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V
Die Jüdin

 
Wenn nur das Mädchen sonst gesund und fromm
Vor Euren Augen aufgewachsen ist,
So blieb’s vor Gottes Augen, was es war.
Und ist denn nicht das ganze Christenthum
Auf’s Judenthum gebaut?
 
Lessing im Nathan. IV, 7.

Meine Schwester erinnerte sich, Marianen in B. . . schon gesehen zu haben. Beide Mädchen ließen sich nieder, um das Wann, Wo und Wie auszumitteln, und Herr Brand nahm neben Ferdinand Platz. Er bedauerte recht sehr, daß ein so geschätzter und thätiger Kaufmann, wie Herr Heinrich Albus gewesen, so plötzlich und auf eine so erbärmliche Art habe umkommen müssen. Es that ihm besonders leid, daß dieser Unglücksfall eben jetzt eingetreten, da derselbe Wohlstandshalber zu einem Aufschub der gewünschten Verbindung nöthigen würde, welcher er, als Vater, eigentlich niemals Hindernisse in den Weg zu legen gesonnen gewesen. Ungeachtet des großen Unglücks aber, welches bei seiner schnell resolvirten Abreise in ganz B. . . herum gewesen, habe er sich sehr gefreut, aus sicherem Munde zu hören, daß die wohllöblichen Gerichte die Handlung und die Bücher des Seeligen in einem ganz unerwartet günstigen Zustande gefunden hätten, obschon er eben deshalb beinahe besorgen müßte, den besten Arbeiter seines Comtoir’s einzubüßen, etc. – Zwischen alle dieses unzeitige Geschwätz, wobei Ferdinands Miene bald Befremdung, bald Beunruhigung, bald Unwillen ausdrückte, schob er mancherlei Fragen nach Comtoirs-Angelegenheiten ein, die Albus zu besorgen gehabt hatte, und schien sich mit der Vorsicht eines Geschäfts-Mannes auf den Fall vorzubereiten, daß der Arzt dem Kranken das Mitreisen nicht gestatten könnte.

Diese Mühe war vergeblich gewesen. Der Arzt kam, und fand kein Bedenken gegen die kurze Fahrt von 2 Meilen, da Ferdinands Schwäche nichts, als die Folge einer langen lethargischen Ohnmacht wäre. Auf Marianens Gesicht, von welchem bis dahin der Ausdruck der Unruhe nicht gewichen war, glänzte die Freude. Sobald der Arzt sich entfernt hatte (sehr zufrieden, wie es schien, mit dem Honorar, welches Herr Brand auf ein leise in sein Ohr gesprochenes Wort Ferdinands ihm mit schicklicher Verbergung eingehändiget haben mochte), mahnte sie ihren Vater an den Aufbruch. Sie that es mit einer so unverhehlbaren inneren Ungeduld, daß es mir weh that, ihrem Wunsche in den Weg treten zu müßen. Albus mußte zuvor die Effecten seines Bruders, die er bei mir niedergelegt hatte, in Empfang nehmen, und die Ausantwortung mußte niedergeschrieben werden. Er hatte, als nächster Verwandter des Ermordeten, über dessen Leiche zu verfügen. Auch waren die Leute noch nicht zurück, die ich am Morgen in den Wald gesendet hatte, um Ferdinands Terzerol aufzusuchen. Für meine Acten war dieser Umstand von einiger Bedeutung. Es war immer ein bewaffnet gewesener Mann, welcher mir die Anzeige des Mordes gemacht hatte, ohne Auskunft geben zu können, wo dieses tödtliche Werkzeug, welches er gegen den entfliehenden Räuber gebraucht haben wollte, hingekommen sei. Ich bat den Kammerrath, ausspannen zu lassen, und das Mittagsmahl bei mir einzunehmen. Es bedurfte nur der Erwähnung, daß die Goldbörse und Brieftasche des Verunglückten einen Werth von 8000 Thalern enthielten, um ihn von der Nothwendigkeit einer unverzögerten rechtsförmlichen Ausantwortung zu überzeugen. Der Anblick der Geliebten schien dem Leidenden seine physischen Kräfte wiedergegeben zu haben. Er folgte uns in das Speisezimmer am Arme meiner Schwester, und wählte seinen Platz nicht eher, bis Mariane den ihrigen genommen hatte, um ihr gegenüber das Augen-Mahl ihrer Reize zu genießen. Das Mädchen hatte mich so sehr für ihre Leidenschaft interessirt, daß ich Vergnügen daran fand, die beiden Liebenden zu beobachten. Ferdinand sprach sehr wenig, und aß wenig mehr, als er sprach. Seine Augen wichen selten von Marianens Gestalt, und schienen die leichten und anmuthigen Bewegungen derselben am liebsten zu verfolgen, wenn sie es nicht zu bemerken schien. Ihre Blicke vermieden es bisweilen merklich, den seinigen zu begegnen, und ich glaubte mehr als einmal ein flüchtiges Erröthen über den Ausdruck der letzteren zu bemerken, der ihr zu verständlich für den Dritten vorkommen mochte.

Meine Beobachtungs-Lust schien ihr nicht entgangen zu seyn, und sie suchte meine Aufmerksamkeit von Ferdinand abzuleiten durch ein Gespräch mit mir. Sie lenkte dasselbe auf meinen Beruf, und indem sie nach den Mitteln fragte, durch welche ich hoffen könnte, Heinrichs Mörder zu entdecken, hob sie mich unvermerkt auf das Steckenpferd aller Criminalisten. Ihre Art sich auszudrücken, und ihre Bemerkungen über Gegenstände, die ihr nothwendig fremd seyn mußten, verriethen einen Verstand von ungewöhnlicher Klarheit und Bildung, und ein Empfindungs-Vermögen, welches mit demselben in der glücklichsten Wechselwirkung stand. Alles, was sie sprach, nahm so unwiderstehlich für sie ein, daß sich in mir die Neugierde regte, zu erfahren, wie die Tochter eines so wenig einnehmenden Vaters zu so viel geistigen Vorzügen von der Art gekommen seyn möchte, wie sonst nur eine sehr gute Erziehung und der tägliche Umgang mit vorzüglichen Menschen sie zu entwickeln pflegen. Die Gegenwart des Herrn Brand erlaubte meiner Neugierde keine Frage, die geradezu auf diesen Gegenstand gegangen wäre. Aber meine Schwester verschaffte mir zufällig einiges Licht darüber. Sie hatte in B. . . von einer Madame Brand sprechen hören, welche den Ruhm einer ausgezeichneten Clavierspielerin hinterlassen; und fragte, ob dieselbe eine Verwandte ihres Hauses gewesen. »Meine Mutter,« antwortete Mariane, und mit welchem Tone, mit welcher Miene! Die reinste Kindesliebe, welcher das Grab keine Schranke setzt, welche durch die irdische Trennung an Innigkeit eher gewinnt als verliert, und jedes freundliche Andenken des Dritten mit wehmüthiger Freude vernimmt, klang in ihrer Stimme, malte sich in ihren Augen. Meine Schwester schwieg. Herr Brand nahm das Wort.

»Es muß wahr seyn« – sagte er trocken wie immer: »sie spielte gewaltig schön, und war auch sonst eine seelengute Frau. Sie hat vor zwei Jahren das Zeitliche gesegnet, und war aus dem Stamme« – Er stockte hier plötzlich mit einer Art von Verlegenheit.

Ein heiteres Lächeln spielte um Marianens Mund. »Unsere Familie ist jüdisch, Herr Criminalrichter,« sagte sie.

»Gewesen, gewesen,« verbesserte Herr Brand.

»Nicht doch, lieber Vater, die Familie ist nicht der Glaube. Es war das Werk meiner guten – meiner unvergeßlichen Mutter, daß wir Christen wurden; aber sie hat es niemals verläugnet, daß sie als Jüdin geboren war.«

»Nun, es gilt auch gleichviel unter den Aufgeklärten,« sagte Herr Brand. Er lenkte das Gespräch wieder auf Heinrichs Mörder, dankte dem Himmel, daß wenigstens die Beraubung dem Bösewicht nicht gelungen sei, und wendete sich endlich an Ferdinand mit der tölpelhaften Frage: »Aber war es denn gar nicht möglich, werther Herr Albus, daß Sie mit Ihrem Pistol geschwinder herbei kommen, und dem Herrn Bruder auch das Leben retten konnten?«

Mariane fuhr zusammen bei diesen Worten, und sah mit steigender Angst den Eindruck derselben auf Ferdinands Gesichte sich malen. Er antwortete nichts, sah den Kammerrath mit starren Augen an, wurde blaß, seine Lippen zitterten, er schien aufstehen zu wollen.

»Lieber Herr Albus!« sagte Mariane, mit so rührender Bitte, daß ich, der unbetheiligte Hörer, augenblicklich den Andrang von Thränen in meinen Augen fühlte. Das reizende Geschöpf schien über die Leidenschaften ihres Geliebten mit zauberischer Allmacht zu herrschen. Er schlug die Augen nieder, erhob sie dann langsam auf Marianen, und sagte mit einem leisen Seufzer: »Welche Frage!« Das Mädchen blickte mich bittend an. Ich konnte sie nicht mißverstehen, und hob die Tafel auf.

Das Geschäft der Ausantwortung von Heinrichs Brieftasche, Börse und Uhr wurde mit aller möglichen Schonung für Ferdinands reizbares Gemüth abgethan. Er unterzeichnete bloß das Protokoll, nachdem ich die Gegenstände dem Kammerrath übergeben hatte. Mit Diesem allein besprach ich die Angelegenheit des Begräbnisses. Er war ganz der Mann dazu. Inzwischen kam die unangenehme Meldung, daß alles Suchen nach dem vermißten Terzerol vergeblich gewesen sei. Ich konnte Ferdinand nicht abreisen lassen, ohne ihn nochmals darüber zu befragen, wo er es gelassen haben könnte. Mariane war zugegen. Sie schien zu besorgen, daß dieser Umstand einen Aufenthalt verursachen möchte.

»Besinnen Sie sich doch, lieber Albus,« sagte sie, indem sie die flache Hand auf seine Stirn legte. Die Berührung schien selbst auf sein Gedächtniß belebend zu wirken.

»Ich glaube« – sagte er, indem er Marianen ansah, als ob er aus ihren Augen zu lesen hoffte, was er in seinem Gehirn nicht finden konnte: »ja fürwahr! Ein Lauf war noch geladen – auf der Brücke – ich dachte an Dich – es ist mir klar, ich hab’ es in den Strom geschleudert, um nicht« – –

»Zum Selbstmörder zu werden,« ergänzte Mariane im Tone des Vorwurfs.

»So ist es, Herr Criminalrichter, ich entsinne mich jetzt deutlich, Sie können darauf bauen.«

Die Sache war in der That so wahrscheinlich, daß meine criminalistischen Bedenklichkeiten gänzlich verschwanden. Ich begnügte mich, diese spätere Auskunft am Rande des Erzählungsprotokolls nachzutragen, ohne Ferdinand mit einer neuen Unterschrift zu bemühen.

Bei’m Abschiede bat mich Herr Brand mit mehr Angelegentlichkeit, als ich von ihm erwartet hatte, daß ich und die Meinigen, so oft wir nach B. . . kämen, sein geringes Haus als das unsrige ansehen möchten.

»O, das werden Sie thun, mein lieber Herr,« sagte Mariane, indem sie mir die schöne Hand reichte, um mein Angelöbniß zu empfangen: – »und Sie, gütige Frau, und Sie, meine neue schwesterliche Freundin! Oder – werden Sie das christliche Judenmädchen verschmähen?«

Sie stieg zuletzt in den Wagen, nachdem sie dem Bedienten am Schlage die Worte zugeflüstert hatte: »Das Bild in seinem Zimmer muß weg, eh’ er es betritt.«

VI
Die Bande

 
Der Wald ist unser Nachtquartier,
Der Mond ist unsre Sonne.
 
Schillers Räuber.

Die nächsten Wochen vergingen mir in zerstreuenden Berufsgeschäften. Der Mord hatte Schrecken in der Umgegend verbreitet. Was die Criminal-Polizei des Nachbarstaates mir früher verweigert hatte, damit kam sie mir nun selbst entgegen: sie bot die Mitwirkung eines Jäger-Regimentes zur Säuberung des Waldes an. Mit Hülfe der wenigen vaterländischen Truppen, welche die Garnison von B. . . ausmachten, wurde nun die Einschließung des Gehölzes möglich, während die beiderseitigen Gensd’armen alle Schlupfwinkel durchsuchten. Eine im ganzen Walde zerstreute Spitzbuben-Colonie von einigen und zwanzig Personen, die zum Theil Weiber und Kinder bei sich hatten, wurde am ersten Tage aufgegriffen. Die Schluchten, Höhlen und Erdhütten, worinnen sie haus’ten, ließen keinen Zweifel über ihr Hauptgewerbe: Wilddieberei und Viehstehlen. Sie hatten hier und da kleine Wildkammern angelegt, und man traf Weiber gleichsam in flagranti an, beschäftiget mit dem Ausschlachten von Schaafen, welche die Bezeichnung benachbarter Heerden trugen. Jagdgewehr aller Art, Pistolen, Munition, Diebes-Instrumente, Reisekoffer, an denen noch durchschnittene Stricke hingen, und mancherlei Sachen, die gestohlen zu seyn schienen, fanden sich im Ueberfluß. Aus den vorläufigen Geständnissen der Nomaden ging hervor, daß sie vielfache gaunerische Verbindungen außerhalb des Waldes hatten, und mehrere Hehler in den benachbarten Dörfern und Flecken wurden eingezogen. Die Verhafteten wurden zwischen beiden Ländern nach Maaßgabe der Gebiete vertheilt, wo sie angetroffen worden waren.

Ich hatte diesen kleinen Feldzug in Person mitgemacht, und ich kann nicht läugnen, daß mich dazu noch eine andere Neugier bestimmt hatte, als die criminalistische. Der Offizier, welcher das Militär-Detaschement aus B. . . befehligte, ein junger Mann von viel geselliger und wissenschaftlicher Bildung, kannte das Brandische Haus, und sprach von dem reizenden »christlichen Judenmädchen« eben so gern, als ich. Ihr Ruf war ohne Flecken, und der kaufmännische Credit ihres Vaters unbezweifelt. Sie war sein einziges Kind, höchstens 18 Jahr alt, in der geselligen Welt beliebt, häußlich aus Neigung, und vermöge ihres Einflusses auf den Vater unabhängig von der doppelt so alten, entfernten Verwandten, welche seit dem Tode ihrer Mutter die Zügel des Haushaltes führte. Sie galt, wenn nicht für eine glänzende, doch für eine sehr gute Parthie, und man hatte eine Zeit lang den Kaufmann Heinrich Albus für den Glücklichen gehalten, welchem Herr Brand sie für den Fall zugedacht habe, wenn dessen seit einigen Jahren eröffnete Seiden-Waaren-Handlung den Schwung nehmen würde, welchen seine Thätigkeit, Umsicht und Sparsamkeit hoffen ließen. Seit einem Jahre ungefähr war man aber anderer Meinung geworden. Um diese Zeit kam Ferdinand Albus von einer zweijährigen Reise zurück, die er als Diener eines großen hansestädtischen Hauses nach Nordamerika gemacht hatte, und besuchte seinen älteren Bruder in B. . ., wo er zuvor nie gewesen war. Sein Aufenthalt verlängerte sich über die gewöhnlichen Zeitgrenzen eines Besuches, und durch Heinrichs nachdrückliche Verwendung trat er nicht nur als Commis in Brands Comtoir, sondern wurde auch dessen Hausgenosse. Seit dieser Zeit glaubte man in B. . ., er sei Willens zu dienen um das schöne Judenmädchen »sieben Jahr,« und es geschehe mit Einstimmung des Bruders, der sein mäßiges elterliches Erbtheil in den Händen haben sollte. Seit Heinrichs Ermordung aber war man überzeugt, daß Herr Brand die alttestamentliche Dienstzeit um die Tochter abkürzen würde, weil Ferdinand unverhofft der Erbe eines Vermögens geworden war, über dessen Ansehnlichkeit der gerichtliche Befund keinen Zweifel gelassen hatte.

Den Ferdinand kannte der Offizier genauer, als er dessen Bruder gekannt hatte, und meinte, daß derselbe viel besser zum Soldaten, als zum Handelsmanne taugen würde. Er sei voll Feuer und Leben, ein guter Reiter, Schwimmer, Tänzer, Eisläufer, Jagdschütz – auch Fechter muthmaßlich – denn er benehme sich, bei einer ungewöhnlichen Heftigkeit, immer wie ein Mann, der keine Ehrenhändel scheut. Jenes Fehlers ungeachtet sei er aber im geselligen Umgange sehr beliebt, und habe unter den Männern seines Alters mehr Freunde, als Feinde, weil er für das, was Andere interessire, einer schnellen und warmen Theilnahme fähig sei. Sein Lebenswandel sei durchaus anständig und geregelt, seine Ausgabe mäßig, und wenn er für irgend eine der Vergnügungen junger Leute eine Leidenschaft habe, so sei es die wohlfeilste von allen: das Theater, welches ihm nichts koste, als das Eintrittsgeld, weil er mit den Schönen der Bretterwelt sich in keinen Umgang einlasse, sondern sich am Genuße der Darstellungen begnüge, die ihn bisweilen so hinrissen, daß er seinen Nachbaren durch die unwillkührlichen Aeußerungen seiner Gemüthsbewegung auffalle.

Alle Züge dieser gesprächlichen Schilderung entsprachen der Vorstellung, die ich mir von Ferdinands Charakter gemacht hatte, und erfreuten mich um Marianens willen, die mich zu lebhaft interessirt hatte, als daß ich sie einem Manne hätte gönnen mögen, der ihrer innigen Liebe unwürdig gewesen wäre.

VII
Die stillen Vertrauten

»Mit Verliebten ist eigentlich gar kein Umgang.«

Knigge.

So wenig ich mir auch von einer näheren Bekanntschaft mit Herrn Brand versprechen konnte, und so viel sich auch Bedenklichkeiten in mir dagegen regten, als ein rüstiger Dreißiger ledigen Standes einen Umgang mit einem reizenden und höchst einnehmenden Mädchen anzuknüpfen, welches einem Andern so gut als verlobt war; so widerstand ich doch der Versuchung nicht, bei der nächsten Gelegenheit, die mich für einige Tage nach B. . . führte, den neuen Bekannten meinen Besuch zu machen.

Ich wurde wie ein Freund, wie ein geliebter Verwandter empfangen, und der trockene Kammerrath selbst vollstreckte den buchstäblichen Inhalt seiner Einladung, sein Haus als das meinige anzusehen, mit einer Art von Selbsthülfe, indem er ohne mein Wissen aus dem nahen Hotel, wo ich abgestiegen war, meinen noch unausgepackten Wagen in seinen Hof fahren, und meine Sachen in das freundlichste Zimmer seines Hauses schaffen ließ. Was ich auch immer dagegen vorbrachte; Mariane war unwiderstehlich, und mein Aufenthalt wurde mir um so angenehmer, je mehr ich hier Gelegenheit fand, ihren Geliebten von anziehenden Seiten kennen zu lernen.

Von Jugend auf für den Handelsstand erzogen, besaß er zwar keine sogenannte gelehrte oder klassische Bildung; aber er hatte sich selbst weit über die Schranken hinausgedacht und hinausgelesen, in welchen das geistige Vermögen der Kaufleute sich gewöhnlich zu halten pflegt. Seine Leidenschaft für den Besuch des Theaters hatte ihn für die Wirkungen der Poesie und der schönen Künste überhaupt empfänglich gemacht, obschon damals (um das Jahr 1816) die deutsche Bühne schon angefangen hatte, die wahre dramatische Dichtkunst hintanzusetzen, und dem spectakelmäßigen Unsinn aller Art deren Platz einzuräumen. Er hatte überdies eine Zeit lang in der großen Republik der neuen Welt gelebt, welcher sein Oheim seit vielen Jahren angehörte, und von Menschenrecht und Menschenwürde, Volksfreiheit und Gewissensfreiheit, Bürgertugend und Staats-Gerechtigkeit, lebendige und anschauliche Begriffe mitgebracht, welche seine Ansicht der europäischen Dinge sehr interessant machten.

Mariane schien es mit stiller Freude zu bemerken, wie sehr sein Geist mich anzog, und beförderte unseren Gedankentausch auf eine so ungesuchte und einnehmende Weise, daß aus dem Antheil, welchen mir sein heftiger, jetzt allem Anschein nach besänftigter Schmerz eingeflößt hatte, und aus dem Gefühl der Dankbarkeit, welches seine Aufnahme in dem Schooße meiner Familie in ihm zurückgelassen haben mochte, sich in kurzer Zeit eine Art von freundschaftlichem Verhältnisse zwischen uns bildete, welches bei wiederholtem Besuchswechsel auch auf meine Familie sich erstreckte, und zu demjenigen wurde, was man einen vertrauten Umgang nennt, obschon wir einander sämmtlich eben nichts vertrauten, was nicht auch jeder Andere hätte erfahren dürfen.

Was insonderheit mich und Albus anlangte, so fehlte es mir zwar nicht gänzlich an einem Gegenstande des Vertrauens, dasselbe schien aber überflüssig. Daß Mariane mich anzog, sah er selbst, und schien es gern zu sehen; sei es nun, daß er im ausschließlichen Besitz ihrer jungfräulichen Liebe sich vollkommen sicher fühlte, oder daß er meine Zuneigung für ganz unabhängig vom sinnlichen Triebe hielt. Und in der That glaube ich, daß er in Hinsicht des letzteren Punktes schon damals nicht mehr im Irrthume gewesen wäre. Der überraschende Eindruck, welchen der Anblick ihrer leiblichen Reize auf mich gemacht hatte, war verwischt worden durch den Antheil, welchen ihre rührende Leidenschaft für einen Anderen meinem Herzen einflößte, und durch das sittliche Wohlgefallen an den Reizen ihres Geistes und ihres Gemüths. Hier war also nichts zu vertrauen; und was hätte Ferdinand seinerseits in den Busen des neuen Freundes ausschütten sollen? Der Schmerz über Heinrichs gewaltsamen Tod, der oft mitten im Kreise der heiteren Unterhaltung und des geselligen Vergnügens das lebhafte Feuer seiner Augen mit einem melancholischen Flor bedeckte, und den nur Marianens stiller Zauber besänftigen zu können schien, forderte stumm von jedem, der ihn kannte, die sorgfältigste Schonung, und konnte nicht füglich in seiner Gegenwart, geschweige denn mit ihm selbst, besprochen werden. Seine Leidenschaft für Marianen, offenbar eine mächtige sinnliche Flamme, deren Ausbrüche vor fremden Augen er mit bemerkbarer Anstrengung zu verhindern suchte, konnte unmöglich das Bedürfniß einer wörtlichen Mittheilung an den Dritten empfinden, zumal da sie begünstiget war. Er schwieg darüber gegen mich, weil er wohl fühlte, daß es überflüssig wäre auszusprechen, was mir nicht hatte verborgen bleiben können; und Mariane folgte seinem Beispiel, obschon sie auf die Beherrschung des Ausdruckes ihrer Empfindung weniger Mühe verwendete.

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Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
Объем:
100 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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