»Das ist das erstemal, daß man dreißig Infanteristen auf einem Pferde gesehen hat,« rief der Grenadier, der das Tier abgestochen hatte.
Das war der einzige Scherz, der nationalen Witz bezeugte.
Bald rollte sich die Mehrzahl der armen Soldaten in ihre Kleider, legte sich auf Bretter, auf alles, was sie vor der Berührung mit dem Schnee schützen konnte, und schlief unbekümmert bis zum nächsten Morgen. Als der Major sich erwärmt und seinen Hunger gefüllt hatte, drückte ihm ein unbezwingliches Schlafbedürfnis auf die Wimpern. Während seines ziemlich kurzen Kampfes mit dem Schlafe betrachtete er die junge Frau, die, mit dem Gesicht zum Feuer gewendet, um zu schlafen, ihre geschlossenen Augen und einen Teil ihrer Stirn sehen ließ; sie war in einen dichten Pelz und einen dicken Dragonermantel gewickelt; ihr Kopf lag auf einem blutbefleckten Kopfkissen; ihre, von einem um den Hals geschlungenen Taschentuch festgehaltene Astrachanmütze schützte ihr Gesicht so viel als möglich vor der Kälte; die Füße hatte sie in den Mantel versteckt. So in sich selbst zusammengerollt, glich sie in der Tat nichts Menschlichem. War sie die letzte Marketenderin? War sie die entzückende Frau, der Stolz eines Liebhabers, die Königin der Pariser Bälle? Ach! Selbst das Auge ihres hingebendsten Freundes konnte nichts Weibliches mehr in diesem Haufen von Wäsche und Lumpen erkennen. Der Kälte war die Liebe im Herzen einer Frau gewichen. Durch die dichten Schleier, die der unwiderstehlichste Schlaf über die Augen des Majors breitete, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punkte. Die Flammen des Feuers, die Gesichter überall, die schreckliche Kälte, die, drei Schritte von der flüchtigen Wärme entfernt, sich durchbohrend geltend machte, alles floß in einen Traum zusammen. Ein peinlicher Gedanke erschreckte Philipp. »Wir werden alle sterben, wenn ich einschlafe; ich will nicht schlafen,« sagte er sich. Aber er schlief. Ein schrecklicher Lärm und eine Explosion erweckten Herrn de Sucy nach einer Stunde Schlaf. Das Gefühl, seine Pflicht tun zu müssen, die Gefahr seiner Freunde fielen ihm plötzlich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähnlich einem Geheul aus. Er und sein Soldat standen allein aufrecht. Sie erblickten ein Feuermeer vor sich, das im Schatten der Nacht vor ihnen eine Masse Menschen abschnitt, indem es die Hütten und Zelte verzehrte; sie hörten Verzweiflungsschreie und Geheul; sie sahen Tausende von entsetzten Gesichtern und wütenden Köpfen. Inmitten dieser Hölle bahnte sich eine Kolonne von Soldaten einen Weg nach der Brücke zu zwischen zwei Reihen von Kadavern hindurch.
»Das ist der Rückzug unsres Nachtrabs!« rief der Major. »Keine Hoffnung mehr!«
»Ich habe Ihren Wagen geschont, Philipp,« sagte eine Freundesstimme.
Als er sich umwandte, erkannte Sucy beim Licht der Flammen den jungen Adjutanten.
»Ach, es ist alles verloren!« erwiderte der Major. »Sie haben mein Pferd verzehrt. Und wie soll ich auch den stumpfsinnigen General und seine Frau auf den Weg bringen?«
»Nehmen Sie einen Feuerbrand und drohen Sie ihnen.«
»Soll ich die Gräfin bedrohen?«
»Adieu!« rief der Adjutant. »Ich habe gerade nur noch Zeit, diesen fatalen Fluß zu überschreiten, und das muß geschehen. Ich habe eine Mutter in Frankreich. Was für eine Nacht! Diese Masse hier will lieber auf dem Schnee bleiben, und die Mehrzahl dieser Unglücklichen will sich lieber verbrennen lassen als sich erheben. Es ist vier Uhr, Philipp! In zwei Stunden werden die Russen anfangen sich zu rühren. Ich versichere Ihnen, daß Sie die Beresina bald voller Leichname sehen werden. Denken Sie an sich, Philipp! Sie haben keine Pferde, Sie können die Gräfin nicht tragen; also vorwärts, kommen Sie mit mir,« sagte er und faßte ihn am Arme.
»Aber, lieber Freund, wie soll ich Stephanie verlassen!«
Der Major ergriff die Gräfin, stellte sie auf die Beine, schüttelte sie mit der Rauheit eines Verzweifelten und zwang sie, aufzuwachen; sie sah ihn mit totem, starrem Blicke an.
›Wir müssen vorwärts, Stephanie, oder wir sterben hier.‹
Als alle Antwort versuchte die Gräfin, sich zur Erde gleiten zu lassen, um zu schlafen. Der Adjutant ergriff einen Feuerbrand und bewegte ihn vor dem Gesicht Stephanies hin und her.
›Retten wir sie gegen ihren Willen!‹ rief Philipp, hob die Gräfin auf und trug sie in den Wagen.
Er kehrte zurück und bat den Adjutanten um Hilfe. Beide nahmen den alten General, ohne zu wissen, ob er tot oder lebendig war, und legten ihn neben seine Frau. Der Major stieß mit dem Fuße jeden einzelnen der auf der Erde liegenden Leute weg, nahm ihnen ab, was sie geraubt hatten, häufte alle Kleider auf die beiden Gatten und warf in eine Ecke des Wagens etliche gebratene Stücke ihres Pferdes. ›Was wollen Sie denn machen?‹ fragte ihn der Adjutant.
›Sie schleppen‹, sagte der Major.
›Sie sind wohl toll!‹
›Das ist wahr!‹ rief Philipp und kreuzte die Arme über der Brust.
Plötzlich schien er von einem verzweifelten Gedanken gepackt zu sein.
›Du!‹, sagte er und ergriff den gesunden Arm seines Soldaten, ›ich vertraue sie dir für eine Stunde an! Denke daran, daß du eher sterben mußt, als, wer es auch sei, an den Wagen herankommen lassen darfst.‹ Der Major bemächtigte sich der Diamanten der Gräfin, nahm sie in die eine Hand, zog mit der andern den Säbel und begann wütend auf die Schläfer loszuschlagen, die er für die unerschrockensten hielt, und es gelang ihm auch, den kolossalen Grenadier und noch zwei andere Männer, deren militärischer Rang unmöglich zu erkennen war, aufzuwecken.
»Wir sind verloren«, sagte er zu ihnen.
»Das weiß ich wohl,« antwortete der Grenadier, »aber das ist mir egal.«
»Nun also, so oder so tot, ist es nicht besser, sein Leben für eine hübsche Frau zu verkaufen, auf die Gefahr hin, Frankreich noch einmal wiederzusehen?«
»Ich will lieber schlafen,« sagte einer von den Leuten und rollte auf den Schnee, »und wenn du mich weiter belästigst, Major, werde ich dir mein Bajonett in die Wampe pflanzen.«
»Worum handelt es sich, Herr Major?«, fragte der Grenadier. »Der Kerl ist betrunken! Das ist ein Pariser; die wollen es bequem haben.«
»Das hier ist für dich, mein braver Kerl,« rief der Major und bot ihm einen Diamantenschmuck an, »wenn du mir folgen und wie ein Wilder kämpfen willst. Die Russen werden in zehn Minuten auf dem Marsche sein, sie sind beritten; wir werden auf ihre erste Batterie losmarschieren und zwei Pferde mit uns nehmen.«
»Aber die Schildwachen, Herr Major?«
»Einer von uns dreien« , sagte er zu dem Soldaten. Er unterbrach sich und sah den Adjutanten an; »Sie kommen mit uns, Hippolyt, nicht wahr?«
Hippolyt stimmte mit einem Kopfnicken zu.
»Einer von uns«, fuhr der Major fort, »wird die Schildwache auf sich nehmen. Übrigens werden sie auch vielleicht schlafen, diese verdammten Russen.«
»Bist du wirklich so tapfer, mein Major? Aber du wirst mich auch in deinem Wagen mitnehmen?» sagte der Grenadier.
»Jawohl, wenn du dort oben nicht dein Fell opfern mußt. Wenn ich falle, versprecht mir, Hippolyt und du, Grenadier,» sagte der Major und wandte sich an seine beiden Gefährten, ,»daß ihr euch für die Rettung der Gräfin aufopfern wollt.»
»Abgemacht«, rief der Grenadier.
Sie wandten sich der Linie der Russen zu, nach den Batterien hin, die so furchtbar die Masse der Unglücklichen zerschmettert hatten, die am Ufer des Flusses lagen. Einige Augenblicke nach ihrem Verschwinden ertönte der Galopp zweier Pferde auf dem Schnee, und die wachgewordene Batterie sandte einige Salven hinterher, die über die Häupter der Schläfer hinweggingen; der Galopp der Pferde war so überstürzt, daß man von Schmiedhämmern hätte reden mögen. Der edelmütige Adjutant war gefallen. Der athletische Grenadier war heil und gesund geblieben. Philipp hatte bei der Verteidigung seines Freundes einen Bajonettstich in die Schulter erhalten; trotzdem klammerte er sich an die Nackenhaare des Pferdes und preßte es so fest mit seinen Beinen, daß das Tier sich wie in einem Schraubstock befand.
»Gott sei gelobt!« rief der Major, als er seinen Soldaten unbeweglich im Wagen an seinem Platze vorfand.
»Wenn Sie gerecht sein wollen, Herr Major, werden Sie mir das Kreuz verschaffen. Wir haben hübsch mit dem Schießprügel und dem Stichgewehr gespielt, was?«
»Wir haben noch nichts geleistet. Jetzt müssen wir die Pferde anspannen. Nehmen Sie die Seile.«
»Es sind nicht genug davon vorhanden.«
»Dann, Grenadier, müssen Sie Hand an die Schläfer legen und ihre Umhänge und ihre Wäsche dazu nehmen …«
»Sieh mal an, er ist tot, dieser Hanswurst!« rief der Grenadier, als er den ersten, an den er sich wandte, umdrehte. »Ach, wie komisch, sie sind ja tot!«
»Alle?«
»Jawohl, alle! Es scheint, das Pferd ist ein unverdauliches Essen, wenn man es mit Schnee genießt.« diese Worte ließen Philipp erzittern. Der Frost war noch stärker geworden.
»Mein Gott! Eine Frau verlieren, die ich schon zwanzigmal gerettet habe.«
Der Major schüttelte die Gräfin und rief: »Stephanie! Stephanie!«
Die junge Frau öffnete ihre Augen.
»Wir sind gerettet, Madame.«
»Gerettet!« wiederholte sie und fiel zurück.
Die Pferde wurden, so gut es ging, angespannt. Mit seinem Säbel in der gesunden Hand, die Zügel in der andern, bestieg er, mit seinen Pistolen bewaffnet, das eine Pferd, während der Grenadier sich auf das andere setzte. Der alte Soldat, dessen Füße erfroren waren, wurde quer in den Wagen über den General und die Gräfin geworfen. Durch Säbelhiebe angestachelt, trugen die Pferde die Equipage mit wütender Eile in die Ebene hinaus, wo unzählige Schwierigkeiten den Major erwarteten. Bald war es unmöglich, vorwärts zu kommen, ohne zu riskieren, Männer, Frauen und eingeschlafene Kinder totzufahren, die alle sich zu rühren verweigerten, als der Grenadier sie aufweckte. Vergeblich suchte Herr de Sucy den Weg, den der Nachtrab inzwischen sich mitten in dieser Menschenmasse gebahnt hatte; er war verschwunden wie das Kielwasser des Schiffes auf dem Meere; es ging nur im Schritt weiter, meist von den Soldaten angehalten, die damit drohten, die Pferde zu töten.
›Wollen Sie weiter kommen?‹ fragte der Grenadier.
›Um den Preis meines Blutes, um den Preis der ganzen Welt‹, erwiderte der Major.
›Vorwärts! Man macht keine Omeletten, ohne Eier zu zerschlagen.‹
Und der Grenadier jagte die Pferde auf die Menschen los, ließ blutige Geleise hinter sich, stürzte die Zelte um und bahnte sich eine doppelte Furche quer durch dieses Feld von Köpfen. Aber wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er niemals unterließ, mit donnernder Stimme zu rufen: ›Achtung, ihr Biester!‹
›Die Unglücklichen!‹ rief der Major.
›Bah! Entweder der Frost oder die Kanonen!‹ sagte der Grenadier, trieb die Pferde an und stach mit der Spitze seines Säbels auf sie los.
Eine Katastrophe, die ihnen sehr viel früher hätte begegnen und vor der bis dahin ein fabelhafter Zufall sie bewahrt hatte, hielt plötzlich ihren Weg an. Der Wagen stürzte um.
›Das dachte ich mir!‹ rief der unerschütterliche Grenadier aus. ›Oh, oh! Der Kamerad ist tot!‹
›Armer Laurent!‹ sagte der Major.
›Laurent? Ist er nicht von den fünften Jägern?‹
›Jawohl.‹
›Das ist mein Vetter. Bah! Das Hundeleben ist nicht schön genug, daß man es in der jetzigen Zeit zu bedauern hätte.‹
Der Wagen wurde nicht wieder aufgerichtet, die Pferde nicht wieder freigemacht ohne einen unendlichen, nicht wieder gut zu machenden Zeitverlust. Der Stoß war so heftig gewesen, daß die junge Gräfin, die erwacht und durch die Bewegung aus ihrer Betäubung aufgerüttelt worden war, die Kleidungsstücke abwarf und sich erhob.
»Wo sind wir denn, Philipp?« rief sie mit sanfter Stimme und sah um sich.
»Fünfhundert Schritt von der Brücke entfernt. Wir wollen über die Beresina. Jenseits des Flusses, Stephanie, werde ich Sie nicht mehr quälen, werde Sie schlafen lassen, wir werden in Sicherheit sein und in Ruhe Wilna erreichen. Gebe Gott, daß Sie niemals erfahren, was Ihr Leben gekostet hat!«
»Du bist verwundet?«
»Es bedeutet nichts.«
Die Stunde der Katastrophe war herangekommen. Die Kanonen der Russen kündigten den Tag an. Herren von Studzianka, feuerten sie über die Ebene; und bei dem ersten Morgenlicht bemerkte der Major ihre Kolonnen sich auf den Höhen formieren. Ein Alarmgeschrei erhob sich mitten aus der Menge, die in einem Moment auf den Beinen war. Instinktmäßig begriff jeder die ihm drohende Gefahr, und alle drängten sich in Wellenbewegungen der Brücke zu. Die Russen eilten mit der Schnelligkeit eines Feuerbrandes hinab. Männer, Weiber, Kinder, Pferde, alles marschierte auf die Brücke los. Glücklicherweise befanden sich der Major und die Gräfin noch ziemlich entfernt vom Ufer. Der General Eblé hatte Feuer an die Zelte am andern Ufer gelegt. Trotz der Warnungen, die vor dem Betreten der Rettungsplanke gegeben wurden, wollte niemand zurückweichen. Nicht nur senkte sich die mit Menschen überladene Brücke, sondern der heftige Strom von Menschenzufluß stürzte wie eine verhängnisvolle Lawine so hinab, daß eine Menschenmenge wie ein Schneesturz ins Wasser mitgerissen wurde. Man hörte keinen Schrei, sondern nur das dumpfe Geräusch eines ins Wasser gefallenen Steins; dann war die Beresina mit Leichnamen bedeckt. Der Rückstoß derjenigen, die in die Ebene zurückwichen, um diesem Tode zu entgehen, war so furchtbar, daß eine große Menge von Leuten durch Erstickung starben. Der Graf und die Gräfin verdankten ihr Leben nur ihrem Wagen. Nachdem die Pferde eine Masse Sterbender zerschmettert und vernichtet hatten, gingen sie selbst zugrunde unter den Füßen einer Art menschlicher Wasserhose, die auf das Ufer stürzte. Der Major und der Grenadier retteten sich durch ihre Kraft. Sie töteten, um nicht selbst getötet zu werden. Dieser Orkan von menschlichen Gesichtern, dieses Hin- und Herfließen von durch die gleiche Bewegung getragenen menschlichen Körpern, ließ während einiger Augenblicke das Ufer der Beresina verlassen erscheinen. Die Masse hatte sich zurück in die Ebene geworfen. Wenn etliche Menschen sich von oben den steilen Abhang hinabließen, so geschah das weniger in der Hoffnung, das andere Ufer zu erreichen, was für sie Frankreich bedeutete, als um den Wüsten Sibiriens zu entrinnen. Die Verzweiflung wurde eine Rettung für etliche mutige Leute. Ein Offizier sprang von Scholle zu Scholle bis an das andere Ufer; ein Soldat kletterte mit wunderbarer Geschicklichkeit über einen Haufen von Leichnamen und Eisschollen. Diese riesenhafte Volksmasse begriff schließlich, daß die Russen nicht zwanzigtausend waffenlose, erfrorene, stumpfgewordene Menschen, die sich nicht verteidigen würden, töten wollten, und jeder erwartete sein Los mit furchtbarer Resignation. So blieben also der Major, sein Grenadier, der alte Soldat und seine Frau allein einige Schritte von dem Orte, wo sich die Brücke befand. Alle vier standen hier aufrecht, mit trockenen Augen, stillschweigend und von einer Menge Toter umgeben. Etliche kräftige Soldaten, etliche Offiziere, denen die Verhältnisse alle ihre Energie wiedergaben, fanden sich neben ihnen ein. Diese ziemlich zahlreiche Gruppe umfaßte ungefähr fünfzig Menschen. Der Major bemerkte in einer Entfernung von zweihundert Schritt die Ruinen der Brücke, die für die Wagen hergestellt, aber vorher zusammengebrochen war.
»Zimmern wir uns ein Floß zusammen!« rief er.
Kaum hatte er dieses Wort fallen lassen, als die ganze Gruppe auf die Trümmer zulief. Eine Menge Menschen schickte sich an, Eisenstäbe aufzusammeln, Holzstücke, Seile aufzusuchen, kurz alles für den Bau eines Flosses notwendige Material. Eine Truppe von zwanzig Soldaten und Offizieren bildeten eine von dem Major befehligte Garde, um die Arbeiter gegen die verzweifelten Angriffe zu schützen, die die Masse vollführen könnte, wenn sie ihren Plan erriet. Das Gefühl der Freiheit, das die Gefangenen beseelt und ihnen Wunder einflößt, kann mit dem nicht verglichen werden, das in diesem Augenblick die unglücklichen Franzosen handeln ließ.
»Da sind die Russen! Da sind die Russen!« schrieen den Arbeitern ihre Verteidiger zu.
Das Holz kreischte, die Bohlen wuchsen in die Breite, Höhe und Tiefe. Generale, Soldaten, Obersten, alles bog sich unter dem Gewicht der Räder, der Eisen, der Bretter: es war ein wahrhaftes Bild des Baues der Arche Noah. Die junge Gräfin saß neben ihrem Manne und sah mit Bedauern zu, weil sie an der Arbeit nichts mittun konnte; trotzdem half sie, Knoten zu knüpfen, um die Seile fester zu machen. Endlich war das Floß fertig. Vierzig Menschen stürzten sich ins Wasser des Flusses, während ein Dutzend Soldaten die Seile hielten, die dazu dienen sollten, an dem Abhang festzuhalten. Kaum aber sahen die Erbauer ihre Einschiffung auf der Beresina sich vollziehen, so stürzten sie sich von dem Ufer oben hinab mit äußerster Selbstsucht. Der Major, der die Wut des ersten Ansturms befürchtete, hielt Stephanie und den General an der Hand fest; aber er erbebte, als er die dunkle Masse sich einschiffen sah und die darauf zusammengepreßten Menschen erblickte, wie Zuschauer im Parterre eines Theaters.
›Ihr Wilden!‹ rief er, ›ich habe euch doch den Gedanken eingegeben, ein Floß zu erbauen; ich bin euer Retter, und ihr verweigert mir meinen Platz!‹
Ein verworrener Lärm war die Antwort. Die am Rande des Flosses untergebrachten und mit Stäben zum Abstoßen vom Abhang versehenen Männer stießen mit Gewalt den Holzzug vorwärts, um ihn an das andere Ufer zu drängen und ihn die Eisschollen und Leichname durchschneiden zu lassen.
›Zum Donnerwetter nochmal! Ich renne euch ins Wasser, wenn ihr den Major und seine beiden Gefährten nicht richtig aufnehmt!‹ schrie der Grenadier, erhob seinen Säbel, verhinderte ihren Aufbruch und ließ sie zusammenrücken trotz der schrecklichen Schreie.
›Ich werde fallen! Ich falle!‹ schrieen seine Gefährten. ›Immer weiter vorwärts.‹
Der Major betrachtete trockenen Auges seine Geliebte, die ihre Augen zum Himmel mit erhabener Ergebung aufhob.
»Mit dir zusammen sterben!« sagte sie.
Es lag etwas Komisches in der Haltung der Leute auf dem Floß. Obgleich sie ein schauderhaftes Gebrüll ausstießen, wagte doch keiner dem Grenadier Widerstand zu leisten; denn sie waren so zusammengedrängt, daß eine einzige Person nur zu stoßen brauchte, um alles umzustürzen. In dieser Gefahr versuchte ein Hauptmann sich von einem Soldaten zu befreien, der die feindliche Bewegung des Offiziers wahrnahm, ihn anpackte und ihn ins Wasser stürzte mit den Worten: »Ach, du Ente, du willst trinken! Na dann los!«
»Hier sind zwei Plätze frei!« rief er dann. »Vorwärts, Major, werfen Sie uns Ihre kleine Frau herüber und kommen Sie selbst mit! Lassen Sie doch den alten Mops zurück, der wird ja morgen doch sterben!«
»Beeilt euch!« schrie eine Stimme, die sich aus hundert zusammensetzte.
»Vorwärts, Major … Die andern schimpfen, und sie haben recht.«
Der Graf von Vandières entledigte sich seiner Umkleidung und stand aufrecht in seiner Generalsuniform.
»Retten wir den Grafen«, sagte Philipp.
Stephanie drückte ihrem Freunde die Hand, warf sich über ihn und umarmte ihn mit wildem Druck.
»Adieu!« sagte sie.
Sie hatten sich verstanden. Der Graf von Vandières fand seine Kräfte und seine Geistesgegenwart wieder, um zur Einschiffung hinunterzuspringen, wohin Stephanie ihm folgte, nachdem sie einen letzten Blick auf Philipp geworfen hatte.
»Major, wollen Sie meinen Platz haben? Ich pfeife aufs Leben« , rief der Grenadier. »Ich habe weder Frau, noch Kind, noch Mutter.«
»Ich vertraue sie dir an« , rief der Major und zeigte auf den Grafen und seine Frau.
»Seien Sie beruhigt, ich werde sie wie meinen Augapfel hüten.«
Das Floß wurde mit solcher Gewalt an das Ufer gestoßen, das der Stelle, wo Philipp unbeweglich stand, gegenüber war, daß sein Stoß an die Erde alles erschütterte. Der an Bord befindliche Graf rollte in den Fluß. Als er hineinfiel, schlug ihm eine Eisscholle auf den Kopf und trieb ihn wie eine Kugel weit weg.
»He! Major!« schrie der Grenadier.
»Adieu!« rief eine Frauenstimme.
Und Philipp de Sucy fiel vor Schreck erstarrt nieder, überwältigt von der Kälte, dem Schmerz und der Müdigkeit.
»Meine arme Nichte war irrsinnig geworden«, fügte der Arzt nach einer kurzen Pause hinzu. »Ach, mein Herr«, fuhr er fort und ergriff Herrn d’Albons Hand, »wie entsetzlich wurde das Leben für diese kleine, so junge, so zarte Frau! Nachdem sie infolge eines unglaublichen Mißgeschicks von dem Gardegrenadier, einem gewissen Fleuriot, getrennt worden war, wurde sie zwei Jahre hindurch hinter der Armee hergeschleppt, als Spielzeug eines Haufens von Elenden. Man hat mir erzählt, daß sie mit bloßen Füßen, schlecht bekleidet, ganze Monate hindurch ohne Pflege, ohne Nahrung blieb; bald in Krankenhäusern gehalten, bald wie ein Tier weggejagt; Gott allein weiss, wieviel Unglück diese Unselige dennoch überlebt hat! Sie befand sich in einer kleinen deutschen Stadt, mit Irrsinnigen zusammengesperrt, während ihre Verwandten, die sie für tot hielten, ihre Erbschaft teilten. Im Jahre 1816 erkannte sie der Grenadier Fleuriot in einer Straßburger Herberge, wo sie angelangt war, nachdem sie eben aus ihrem Gefängnis entwichen war. Einige Bauern erzählten dem Grenadier, daß die Gräfin einen ganzen Monat in einem Walde gelebt hätte und daß sie nach ihr gejagt hätten, um sich ihrer habhaft zu machen und zu ihr gelangen zu können. Ich befand mich damals wenige Meilen von Straßburg entfernt. Als ich von einem wilden Mädchen reden hörte, hatte ich den Wunsch, die ungewöhnlichen Tatsachen festzustellen, die Grund zu so lächerlichen Erzählungen gaben. Wie wurde mir, als ich die Gräfin wiedererkannte! Fleuriot berichtete mir alles, was er von dieser traurigen Geschichte wußte. Ich nahm diesen armen Menschen mit meiner Nichte nach der Auvergne mit, wo ich das Unglück hatte, ihn zu verlieren. Er hatte ein wenig Herrschaft über Frau von Vandières. Er allein konnte bei ihr erreichen, daß sie sich ankleidete. ›Adieu!‹, dieses Wort, worin ihr ganzes Sprechen bestand, sagte sie früher nur selten. Fleuriot hatte es unternommen, einige Gedanken in ihr wieder zu erwecken; aber er war nicht weitergekommen, er hatte sie nur dazu gebracht, dieses traurige Wort etwas häufiger auszusprechen. Der Grenadier verstand sie zu zerstreuen und zu beschäftigen, indem er mit ihr spielte, und auf seine Kunst hoffte ich, aber …«
Der Onkel Stephanies schwieg einen Augenblick. »Hier«, fuhr er fort, »hat sie ein anderes Wesen gefunden, mit dem sie sich zu verstehen scheint. Das ist eine idiotische Bäuerin, die trotz ihrer Häßlichkeit und Stumpfsinnigkeit einen Maurer geliebt hat. Dieser Maurer wollte sie heiraten, weil sie einige Morgen Land besitzt. Die arme Genovefa war während eines Jahres das glücklichste Geschöpf der Welt. Sie putzte sich und ging Sonntags mit Dallot tanzen; sie verstand sich auf die Liebe; es fand sich in ihrem Herzen und in ihrem Geiste Platz für ein solches Gefühl. Aber Dallot stellte seine Überlegungen an. Er fand ein junges Mädchen, das seinen gesunden Verstand und zwei Morgen Land mehr besaß als Genovefa. Da hat Dallot Genovefa stehen gelassen. Das arme Geschöpf verlor das bißchen Intelligenz, das die Liebe bei ihr entwickelt hatte, und versteht sich nun nur noch auf Kühe hüten und Gras schneiden. Meine Nichte und dieses arme Mädchen sind gewissermaßen durch die unsichtbare Kette eines gemeinsamen Geschicks aneinander gebunden und durch das Gefühl, das ihren Irrsinn veranlaßt hat. Hier, sehen Sie«, sagte Stephanies Onkel und führte den Marquis d’Albon ans Fenster.
Der Richter bemerkte jetzt in der Tat die hübsche Gräfin auf der Erde zwischen den Beinen Genovefas sitzend; die mit einem riesigen knöchernen Kamm bewaffnete Bäuerin wendete viel Sorgsamkeit darauf, das lange schwarze Haar Stephanies durchzukämmen, die sich das gefallen ließ, indem sie erstickte Schreie von sich gab, deren Akzent ein instinktiv empfundenes Behagen verriet. Herr d’Albon erschauerte, als er die Hingebung des Körpers und die tierische Haltlosigkeit bemerkte, die bei der Gräfin die vollkommene Abwesenheit des Geistes verriet.
»Philipp, Philipp!« rief er aus, »das vergangene Unglück bedeutet ja noch nichts. Gibt es denn keine Hoffnung mehr?«, fragte er.
Der alte Arzt hob die Augen zum Himmel empor.
»Adieu, mein Herr«, sagte Herr d’Albon und drückte dem Alten die Hand. »Mein Freund erwartet mich, Sie werden ihn bald sehen.«
»Also sie ist es doch!« rief Sucy aus, nachdem er die ersten Worte des Marquis d’Albon gehört hatte.
»Ach, ich zweifelte noch daran«, fügte er hinzu und ließ einige Tränen aus seinen dunklen Augen herabfallen, deren Ausdruck ungewöhnlich ernst war.
»Ja, es ist die Gräfin von Vandières«, antwortete der Richter.
Der Oberst erhob sich jäh und kleidete sich eilig an.
»Aber Philipp!« sagte der Richter verblüfft, »wirst du verrückt?«
»Aber ich bin ja nicht mehr krank«, antwortete der Oberst einfach. »Diese Nachricht hat alle meine Schmerzen beruhigt. Und was für ein Unglück könnte ich empfinden, wenn ich an Stephanie denke. Ich gehe nach Bons-Hommes, sie sehen, mit ihr sprechen, sie heilen. Sie ist frei. Schön! Das Glück wird uns lächeln, oder es gäbe keine Vorsehung mehr. Glaubst du denn, daß diese arme Frau mich anhören könnte, ohne ihren Verstand wieder zu gewinnen?«
»Sie hat dich schon gesehen, ohne dich wiederzuerkennen«, entgegnete sanft der Richter, der, als er die übertriebene Hoffnung seines Freundes wahrnahm, versuchte, ihm heilsamen Zweifel einzuflößen. Der Oberst erzitterte. Aber er begann zu lächeln und ließ sich eine leichte Bewegung der Ungläubigkeit entschlüpfen. Niemand wagte es, dem Plan des Obersten sich zu widersetzen. Nach wenigen Stunden befand er sich in der alten Priorei bei dem Arzte und der Gräfin von Vandières.
»Wo ist sie?« rief er aus, als er ankam.
»Still!« antwortete ihm Stephanies Onkel. »Sie schläft. Dort ist sie.«
Philipp sah die arme Irre in der Sonne auf einer Bank niedergehockt. Ihr Kopf war gegen die Hitze der Luft durch einen Wald verwirrter Haare auf ihrem Gesicht geschützt; ihre Arme hingen graziös bis auf die Erde hinab; ihr Körper lag in reizvoller Stellung wie der einer Hirschkuh; ihre Füße waren ohne Mühe unter ihr zusammengebogen; ihr Busen hob sich in regelmäßigen Intervallen; ihre Haut, ihr Teint wies die Porzellanblässe, die wir so sehr auf den Gesichtern von Kindern bewundern. Unbeweglich neben ihr stehend, in der Hand einen Zweig, den Stephanie zweifellos von dem höchsten Wipfel eines Pappelbaums abgepflückt hatte, bewegte die Idiotin sanft die Blätter über ihrer eingeschlafenen Gefährtin, um die Fliegen zu verjagen und die Luft zu erfrischen. Die Bäuerin betrachtete Herrn Fanjat und den Obersten; dann, wie ein Tier, das seinen Herrn erkannt hat, wandte sie langsam den Kopf der Gräfin zu und fuhr fort, über ihr zu wachen, ohne das geringste Zeichen von Erstaunen oder Verständnis zu geben. Die Luft war glühend. Die Steinbank schien zu funkeln, und die Wiese strahlte dem Himmel diese ruhelosen Düfte entgegen, die über den Kräutern flimmern und glühen wie ein goldener Staub; aber Genovefa schien die verzehrende Hitze nicht zu spüren. Der Oberst drückte heftig die Hände des Arztes in den seinigen. Aus den Augen des Soldaten rollten Tränen die männlichen Wangen entlang und fielen auf den Rasen zu Stephanies Füßen.