«

»Soll ich die Grä­fin be­dro­hen?«

»Adieu!« rief der Ad­ju­tant. »Ich habe ge­ra­de nur noch Zeit, die­sen fa­ta­len Fluß zu über­schrei­ten, und das muß ge­sche­hen. Ich habe eine Mut­ter in Frank­reich. Was für eine Nacht! Die­se Mas­se hier will lie­ber auf dem Schnee blei­ben, und die Mehr­zahl die­ser Un­glück­li­chen will sich lie­ber ver­bren­nen las­sen als sich er­he­ben. Es ist vier Uhr, Phil­ipp! In zwei Stun­den wer­den die Rus­sen an­fan­gen sich zu rüh­ren. Ich ver­si­che­re Ih­nen, daß Sie die Be­re­si­na bald vol­ler Leich­na­me se­hen wer­den. Den­ken Sie an sich, Phil­ipp! Sie ha­ben kei­ne Pfer­de, Sie kön­nen die Grä­fin nicht tra­gen; also vor­wärts, kom­men Sie mit mir,« sag­te er und faß­te ihn am Arme.

»Aber, lie­ber Freund, wie soll ich Ste­pha­nie ver­las­sen!«

Der Ma­jor er­griff die Grä­fin, stell­te sie auf die Bei­ne, schüt­tel­te sie mit der Rau­heit ei­nes Verzwei­fel­ten und zwang sie, auf­zu­wa­chen; sie sah ihn mit to­tem, star­rem Bli­cke an.

›Wir müs­sen vor­wärts, Ste­pha­nie, oder wir ster­ben hier.‹

Als alle Ant­wort ver­such­te die Grä­fin, sich zur Erde glei­ten zu las­sen, um zu schla­fen. Der Ad­ju­tant er­griff einen Feu­er­brand und be­weg­te ihn vor dem Ge­sicht Ste­pha­nies hin und her.

›Ret­ten wir sie ge­gen ih­ren Wil­len!‹ rief Phil­ipp, hob die Grä­fin auf und trug sie in den Wa­gen.

Er kehr­te zu­rück und bat den Ad­ju­tan­ten um Hil­fe. Bei­de nah­men den al­ten Ge­ne­ral, ohne zu wis­sen, ob er tot oder le­ben­dig war, und leg­ten ihn ne­ben sei­ne Frau. Der Ma­jor stieß mit dem Fuße je­den ein­zel­nen der auf der Erde lie­gen­den Leu­te weg, nahm ih­nen ab, was sie ge­raubt hat­ten, häuf­te alle Klei­der auf die bei­den Gat­ten und warf in eine Ecke des Wa­gens et­li­che ge­bra­te­ne Stücke ih­res Pfer­des. ›Was wol­len Sie denn ma­chen?‹ frag­te ihn der Ad­ju­tant.

›Sie schlep­pen‹, sag­te der Ma­jor.

›Sie sind wohl toll!‹

›Das ist wahr!‹ rief Phil­ipp und kreuz­te die Arme über der Brust.

Plötz­lich schi­en er von ei­nem ver­zwei­fel­ten Ge­dan­ken ge­packt zu sein.

›Du!‹, sag­te er und er­griff den ge­sun­den Arm sei­nes Sol­da­ten, ›ich ver­traue sie dir für eine Stun­de an! Den­ke dar­an, daß du eher ster­ben mußt, als, wer es auch sei, an den Wa­gen her­an­kom­men las­sen darfst.‹ Der Ma­jor be­mäch­tig­te sich der Dia­man­ten der Grä­fin, nahm sie in die eine Hand, zog mit der an­dern den Sä­bel und be­gann wü­tend auf die Schlä­fer los­zu­schla­gen, die er für die un­er­schro­ckens­ten hielt, und es ge­lang ihm auch, den ko­los­sa­len Gre­na­dier und noch zwei an­de­re Män­ner, de­ren mi­li­tä­ri­scher Rang un­mög­lich zu er­ken­nen war, auf­zu­we­cken.

»Wir sind ver­lo­ren«, sag­te er zu ih­nen.

»Das weiß ich wohl,« ant­wor­te­te der Gre­na­dier, »aber das ist mir egal.«

»Nun also, so oder so tot, ist es nicht bes­ser, sein Le­ben für eine hüb­sche Frau zu ver­kau­fen, auf die Ge­fahr hin, Frank­reich noch ein­mal wie­der­zu­se­hen?«

»Ich will lie­ber schla­fen,« sag­te ei­ner von den Leu­ten und roll­te auf den Schnee, »und wenn du mich wei­ter be­läs­tigst, Ma­jor, wer­de ich dir mein Ba­jo­nett in die Wam­pe pflan­zen.«

»Worum han­delt es sich, Herr Ma­jor?«, frag­te der Gre­na­dier. »Der Kerl ist be­trun­ken! Das ist ein Pa­ri­ser; die wol­len es be­quem ha­ben.«

»Das hier ist für dich, mein bra­ver Kerl,« rief der Ma­jor und bot ihm einen Dia­man­ten­schmuck an, »wenn du mir fol­gen und wie ein Wil­der kämp­fen willst. Die Rus­sen wer­den in zehn Mi­nu­ten auf dem Mar­sche sein, sie sind be­rit­ten; wir wer­den auf ihre ers­te Bat­te­rie los­mar­schie­ren und zwei Pfer­de mit uns neh­men.«

»Aber die Schild­wa­chen, Herr Ma­jor?«

»Ei­ner von uns drei­en« , sag­te er zu dem Sol­da­ten. Er un­ter­brach sich und sah den Ad­ju­tan­ten an; »Sie kom­men mit uns, Hip­po­lyt, nicht wahr?«

Hip­po­lyt stimm­te mit ei­nem Kopf­ni­cken zu.

»Ei­ner von uns«, fuhr der Ma­jor fort, »wird die Schild­wa­che auf sich neh­men. Üb­ri­gens wer­den sie auch viel­leicht schla­fen, die­se ver­damm­ten Rus­sen.«

»Bist du wirk­lich so tap­fer, mein Ma­jor? Aber du wirst mich auch in dei­nem Wa­gen mit­neh­men?» sag­te der Gre­na­dier.

»Ja­wohl, wenn du dort oben nicht dein Fell op­fern mußt. Wenn ich fal­le, ver­sprecht mir, Hip­po­lyt und du, Gre­na­dier,» sag­te der Ma­jor und wand­te sich an sei­ne bei­den Ge­fähr­ten, ,»daß ihr euch für die Ret­tung der Grä­fin auf­op­fern wollt.»

»Ab­ge­macht«, rief der Gre­na­dier.

Sie wand­ten sich der Li­nie der Rus­sen zu, nach den Bat­te­ri­en hin, die so furcht­bar die Mas­se der Un­glück­li­chen zer­schmet­tert hat­ten, die am Ufer des Flus­ses la­gen. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke nach ih­rem Ver­schwin­den er­tön­te der Ga­lopp zwei­er Pfer­de auf dem Schnee, und die wach­ge­wor­de­ne Bat­te­rie sand­te ei­ni­ge Sal­ven hin­ter­her, die über die Häup­ter der Schlä­fer hin­weg­gin­gen; der Ga­lopp der Pfer­de war so über­stürzt, daß man von Schmied­häm­mern hät­te re­den mö­gen. Der edel­mü­ti­ge Ad­ju­tant war ge­fal­len. Der ath­le­ti­sche Gre­na­dier war heil und ge­sund ge­blie­ben. Phil­ipp hat­te bei der Ver­tei­di­gung sei­nes Freun­des einen Ba­jo­nett­stich in die Schul­ter er­hal­ten; trotz­dem klam­mer­te er sich an die Na­cken­haa­re des Pfer­des und preß­te es so fest mit sei­nen Bei­nen, daß das Tier sich wie in ei­nem Schraub­stock be­fand.

»Gott sei ge­lobt!« rief der Ma­jor, als er sei­nen Sol­da­ten un­be­weg­lich im Wa­gen an sei­nem Plat­ze vor­fand.

»Wenn Sie ge­recht sein wol­len, Herr Ma­jor, wer­den Sie mir das Kreuz ver­schaf­fen. Wir ha­ben hübsch mit dem Schieß­prü­gel und dem Stich­ge­wehr ge­spielt, was?«

»Wir ha­ben noch nichts ge­leis­tet. Jetzt müs­sen wir die Pfer­de an­span­nen. Neh­men Sie die Sei­le.«

»Es sind nicht ge­nug da­von vor­han­den.«

»Dann, Gre­na­dier, müs­sen Sie Hand an die Schlä­fer le­gen und ihre Um­hän­ge und ihre Wä­sche dazu neh­men …«

»Sieh mal an, er ist tot, die­ser Hans­wurst!« rief der Gre­na­dier, als er den ers­ten, an den er sich wand­te, um­dreh­te. »Ach, wie ko­misch, sie sind ja tot!«

»Alle?«

»Ja­wohl, alle! Es scheint, das Pferd ist ein un­ver­dau­li­ches Es­sen, wenn man es mit Schnee ge­nießt.« die­se Wor­te lie­ßen Phil­ipp er­zit­tern. Der Frost war noch stär­ker ge­wor­den.

»Mein Gott! Eine Frau ver­lie­ren, die ich schon zwan­zig­mal ge­ret­tet habe.«

Der Ma­jor schüt­tel­te die Grä­fin und rief: »Ste­pha­nie! Ste­pha­nie!«

Die jun­ge Frau öff­ne­te ihre Au­gen.

»Wir sind ge­ret­tet, Ma­da­me.«

»Ge­ret­tet!« wie­der­hol­te sie und fiel zu­rück.

Die Pfer­de wur­den, so gut es ging, an­ge­spannt. Mit sei­nem Sä­bel in der ge­sun­den Hand, die Zü­gel in der an­dern, be­stieg er, mit sei­nen Pis­to­len be­waff­net, das eine Pferd, wäh­rend der Gre­na­dier sich auf das an­de­re setz­te. Der alte Sol­dat, des­sen Füße er­fro­ren wa­ren, wur­de quer in den Wa­gen über den Ge­ne­ral und die Grä­fin ge­wor­fen. Durch Sä­bel­hie­be an­ge­sta­chelt, tru­gen die Pfer­de die Equi­pa­ge mit wü­ten­der Eile in die Ebe­ne hin­aus, wo un­zäh­li­ge Schwie­rig­kei­ten den Ma­jor er­war­te­ten. Bald war es un­mög­lich, vor­wärts zu kom­men, ohne zu ris­kie­ren, Män­ner, Frau­en und ein­ge­schla­fe­ne Kin­der tot­zu­fah­ren, die alle sich zu rüh­ren ver­wei­ger­ten, als der Gre­na­dier sie auf­weck­te. Ver­geb­lich such­te Herr de Sucy den Weg, den der Nachtrab in­zwi­schen sich mit­ten in die­ser Men­schen­mas­se ge­bahnt hat­te; er war ver­schwun­den wie das Kiel­was­ser des Schif­fes auf dem Mee­re; es ging nur im Schritt wei­ter, meist von den Sol­da­ten an­ge­hal­ten, die da­mit droh­ten, die Pfer­de zu tö­ten.

›Wol­len Sie wei­ter kom­men?‹ frag­te der Gre­na­dier.

›Um den Preis mei­nes Blu­tes, um den Preis der gan­zen Wel­t‹, er­wi­der­te der Ma­jor.

›Vor­wärts! Man macht kei­ne Ome­let­ten, ohne Eier zu zer­schla­gen.‹

Und der Gre­na­dier jag­te die Pfer­de auf die Men­schen los, ließ blu­ti­ge Ge­lei­se hin­ter sich, stürz­te die Zel­te um und bahn­te sich eine dop­pel­te Fur­che quer durch die­ses Feld von Köp­fen. Aber wir müs­sen ihm die Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren las­sen, daß er nie­mals un­ter­ließ, mit don­nern­der Stim­me zu ru­fen: ›Ach­tung, ihr Bies­ter!‹

›Die Un­glück­li­chen!‹ rief der Ma­jor.

›Bah! Ent­we­der der Frost oder die Ka­no­nen!‹ sag­te der Gre­na­dier, trieb die Pfer­de an und stach mit der Spit­ze sei­nes Sä­bels auf sie los.

Eine Ka­ta­stro­phe, die ih­nen sehr viel frü­her hät­te be­geg­nen und vor der bis da­hin ein fa­bel­haf­ter Zu­fall sie be­wahrt hat­te, hielt plötz­lich ih­ren Weg an. Der Wa­gen stürz­te um.

›Das dach­te ich mir!‹ rief der un­er­schüt­ter­li­che Gre­na­dier aus. ›Oh, oh! Der Ka­me­rad ist tot!‹

›Ar­mer Lau­rent!‹ sag­te der Ma­jor.

›Lau­rent? Ist er nicht von den fünf­ten Jä­gern?‹

›Ja­wohl.‹

›Das ist mein Vet­ter. Bah! Das Hun­de­le­ben ist nicht schön ge­nug, daß man es in der jet­zi­gen Zeit zu be­dau­ern hät­te.‹

Der Wa­gen wur­de nicht wie­der auf­ge­rich­tet, die Pfer­de nicht wie­der frei­ge­macht ohne einen un­end­li­chen, nicht wie­der gut zu ma­chen­den Zeit­ver­lust. Der Stoß war so hef­tig ge­we­sen, daß die jun­ge Grä­fin, die er­wacht und durch die Be­we­gung aus ih­rer Be­täu­bung auf­ge­rüt­telt wor­den war, die Klei­dungs­stücke ab­warf und sich er­hob.

»Wo sind wir denn, Phil­ipp?« rief sie mit sanf­ter Stim­me und sah um sich.

»Fünf­hun­dert Schritt von der Brücke ent­fernt. Wir wol­len über die Be­re­si­na. Jen­seits des Flus­ses, Ste­pha­nie, wer­de ich Sie nicht mehr quä­len, wer­de Sie schla­fen las­sen, wir wer­den in Si­cher­heit sein und in Ruhe Wil­na er­rei­chen. Gebe Gott, daß Sie nie­mals er­fah­ren, was Ihr Le­ben ge­kos­tet hat!«

»Du bist ver­wun­det?«

»Es be­deu­tet nichts.«

Die Stun­de der Ka­ta­stro­phe war her­an­ge­kom­men. Die Ka­no­nen der Rus­sen kün­dig­ten den Tag an. Her­ren von Stud­zi­an­ka, feu­er­ten sie über die Ebe­ne; und bei dem ers­ten Mor­gen­licht be­merk­te der Ma­jor ihre Ko­lon­nen sich auf den Hö­hen for­mie­ren. Ein Alarm­ge­schrei er­hob sich mit­ten aus der Men­ge, die in ei­nem Mo­ment auf den Bei­nen war. In­stinkt­mä­ßig be­griff je­der die ihm dro­hen­de Ge­fahr, und alle dräng­ten sich in Wel­len­be­we­gun­gen der Brücke zu. Die Rus­sen eil­ten mit der Schnel­lig­keit ei­nes Feu­er­bran­des hin­ab. Män­ner, Wei­ber, Kin­der, Pfer­de, al­les mar­schier­te auf die Brücke los. Glück­li­cher­wei­se be­fan­den sich der Ma­jor und die Grä­fin noch ziem­lich ent­fernt vom Ufer. Der Ge­ne­ral Eblé hat­te Feu­er an die Zel­te am an­dern Ufer ge­legt. Trotz der War­nun­gen, die vor dem Be­tre­ten der Ret­tungs­plan­ke ge­ge­ben wur­den, woll­te nie­mand zu­rück­wei­chen. Nicht nur senk­te sich die mit Men­schen über­la­de­ne Brücke, son­dern der hef­ti­ge Strom von Men­schen­zu­fluß stürz­te wie eine ver­häng­nis­vol­le La­wi­ne so hin­ab, daß eine Men­schen­men­ge wie ein Schnee­sturz ins Was­ser mit­ge­ris­sen wur­de. Man hör­te kei­nen Schrei, son­dern nur das dump­fe Geräusch ei­nes ins Was­ser ge­fal­le­nen Steins; dann war die Be­re­si­na mit Leich­na­men be­deckt. Der Rück­stoß der­je­ni­gen, die in die Ebe­ne zu­rück­wi­chen, um die­sem Tode zu ent­ge­hen, war so furcht­bar, daß eine große Men­ge von Leu­ten durch Er­sti­ckung star­ben. Der Graf und die Grä­fin ver­dank­ten ihr Le­ben nur ih­rem Wa­gen. Nach­dem die Pfer­de eine Mas­se Ster­ben­der zer­schmet­tert und ver­nich­tet hat­ten, gin­gen sie selbst zu­grun­de un­ter den Fü­ßen ei­ner Art mensch­li­cher Was­ser­ho­se, die auf das Ufer stürz­te. Der Ma­jor und der Gre­na­dier ret­te­ten sich durch ihre Kraft. Sie tö­te­ten, um nicht selbst ge­tö­tet zu wer­den. Die­ser Or­kan von mensch­li­chen Ge­sich­tern, die­ses Hin- und Her­flie­ßen von durch die glei­che Be­we­gung ge­tra­ge­nen mensch­li­chen Kör­pern, ließ wäh­rend ei­ni­ger Au­gen­bli­cke das Ufer der Be­re­si­na ver­las­sen er­schei­nen. Die Mas­se hat­te sich zu­rück in die Ebe­ne ge­wor­fen. Wenn et­li­che Men­schen sich von oben den stei­len Ab­hang hin­a­blie­ßen, so ge­sch­ah das we­ni­ger in der Hoff­nung, das an­de­re Ufer zu er­rei­chen, was für sie Frank­reich be­deu­te­te, als um den Wüs­ten Si­bi­ri­ens zu ent­rin­nen. Die Verzweif­lung wur­de eine Ret­tung für et­li­che mu­ti­ge Leu­te. Ein Of­fi­zier sprang von Schol­le zu Schol­le bis an das an­de­re Ufer; ein Sol­dat klet­ter­te mit wun­der­ba­rer Ge­schick­lich­keit über einen Hau­fen von Leich­na­men und Eis­schol­len. Die­se rie­sen­haf­te Volks­mas­se be­griff schließ­lich, daß die Rus­sen nicht zwan­zig­tau­send waf­fen­lo­se, er­fro­re­ne, stumpf­ge­wor­de­ne Men­schen, die sich nicht ver­tei­di­gen wür­den, tö­ten woll­ten, und je­der er­war­te­te sein Los mit furcht­ba­rer Re­si­gna­ti­on. So blie­ben also der Ma­jor, sein Gre­na­dier, der alte Sol­dat und sei­ne Frau al­lein ei­ni­ge Schrit­te von dem Orte, wo sich die Brücke be­fand. Alle vier stan­den hier auf­recht, mit tro­ckenen Au­gen, still­schwei­gend und von ei­ner Men­ge To­ter um­ge­ben. Et­li­che kräf­ti­ge Sol­da­ten, et­li­che Of­fi­zie­re, de­nen die Ver­hält­nis­se alle ihre Ener­gie wie­der­ga­ben, fan­den sich ne­ben ih­nen ein. Die­se ziem­lich zahl­rei­che Grup­pe um­faß­te un­ge­fähr fünf­zig Men­schen. Der Ma­jor be­merk­te in ei­ner Ent­fer­nung von zwei­hun­dert Schritt die Rui­nen der Brücke, die für die Wa­gen her­ge­stellt, aber vor­her zu­sam­men­ge­bro­chen war.

»Zim­mern wir uns ein Floß zu­sam­men!« rief er.

Kaum hat­te er die­ses Wort fal­len las­sen, als die gan­ze Grup­pe auf die Trüm­mer zu­lief. Eine Men­ge Men­schen schick­te sich an, Ei­sen­stä­be auf­zu­sam­meln, Holz­stücke, Sei­le auf­zu­su­chen, kurz al­les für den Bau ei­nes Flos­ses not­wen­di­ge Ma­te­ri­al. Eine Trup­pe von zwan­zig Sol­da­ten und Of­fi­zie­ren bil­de­ten eine von dem Ma­jor be­feh­lig­te Gar­de, um die Ar­bei­ter ge­gen die ver­zwei­fel­ten An­grif­fe zu schüt­zen, die die Mas­se voll­füh­ren könn­te, wenn sie ih­ren Plan er­riet. Das Ge­fühl der Frei­heit, das die Ge­fan­ge­nen be­seelt und ih­nen Wun­der ein­flö­ßt, kann mit dem nicht ver­gli­chen wer­den, das in die­sem Au­gen­blick die un­glück­li­chen Fran­zo­sen han­deln ließ.

»Da sind die Rus­sen! Da sind die Rus­sen!« schrie­en den Ar­bei­tern ihre Ver­tei­di­ger zu.

Das Holz kreisch­te, die Boh­len wuch­sen in die Brei­te, Höhe und Tie­fe. Ge­ne­ra­le, Sol­da­ten, Obers­ten, al­les bog sich un­ter dem Ge­wicht der Rä­der, der Ei­sen, der Bret­ter: es war ein wahr­haf­tes Bild des Bau­es der Ar­che Noah. Die jun­ge Grä­fin saß ne­ben ih­rem Man­ne und sah mit Be­dau­ern zu, weil sie an der Ar­beit nichts mit­tun konn­te; trotz­dem half sie, Kno­ten zu knüp­fen, um die Sei­le fes­ter zu ma­chen. End­lich war das Floß fer­tig. Vier­zig Men­schen stürz­ten sich ins Was­ser des Flus­ses, wäh­rend ein Dut­zend Sol­da­ten die Sei­le hiel­ten, die dazu die­nen soll­ten, an dem Ab­hang fest­zu­hal­ten. Kaum aber sa­hen die Er­bau­er ihre Ein­schif­fung auf der Be­re­si­na sich voll­zie­hen, so stürz­ten sie sich von dem Ufer oben hin­ab mit äu­ßers­ter Selbst­sucht. Der Ma­jor, der die Wut des ers­ten An­sturms be­fürch­te­te, hielt Ste­pha­nie und den Ge­ne­ral an der Hand fest; aber er er­beb­te, als er die dunkle Mas­se sich ein­schif­fen sah und die dar­auf zu­sam­men­ge­preß­ten Men­schen er­blick­te, wie Zuschau­er im Par­terre ei­nes Thea­ters.

›Ihr Wil­den!‹ rief er, ›ich habe euch doch den Ge­dan­ken ein­ge­ge­ben, ein Floß zu er­bau­en; ich bin euer Ret­ter, und ihr ver­wei­gert mir mei­nen Platz!‹

Ein ver­wor­re­ner Lärm war die Ant­wort. Die am Ran­de des Flos­ses un­ter­ge­brach­ten und mit Stä­ben zum Ab­sto­ßen vom Ab­hang ver­se­he­nen Män­ner stie­ßen mit Ge­walt den Holz­zug vor­wärts, um ihn an das an­de­re Ufer zu drän­gen und ihn die Eis­schol­len und Leich­na­me durch­schnei­den zu las­sen.

›Zum Don­ner­wet­ter noch­mal! Ich ren­ne euch ins Was­ser, wenn ihr den Ma­jor und sei­ne bei­den Ge­fähr­ten nicht rich­tig auf­nehmt!‹ schrie der Gre­na­dier, er­hob sei­nen Sä­bel, ver­hin­der­te ih­ren Auf­bruch und ließ sie zu­sam­men­rücken trotz der schreck­li­chen Schreie.

›Ich wer­de fal­len! Ich fal­le!‹ schrie­en sei­ne Ge­fähr­ten. ›Im­mer wei­ter vor­wärts.‹

Der Ma­jor be­trach­te­te tro­ckenen Au­ges sei­ne Ge­lieb­te, die ihre Au­gen zum Him­mel mit er­ha­be­ner Er­ge­bung auf­hob.

»Mit dir zu­sam­men ster­ben!« sag­te sie.

Es lag et­was Ko­mi­sches in der Hal­tung der Leu­te auf dem Floß. Ob­gleich sie ein schau­der­haf­tes Ge­brüll aus­stie­ßen, wag­te doch kei­ner dem Gre­na­dier Wi­der­stand zu leis­ten; denn sie wa­ren so zu­sam­men­ge­drängt, daß eine ein­zi­ge Per­son nur zu sto­ßen brauch­te, um al­les um­zu­stür­zen. In die­ser Ge­fahr ver­such­te ein Haupt­mann sich von ei­nem Sol­da­ten zu be­frei­en, der die feind­li­che Be­we­gung des Of­fi­ziers wahr­nahm, ihn an­pack­te und ihn ins Was­ser stürz­te mit den Wor­ten: »Ach, du Ente, du willst trin­ken! Na dann los!«

»Hier sind zwei Plät­ze frei!« rief er dann. »Vor­wärts, Ma­jor, wer­fen Sie uns Ihre klei­ne Frau her­über und kom­men Sie selbst mit! Las­sen Sie doch den al­ten Mops zu­rück, der wird ja mor­gen doch ster­ben!«

»Be­eilt euch!« schrie eine Stim­me, die sich aus hun­dert zu­sam­men­setz­te.

»Vor­wärts, Ma­jor … Die an­dern schimp­fen, und sie ha­ben recht.«

Der Graf von Van­dières ent­le­dig­te sich sei­ner Um­klei­dung und stand auf­recht in sei­ner Ge­ne­rals­uni­form.

»Ret­ten wir den Gra­fen«, sag­te Phil­ipp.

Ste­pha­nie drück­te ih­rem Freun­de die Hand, warf sich über ihn und um­arm­te ihn mit wil­dem Druck.

»Adieu!« sag­te sie.

Sie hat­ten sich ver­stan­den. Der Graf von Van­dières fand sei­ne Kräf­te und sei­ne Geis­tes­ge­gen­wart wie­der, um zur Ein­schif­fung hin­un­ter­zu­sprin­gen, wo­hin Ste­pha­nie ihm folg­te, nach­dem sie einen letz­ten Blick auf Phil­ipp ge­wor­fen hat­te.

»Ma­jor, wol­len Sie mei­nen Platz ha­ben? Ich pfei­fe aufs Le­ben« , rief der Gre­na­dier. »Ich habe we­der Frau, noch Kind, noch Mut­ter.«

»Ich ver­traue sie dir an« , rief der Ma­jor und zeig­te auf den Gra­fen und sei­ne Frau.

»Sei­en Sie be­ru­higt, ich wer­de sie wie mei­nen Aug­ap­fel hü­ten.«

Das Floß wur­de mit sol­cher Ge­walt an das Ufer ge­sto­ßen, das der Stel­le, wo Phil­ipp un­be­weg­lich stand, ge­gen­über war, daß sein Stoß an die Erde al­les er­schüt­ter­te. Der an Bord be­find­li­che Graf roll­te in den Fluß. Als er hin­ein­fiel, schlug ihm eine Eis­schol­le auf den Kopf und trieb ihn wie eine Ku­gel weit weg.

»He! Ma­jor!« schrie der Gre­na­dier.

»Adieu!« rief eine Frau­en­stim­me.

Und Phil­ipp de Sucy fiel vor Schreck er­starrt nie­der, über­wäl­tigt von der Käl­te, dem Schmerz und der Mü­dig­keit.

»Mei­ne arme Nich­te war irr­sin­nig ge­wor­den«, füg­te der Arzt nach ei­ner kur­z­en Pau­se hin­zu. »Ach, mein Herr«, fuhr er fort und er­griff Herrn d’Al­b­ons Hand, »wie ent­setz­lich wur­de das Le­ben für die­se klei­ne, so jun­ge, so zar­te Frau! Nach­dem sie in­fol­ge ei­nes un­glaub­li­chen Miß­ge­schicks von dem Gar­de­gre­na­dier, ei­nem ge­wis­sen Fleu­ri­ot, ge­trennt wor­den war, wur­de sie zwei Jah­re hin­durch hin­ter der Ar­mee her­ge­schleppt, als Spiel­zeug ei­nes Hau­fens von Elen­den. Man hat mir er­zählt, daß sie mit blo­ßen Fü­ßen, schlecht be­klei­det, gan­ze Mo­na­te hin­durch ohne Pfle­ge, ohne Nah­rung blieb; bald in Kran­ken­häu­sern ge­hal­ten, bald wie ein Tier weg­ge­jagt; Gott al­lein weiss, wie­viel Un­glück die­se Un­se­li­ge den­noch über­lebt hat! Sie be­fand sich in ei­ner klei­nen deut­schen Stadt, mit Irr­sin­ni­gen zu­sam­men­ge­sperrt, wäh­rend ihre Ver­wand­ten, die sie für tot hiel­ten, ihre Erb­schaft teil­ten. Im Jah­re 1816 er­kann­te sie der Gre­na­dier Fleu­ri­ot in ei­ner Straß­bur­ger Her­ber­ge, wo sie an­ge­langt war, nach­dem sie eben aus ih­rem Ge­fäng­nis ent­wi­chen war. Ei­ni­ge Bau­ern er­zähl­ten dem Gre­na­dier, daß die Grä­fin einen gan­zen Mo­nat in ei­nem Wal­de ge­lebt hät­te und daß sie nach ihr ge­jagt hät­ten, um sich ih­rer hab­haft zu ma­chen und zu ihr ge­lan­gen zu kön­nen. Ich be­fand mich da­mals we­ni­ge Mei­len von Straß­burg ent­fernt. Als ich von ei­nem wil­den Mäd­chen re­den hör­te, hat­te ich den Wunsch, die un­ge­wöhn­li­chen Tat­sa­chen fest­zu­stel­len, die Grund zu so lä­cher­li­chen Er­zäh­lun­gen ga­ben. Wie wur­de mir, als ich die Grä­fin wie­der­er­kann­te! Fleu­ri­ot be­rich­te­te mir al­les, was er von die­ser trau­ri­gen Ge­schich­te wuß­te. Ich nahm die­sen ar­men Men­schen mit mei­ner Nich­te nach der Au­ver­gne mit, wo ich das Un­glück hat­te, ihn zu ver­lie­ren. Er hat­te ein we­nig Herr­schaft über Frau von Van­dières. Er al­lein konn­te bei ihr er­rei­chen, daß sie sich an­klei­de­te. ›A­dieu!‹, die­ses Wort, worin ihr gan­zes Spre­chen be­stand, sag­te sie frü­her nur sel­ten. Fleu­ri­ot hat­te es un­ter­nom­men, ei­ni­ge Ge­dan­ken in ihr wie­der zu er­we­cken; aber er war nicht wei­ter­ge­kom­men, er hat­te sie nur dazu ge­bracht, die­ses trau­ri­ge Wort et­was häu­fi­ger aus­zu­spre­chen. Der Gre­na­dier ver­stand sie zu zer­streu­en und zu be­schäf­ti­gen, in­dem er mit ihr spiel­te, und auf sei­ne Kunst hoff­te ich, aber …«

Der On­kel Ste­pha­nies schwieg einen Au­gen­blick. »Hier«, fuhr er fort, »hat sie ein an­de­res We­sen ge­fun­den, mit dem sie sich zu ver­ste­hen scheint. Das ist eine idio­ti­sche Bäue­rin, die trotz ih­rer Häß­lich­keit und Stumpf­sin­nig­keit einen Mau­rer ge­liebt hat. Die­ser Mau­rer woll­te sie hei­ra­ten, weil sie ei­ni­ge Mor­gen Land be­sitzt. Die arme Ge­no­ve­fa war wäh­rend ei­nes Jah­res das glück­lichs­te Ge­schöpf der Welt. Sie putz­te sich und ging Sonn­tags mit Dal­lot tan­zen; sie ver­stand sich auf die Lie­be; es fand sich in ih­rem Her­zen und in ih­rem Geis­te Platz für ein sol­ches Ge­fühl. Aber Dal­lot stell­te sei­ne Über­le­gun­gen an. Er fand ein jun­ges Mäd­chen, das sei­nen ge­sun­den Ver­stand und zwei Mor­gen Land mehr be­saß als Ge­no­ve­fa. Da hat Dal­lot Ge­no­ve­fa ste­hen ge­las­sen. Das arme Ge­schöpf ver­lor das biß­chen In­tel­li­genz, das die Lie­be bei ihr ent­wi­ckelt hat­te, und ver­steht sich nun nur noch auf Kühe hü­ten und Gras schnei­den. Mei­ne Nich­te und die­ses arme Mäd­chen sind ge­wis­ser­ma­ßen durch die un­sicht­ba­re Ket­te ei­nes ge­mein­sa­men Ge­schicks an­ein­an­der ge­bun­den und durch das Ge­fühl, das ih­ren Irr­sinn ver­an­laßt hat. Hier, se­hen Sie«, sag­te Ste­pha­nies On­kel und führ­te den Mar­quis d’Al­bon ans Fens­ter.

Der Rich­ter be­merk­te jetzt in der Tat die hüb­sche Grä­fin auf der Erde zwi­schen den Bei­nen Ge­no­ve­fas sit­zend; die mit ei­nem rie­si­gen knö­cher­nen Kamm be­waff­ne­te Bäue­rin wen­de­te viel Sorg­sam­keit dar­auf, das lan­ge schwar­ze Haar Ste­pha­nies durch­zu­käm­men, die sich das ge­fal­len ließ, in­dem sie er­stick­te Schreie von sich gab, de­ren Ak­zent ein in­stink­tiv emp­fun­de­nes Be­ha­gen ver­riet. Herr d’Al­bon er­schau­er­te, als er die Hin­ge­bung des Kör­pers und die tie­ri­sche Halt­lo­sig­keit be­merk­te, die bei der Grä­fin die voll­kom­me­ne Ab­we­sen­heit des Geis­tes ver­riet.

»Phil­ipp, Phil­ipp!« rief er aus, »das ver­gan­ge­ne Un­glück be­deu­tet ja noch nichts. Gibt es denn kei­ne Hoff­nung mehr?«, frag­te er.

Der alte Arzt hob die Au­gen zum Him­mel em­por.

»Adieu, mein Herr«, sag­te Herr d’Al­bon und drück­te dem Al­ten die Hand. »Mein Freund er­war­tet mich, Sie wer­den ihn bald se­hen.«

»Also sie ist es doch!« rief Sucy aus, nach­dem er die ers­ten Wor­te des Mar­quis d’Al­bon ge­hört hat­te.

»Ach, ich zwei­fel­te noch dar­an«, füg­te er hin­zu und ließ ei­ni­ge Trä­nen aus sei­nen dunklen Au­gen her­ab­fal­len, de­ren Aus­druck un­ge­wöhn­lich ernst war.

»Ja, es ist die Grä­fin von Van­dières«, ant­wor­te­te der Rich­ter.

Der Oberst er­hob sich jäh und klei­de­te sich ei­lig an.

»Aber Phil­ipp!« sag­te der Rich­ter ver­blüfft, »wirst du ver­rückt?«

»Aber ich bin ja nicht mehr krank«, ant­wor­te­te der Oberst ein­fach. »Die­se Nach­richt hat alle mei­ne Schmer­zen be­ru­higt. Und was für ein Un­glück könn­te ich emp­fin­den, wenn ich an Ste­pha­nie den­ke. Ich gehe nach Bons-Hom­mes, sie se­hen, mit ihr spre­chen, sie hei­len. Sie ist frei. Schön! Das Glück wird uns lä­cheln, oder es gäbe kei­ne Vor­se­hung mehr. Glaubst du denn, daß die­se arme Frau mich an­hö­ren könn­te, ohne ih­ren Ver­stand wie­der zu ge­win­nen?«

»Sie hat dich schon ge­se­hen, ohne dich wie­der­zu­er­ken­nen«, ent­geg­ne­te sanft der Rich­ter, der, als er die über­trie­be­ne Hoff­nung sei­nes Freun­des wahr­nahm, ver­such­te, ihm heil­sa­men Zwei­fel ein­zu­flö­ßen. Der Oberst er­zit­ter­te. Aber er be­gann zu lä­cheln und ließ sich eine leich­te Be­we­gung der Ungläu­big­keit ent­schlüp­fen. Nie­mand wag­te es, dem Plan des Obers­ten sich zu wi­der­set­zen. Nach we­ni­gen Stun­den be­fand er sich in der al­ten Prio­rei bei dem Arz­te und der Grä­fin von Van­dières.

»Wo ist sie?« rief er aus, als er an­kam.

»Still!« ant­wor­te­te ihm Ste­pha­nies On­kel. »Sie schläft. Dort ist sie.«

Phil­ipp sah die arme Irre in der Son­ne auf ei­ner Bank nie­der­ge­hockt. Ihr Kopf war ge­gen die Hit­ze der Luft durch einen Wald ver­wirr­ter Haa­re auf ih­rem Ge­sicht ge­schützt; ihre Arme hin­gen gra­zi­ös bis auf die Erde hin­ab; ihr Kör­per lag in reiz­vol­ler Stel­lung wie der ei­ner Hirsch­kuh; ihre Füße wa­ren ohne Mühe un­ter ihr zu­sam­men­ge­bo­gen; ihr Bu­sen hob sich in re­gel­mä­ßi­gen In­ter­val­len; ihre Haut, ihr Teint wies die Por­zel­lan­bläs­se, die wir so sehr auf den Ge­sich­tern von Kin­dern be­wun­dern. Un­be­weg­lich ne­ben ihr ste­hend, in der Hand einen Zweig, den Ste­pha­nie zwei­fel­los von dem höchs­ten Wip­fel ei­nes Pap­pel­baums ab­ge­pflückt hat­te, be­weg­te die Idio­tin sanft die Blät­ter über ih­rer ein­ge­schla­fe­nen Ge­fähr­tin, um die Flie­gen zu ver­ja­gen und die Luft zu er­fri­schen. Die Bäue­rin be­trach­te­te Herrn Fan­jat und den Obers­ten; dann, wie ein Tier, das sei­nen Herrn er­kannt hat, wand­te sie lang­sam den Kopf der Grä­fin zu und fuhr fort, über ihr zu wa­chen, ohne das ge­rings­te Zei­chen von Er­stau­nen oder Ver­ständ­nis zu ge­ben. Die Luft war glü­hend. Die Stein­bank schi­en zu fun­keln, und die Wie­se strahl­te dem Him­mel die­se ru­he­lo­sen Düf­te ent­ge­gen, die über den Kräu­tern flim­mern und glü­hen wie ein gol­de­ner Staub; aber Ge­no­ve­fa schi­en die ver­zeh­ren­de Hit­ze nicht zu spü­ren. Der Oberst drück­te hef­tig die Hän­de des Arz­tes in den sei­ni­gen. Aus den Au­gen des Sol­da­ten roll­ten Trä­nen die männ­li­chen Wan­gen ent­lang und fie­len auf den Ra­sen zu Ste­pha­nies Fü­ßen.

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5534 стр. 474 иллюстрации
ISBN:
9783962815226
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Правообладатель:
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