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Der Inhalt des Arztbriefes war entsetzlich. Sie starrte auf das Papier, das von der Windböe einen Knick quer über das ganze Blatt bekommen hatte. Im Klartext las sie aus diesem Brief heraus: Die Patientin hat eine aggressive Form von Krebs und wir werden die übliche Therapie machen, um ihren Tod eventuell noch etwas aufzuhalten. Wieviel Chemie sie deshalb bekommt legen wir später noch fest. Tilda starrte auf das Schreiben. Wieso hatte Dr. Schnitzer bei so einer Prognose so gelassen bleiben können? Er hatte nicht ein einziges tröstendes Wort für sie gehabt. Er hatte es noch nicht einmal versucht. War er durch seine Arbeit schon so abgebrüht? Kein Wort davon, dass es eine Chance auf Heilung für sie gab, wenn sie vielleicht auch noch so klein war. Sie hatte aber auch nicht danach gefragt. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Es war wohl die Antwort gewesen, die sie nicht hören wollte. Tilda hatte Angst vor dieser Antwort gehabt. Wer wollte schon hören, dass es keine Chance gab, seine Krankheit zu überleben? Palliativ, das war für Tilda ein entsetzliches Wort. Sie hatte es früher schon nicht gemocht. Es bedeutete nichts anderes, als dass es nicht mehr um die Heilung der Krankheit ging, sondern nur noch darum, die Symptome zu lindern bis es dann vorbei war.

Mit ihren Gedanken beschäftigt saß Tilda noch immer auf der Bank im Park. Seit mehr als einer Stunde saß sie nun schon dort und konnte sich nicht zum Weitergehen aufraffen. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust. Es fühlte sich so an, als hätte sich ein ungeheurer Druck in ihrem Kopf aufgebaut, der alle Gedanken daraus verdrängte. Es war mit einem Schlage plötzlich kein Platz mehr für Klarheit. Das einzige, was sie verspürte, war Übelkeit und ein nagendes Hungergefühl. Sie erhob sich langsam. Ohne irgendetwas wahrzunehmen, was um sie herum geschah, machte sie sich wie hypnotisiert auf den Heimweg.

An jenem Abend saßen Tilda, Ludwig und ihre Eltern Thomas und Brigitte zusammen. Es war alles andere, als eine lustige Runde. Der Schock lähmte sie. Tildas Mutter Brigitte begann immer wieder von neuem wie aus dem Nichts heraus hemmungslos zu schluchzen. Auch ihr Vater Thomas hatte ganz rote Augen, kämpfte aber eisern um seine Fassung. Ludwig hatte zu Hause, nachdem er den Befund von Tilda gelesen hatte, welchen sie ihm wortlos gegeben hatte, sofort ihre Eltern angerufen. Tilda hatte das zu diesem Zeitpunkt noch nicht getan. Sie wollte eigentlich mit niemandem darüber sprechen. Der einzige, der in dieser angespannten Situation wirklich die Ruhe bewahrt hatte, war Ludwig. Vielleicht war er mental so stark, vielleicht hatte er die wahre Botschaft des Befundes auch noch gar nicht vollständig verinnerlicht. Oder es war das, was Tilda längst wusste: Ludwig war nicht sensibel, außer bei sich selbst. Hier ging es aber nicht um ihn. Das ließ ihn bemerkenswert entspannt bleiben.

An diesem Abend waren sich alle Beteiligten außer Tilda einig, dass sie das Wenige, das man aus Sicht der Medizin für sie tun konnte, auch in Anspruch nehmen sollte. Wenn die angebotene Chemotherapie das Einzige war, was Tilda zur Verfügung stand, dann war es besser, wenigstens die zu machen, als gar nichts. Tilda selbst war sich keineswegs sicher, ob sie diese Chemotherapie wollte. Jedoch fühlte sie sich in diesem Moment außerstande, sich dem Druck ihrer Familie zu widersetzen. Vielleicht gab es tatsächlich eine Chance, durch Chemotherapie wieder gesund zu werden.

Die Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden war bei Weitem das größte Desaster, das Tilda in ihrem ganzen bisherigen Leben erlebt hatte. Immer wieder kreiste die Frage in ihrem Kopf, warum sie diesen Krebs überhaupt bekommen hatte. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Ganz im Gegenteil: War sie nicht immer um eine gesunde Lebensführung bemüht gewesen? Waren vielleicht die Impfungen gegen Hepatitis an ihrer Misere schuld, die sie sich auf Empfehlung ihres Arbeitgebers, der Schule, hatte geben lassen? Sie hatte von Anfang an kein gutes Gefühl dabei gehabt. Hatte ihr Immunsystem sie nicht verkraftet und sich daraufhin selbst angegriffen, so wie sie es schon oft gelesen hatte? Hatte sie also einen der gefürchteten Impfschäden erlitten, deren Existenz von der Medizin und von den Medien gern totgeschwiegen, ja regelrecht bestritten wurden? Produzierte ihr Körper deshalb diese Tumore? Niemand wusste eine Antwort darauf. Und selbst wenn es eine gab, so wurde sie sicher vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten.

Als ihre Eltern gegangen waren schrieb Tilda eine sms an Conny:

„Komme morgen nicht, bin krankgeschrieben. Sieht schlecht aus. Es ist Krebs. Suche nach einem Ausweg. Schlaf gut! Tilda.“

Es dauerte keine zwei Minuten und sie konnte Connys Antwort lesen:

„Mist! Wenn Du meine Hilfe brauchst, dann kannst Du zu jederzeit auf mich zählen. Du findest einen Weg. Ich weiß es einfach. Conny.“

Mit starrem Blick hatte Tilda die Nachricht ihrer Freundin gelesen. Auch wenn sie sich erst vor fünf Jahren kennengelernt hatten, als sie in Bergedorf angefangen hatte zu arbeiten, so war ihr Verhältnis doch so eng, als ob sie sich schon seit ihrer Kindheit kannten. Dabei war es ganz und gar nicht so, dass sie ständig zusammenklebten und alle Dinge gemeinsam tun mussten. Es war mehr wie eine stille Übereinkunft zwischen ihnen, eine Art Gleichklang der Seelen. Diese Freundschaft hätte sogar unterschiedliche Meinungen zu entscheidenden Dingen des Lebens verkraftet.

Als Tilda irgendwann an diesem Abend ins Bett ging, war sie vollkommen erschöpft. Dabei hatte sie nichts anderes getan, als sich letztlich darüber klar zu werden, dass sie auf gar keinen Fall sterben wollte. Der nächste Tag stand schon in den Startlöchern. Die Kette ihrer Arztbesuche war erst am Beginn. Zuerst würde ihr Hausarzt Dr. Umlauf an die Reihe kommen, der eigentlich Ludwigs Hausarzt war. Und dann ging es weiter. Ihre Krankschreibung musste verlängert werden. Und vielleicht hatte dieser Dr. Umlauf noch eine Idee, was sie sonst noch gegen den Krebs unternehmen konnte. Vielleicht gab es noch etwas ganz anderes, das sie tun konnte.

Am Vormittag im Krankenhaus war Tilda deutlich geworden, dass sie dort natürlich nur die Arten von Therapien verordnet bekommen würde, die dort auch zur Ausführung kamen. Krankenhäuser waren keine Wohlfahrtsinstitute. Das hatte sie begriffen. Krankenhäuser mussten und wollten Geld verdienen. Es waren Fabriken. Jeder Patient, der sich für eine alternative Therapie interessierte, war dort gewöhnlich einer zu viel. Ihr war klargeworden, dass sie vom Krankenhaus aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Rettendes zu erwarten hatte. Dort war das, was ihr als Patientin zustand, ganz klar umrissen. Das Krankenhaus würden ihr die üblichen Chemotherapie-Zyklen verabreichen, vielleicht auch noch eine Reihe von Bestrahlungen für notwendig halten und sie dann in ihren letzten Stunden auf der Intensivstation mit Morphium ruhig stellen oder sie für die letzten Tage in ein Hospiz überweisen. Egal wie die Dinge auch standen. Tilda war sich ganz sicher, dass sie nicht so enden wollte wie die anderen Krebspatienten, die diesen Weg in den Abgrund brav mitgegangen waren.

Das Übliche mit sich machen zu lassen kam in ihren Augen einer Art Selbstaufgabe gleich. Warum sollten die üblichen Maßnahmen bei ihr andere Resultate hervorbringen, als bei denen, die sie bereits hinter sich hatten? Was war mit den kritischen Stimmen, auch unter den Ärzten, die meinten, dass Chemotherapie überhaupt nicht gegen Krebs half, sondern nur zusätzlich das Immunsystem der Patienten zerstörte und den Körper vergiftete? Sie hatte darüber gelesen.

In der Dunkelheit des Schlafzimmers ballte sie ihre Hände unter der Decke entschlossen zu Fäusten. Es war ihr zu wenig, nur zu versuchen, ihren Tod um ein paar Wochen hinauszuschieben, um dann mit Palliativ-Maßnahmen schmerzfrei zugrunde zu gehen. Sie wollte gesund werden, ganz und gar wieder gesund! Sie wollte leben und nicht nur für ein paar Wochen länger.

Fragen über Fragen, die unbeantwortet waren, beschäftigten sie. Was nützten ihr ein paar Wochen mehr, wenn sie danach ohnehin gehen musste? Was war, wenn es stimmte, dass Patienten nie wieder völlig gesund werden konnten, wenn sie erst einmal Chemotherapie hinter sich hatten? War das die Wahrheit? Was war mit den Spätfolgen dieser Art von Behandlung? Und woran starben die Krebspatienten nun tatsächlich? Starben sie am Krebs oder starben sie an den Folgen der Chemotherapie? Starben sie vielleicht auch an den Folgen der Bestrahlungen? Tilda war hilflos. Wäre ihre Zustimmung zu einer solchen Behandlung nicht so gesehen die Wahl zwischen Pest oder Cholera, eine Art Verschlimmbesserung ihres momentanen Zustandes?

Es war dunkel im Zimmer. Ludwig schnarchte noch nicht. Das bedeutete, dass er noch wach war. Sie drehte sich zu ihm um. Seine Augen waren geöffnet. Sie glitzerten ein wenig in der Dunkelheit des Zimmers. Er nahm ihre Hand und hielt sie ganz fest. „Wir schaffen das!“ flüsterte er. „Wir schaffen das, Schatz!“ Tilda nickte zögernd. Zwei Tränen rannen in der Dunkelheit über ihre Wangen. Eine glühend heiße Welle bewegte sich von ihrem Kopf abwärts durch ihren Körper bis zu ihren Zehenspitzen. Ein sehr unangenehmes Gefühl war das. Tilda streckte ihre Füße unter der Bettdecke hervor, um sie ein wenig zu kühlen. In dieser Nacht war sie hier in ihrer Wohnung und bei Ludwig in Sicherheit. Morgen war ein neuer Tag. Morgen wollte sie mit ihrer Schwester telefonieren, wollte sie um Rat fragen. Die arme Doro! Die wusste noch nichts von der Katastrophe, mit der sie sich in Hamburg herumplagte. Oder wusste sie es doch schon? Hatten ihr die Eltern schon alles berichtet, nachdem sie vorhin von der Krisensitzung nach Hause gefahren waren? Tilda war sich nicht sicher, aber das würde sich morgen herausstellen. Was feststand war, dass sie am nächsten Tag zu Dr. Umlauf gehen musste. Gleich ganz früh würde sie hingehen, damit sie nicht so lange in seinem Wartezimmer sitzen musste. Vielleicht hatte er doch noch einen Rat für sie. Mit diesem Gedanken fiel Tilda in einen leichten Schlaf, aus dem sie immer wieder erwachte. Sie war aufgewühlt. Leise drehte sie sich auf die andere Seite, weg von Ludwig. Er schnarchte. Er hatte es gut.

KAPITEL 3

Pünktlich um 7.00 Uhr am nächsten Morgen traf Tilda in der Praxis von Dr. Umlauf ein. Die Schwester an der Rezeption begrüßte sie freundlich und nahm den Arztbrief entgegen, den Tilda aus der Onkologie mitgebracht hatte. Sie drehte ihn um und es war in diesem Moment offensichtlich, dass Tilda ihn bereits geöffnet hatte. Ein wenig vorwurfsvoll schaute die Schwester sie an, sagte aber nichts. Tilda fühlte sich wie ertappt. Sie errötete und ärgerte sich gleichzeitig darüber.

Ein wenig verlegen erklärte sie: „Ich wollte lesen, was darin steht. Es ist meine Krankheit. Und ich wollte mir eine Kopie machen für meine Unterlagen.“ Die Schwester zuckte ein wenig pikiert die Achseln, als wäre ihr das plötzlich alles egal und sagte nur spitz: „Es ist ja ihr gutes Recht den Brief einzusehen. Den Befund hat ihre Krankenkasse bezahlt. Trotzdem ist es eigentlich nicht üblich. Briefgeheimnis.“ Tilda merkte genau, dass die Schwester sich übergangen fühlte, und dass sie mit dem Öffnen des Briefes offenbar das Ego der gesamten Praxis misshandelt hatte. Es war offensichtlich, dass die Frage wie ein tonnenschwerer Meteorit im Raum schwebte, wo es wohl hinführen würde, wenn jeder x-beliebige Patient seine Unterlagen selbst einsehen würde. Der Krankenschwester hinter der Anmeldung stand dieser Vorwurf förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie fragte sich wahrscheinlich im Stillen, was wohl dabei herauskommen würde, wenn sich die Patienten auch noch anmaßen würden, ihre Krankheiten selbst zu beurteilen.

Die erste Lektion hatte Tilda an diesem Morgen also schon gelernt: Eigenmächtigkeiten schienen in dieser Praxis äußerst unbeliebt zu sein. Das passte zu Ludwig. Schließlich war Dr. Umlauf eigentlich sein Arzt. Ludwig liebte klare Regeln und eindeutige Festlegungen. Er mochte Vorschriften, die verbindlich waren. Das war wohl eine Berufskrankheit.

Eigentlich hätte Tilda sich in diesem Moment ärgern wollen, aber sie fühlte sich nicht in der Lage dazu. In ihrem Innern war sie vollkommen ausgebrannt. Sie fühlte sich so schwach und so elend, dass sie noch nicht einmal mehr die Kraft für eine Auseinandersetzung mit dieser Krankenschwester gehabt hätte.

Deshalb drehte sie sich einfach um und nahm wortlos im Wartezimmer Platz. Sie drückte ihre schweißnassen Handflächen zwischen ihren Knien krampfhaft aneinander, während sie wartete. Klamm waren sie und eiskalt. Es fühlte sich für sie an, als ob ihr Körper ihr gar nicht mehr gehörte, als ob sich alles nur noch in ihrem Kopf abspielte. Es schien ein riesiger Kopf auf einem frostigen, winzigen Körper zu sein. Tilda hatte das Gefühl, als würde ihr Gehirn unablässig und auf Hochtouren arbeiten, jedoch dabei zu keinem Ergebnis kommen. Der Rest ihres Körpers war starr wie der einer Mumie.

Wenig später, gleich nach einem älteren Paar, das bis dahin in Illustrierten geblättert hatte und augenscheinlich zur Blutentnahme bestellt worden war, kam Tilda an der Reihe. Als sie ein wenig zögernd ins Behandlungszimmer trat, war Dr. Umlauf noch mit dem Lesen ihres Patientenbriefes beschäftigt. Eine gewisse Betroffenheit war ihm anzumerken. Er machte sich auch keine Mühe, sie zu verbergen. Auf seinem Schreibtisch lag eine ähnliche braune Akte, wie Tilda sie bereits bei Dr. Schnitzer in der Onkologie gesehen hatte. Der Aktendeckel war aufgeklappt. Darin lag ganz oben ein Schreiben des Krankenhauses. Tilda erkannte den Kopfbogen. Dr. Umlauf schaute es sich eine kurze Zeit lang aufmerksam an. Seine Augen folgten den Zeilen. Dann wandte er sich an Tilda, indem er sie über den Rand seiner Brille ansah. „Frau Johannsen, das sind leider keine guten Nachrichten für sie, die ich hier lese. Ihr Befund ist bedauerlicherweise gar nicht gut. Sie wissen das ja schon.“ Er hielt inne und blätterte in der Mappe auf seinem Schreibtisch umher.

„Ich habe hier auch schon den Behandlungsplan für ihre Chemotherapie. Den hat mir gestern Abend noch die Onkologie des Krankenhauses zugemailt.……. Sie sollen mit Gemcitabin behandelt werden.“ Er sah sie erneut prüfend an und schien auf ihre Antwort zu warten. Tilda war verblüfft darüber, dass der Arzt bereits ihren Behandlungsplan vor sich hatte. Immerhin war sie doch erst gestern im Krankenhaus gewesen. Da hieß es noch, dass ihr Fall in der kommenden Woche bei der Tumorkonferenz besprochen werden sollte. Tilda war irritiert. Was hatte das zu bedeuten? Ein Verdacht keimte in ihr auf. Dass der Plan jetzt schon vorlag, sprach in ihren Augen nicht dafür, dass sich jemand ernsthaft Gedanken über ihre Behandlung gemacht hatte.

Tilda war vielmehr überzeugt davon, dass die Onkologen sie nach einem Einheits-Plan behandeln wollten, den sie buchstäblich „aus der Schublade“ gezogen hatten. Ein entsetzlicher Gedanke keimte in ihr auf. Sie schauderte, während eine eisige Welle durch ihren Körper lief. Das schwer Vorstellbare traf sie wie eine Betonkugel am Kopf, der plötzlich schmerzte, als wollte er zerbersten. War es am Ende so, dass es sich bei ihr vielleicht gar nicht mehr lohnte, einen individuellen Plan zu erstellen? Sollte sie nicht ohnehin nur noch eine Palliativ-Therapie bekommen, die ihre Heilung gar nicht mehr zum Ziel hatte? Tilda schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie verspürte ein Prickeln in ihren Armen und Beinen. Vor ihren Augen wurde es für den Bruchteil einer Sekunde schwarz. Sie umklammerte mit beiden Händen die Armlehnen des Stuhles, auf dem sie saß so heftig, dass ihre Fingerknöchel ganz weiss aussahen. Nach zwei weiteren tiefen Atemzügen ging es ihr ein wenig besser. Der Arzt ihr gegenüber schaute sie beobachtend an.

Entmutigt wich Tilda seinem Blick aus. Tief in ihrem Innern hatte sich alles verkrampft, so als würde ein starker Druck ihren Körper zusammenpressen wie in einer Vakuumkammer. Sogar in ihren Ohren war dieser dumpfe Druck zu spüren. Ihr war, als säße sie in einem rasch sinkenden Flugzeug. Kam das etwa auch schon vom Krebs oder spielten nur ihre Nerven verrückt? Während Tilda darauf wartete, dass der Arzt wieder das Wort an sie richtete, fühlte sie, dass ihr Vertrauen in diese Art von Medizin noch mehr dahinschmolz. Das geplante Standard- Prozedere der Onkologie, das sich jetzt mit ihr in Gang setzen sollte, verstörte sie. Wollten die Onkologen ihren Fall einfach nur noch abarbeiten, damit sie und ihre Angehörigen das Gefühl hatten, es sei alles versucht worden? Nicht umsonst hieß es ja in Mediziner-Kreisen, heutzutage stünde hinter jedem Patienten möglicherweise ein Rechtsanwalt. Was ging da vor? Tilda war vollkommen verunsichert und am Ende ihrer Kräfte. War sie vielleicht schon so verrückt, dass sie sich das alles nur einbildete, dass sie all diese Dinge völlig überspitzt sah?

Nach all dem konnte sich Tilda nicht mehr vorstellen, dass das Krankenhaus auf ihrer Seite war. Alles, was sie wahrnahm vermittelte ihr nur noch mehr das Gefühl, als würde es von Beginn an keine Chance für sie geben. Es schien beschlossene Sache zu sein. Auch Dr. Umlauf gab ihr keinen fühlbaren Anlass zu der Hoffnung, dass sie sich irrte. Das passte mit ihrer kleinen, unvollständig gebliebenen Recherche über Bauchspeicheldrüsenkrebs zusammen, die sie in der Kürze der Zeit begonnen hatte. So gut wie keiner der Betroffenen schien diese Krankheit zu überleben. Insofern war Optimismus wohl wirklich fehl am Platze. Nach allem, was sie herausgefunden hatte, waren sämtliche Therapieversuche nur eine Verlangsamung des Sterbeprozesses, der sich lange vor der Diagnosestellung in Gang gesetzt hatte. Tilda drängten sich die grauenvollen Konsequenzen wie ein abscheulicher Film auf. Sie saß stocksteif da und starrte auf ihre weißen, eiskalten Hände unter dem Tisch.

Dr. Umlauf ahnte wohl, was in ihr vorging. Mit Sicherheit war sie nicht sein erster Fall dieser Art. Er schaute nachdenklich auf das Stück Papier vor sich, tippte mit dem Zeigefinger darauf und atmete geräuschvoll ein, bevor er sagte: „Das wir ihren Behandlungsplan schon haben, Frau Johannsen, hat möglicherweise damit zu tun, dass die Kollegen in der Klinik neue Erkenntnisse darüber haben, was am besten hilft. Dann erübrigt sich die Tumorkonferenz manchmal…... Wissen sie?“

Seine Worte klangen wenig überzeugend. Sie klangen vielmehr so, als würde er selbst nach einer plausiblen Erklärung suchen, damit seine ärztlichen Kollegen nicht in ganz so schlechtem Licht dastanden. Tilda versuchte währenddessen ein gequältes Lächeln. In Wahrheit war ihr zum Heulen zumute. Sie entgegnete, wobei sie sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und sie hinter das Ohr schob: „Was am besten hilft? Soviel ich weiß gar nichts - bei Bauchspeicheldrüsenkrebs“. Sie machte mit den Händen eine hilflose Geste und fuhr dann bitter fort: „Zumindest nach allem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte.“ Einen Moment lang presste sie ihre Zähne ganz fest aufeinander, um ihre Fassung nicht zu verlieren. Dann fügte sie angstvoll hinzu: „Gibt es denn überhaupt eine Chance für mich, die Krankheit zu überleben?“ Der Arzt sah sie an, als wäre das die ungewöhnlichste Frage auf der Welt. So, als hätte er nie im Leben mit etwas Derartigem gerechnet. Zögerlich entgegnete er, wobei er es vermied, sie anzusehen und den Blick auf die Akte vor sich gerichtet hielt: „Eine Chance gibt es immer, Frau Johannsen. Ja, die gibt es immer. Aber ihre Chance ist klein. Sehr klein! …….. Leider.“ Sein Blick streifte sie etwas unsicher. „Wir müssen sehen, was die Zukunft bringt. Wunder können wir wohl leider kaum erwarten. Es sei denn, sie belehren mich eines besseren…. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“

Er richtete seinen Blick auf Tildas Gesicht, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen. Nachdenklich fügte er noch hinzu: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Anderes sagen! Es ist auf jeden Fall empfehlenswert, wenn sie sich noch ein paar schöne Tage mit ihrer Familie machen. Und wenn sie ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Nur sicherheitshalber, wenn sie verstehen was ich meine.“ Er ergriff seinen Kugelschreiber und drehte ihn einige Male nervös zwischen den Fingern hin und her. Dann gab er sich plötzlich einen Ruck und setzte seine Unterschrift entschlossen unter ihren Krankenschein. „Wenn sie die Chemotherapie nicht machen möchten, so kann sie niemand dazu zwingen, wissen sie? Aber es ist das einzige, was die Medizin Ihnen anbieten kann.“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann, während er Tilda die Hand zum Abschied reichte: „Setzen sie mich bitte in Kenntnis, wie sie sich entschieden haben. Alles Gute für sie, Frau Johannsen!“

Tilda bedankte sich leise und ging hinaus. Irgendwie hatte sie das Gespräch noch mehr verunsichert. Sie hatte nun erst recht keine Ahnung mehr, was sie tun sollte. Tatsache war, dass sie eine Chemotherapie aus der Schublade bekommen sollte. Es war den Ärzten in der Onkologie offenbar klar, dass sie ein aussichtsloser Fall war. Ein Fall, für den sich der Aufwand einer individuellen Therapie nicht mehr lohnte. Bei diesem furchtbaren Gedanken erschrak sie über sich selbst. Es war ihr, als würde sich die Erde auftun und sie hinabziehen. Hinabziehen in ein riesiges, schwarzes Loch - unaufhaltsam, immer tiefer und tiefer. Welches grausame Schicksal war ihr beschieden, das sie schon mit dreißig Jahren sterben ließ? Niemanden der Mediziner schien sich wirklich dafür zu interessieren. Es kam Tilda so vor, als habe sie mit ihrer Diagnose eine medizinische Maschinerie in Bewegung gesetzt, die ihre Arbeit zwar verrichtete, der es aber vollkommen an Empathie und Optimismus fehlte und für die die Erfolglosigkeit ihrer Behandlung bereits unabänderlich feststand.

Als Ludwig von der Arbeit kam fand er Tilda in Tränen aufgelöst in der Ecke der Couch hockend vor. Sie hatte ihre nackten Füße unter der schottischen Wolldecke vergraben, die zusammengelegt neben ihr lag. Seit Stunden hatte Sie dort wie erstarrt gesessen. Sie wusste selbst nicht mehr wie lange. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen vom Weinen. Ihre blaue Jacke lag noch immer achtlos hingeworfen auf dem Fußboden im Flur. Ihre Schuhe standen daneben, mitten im Weg. Draußen begann es bereits ein wenig zu dämmern. Im Raum war es fast dunkel. Tilda hatte das Licht nicht eingeschaltet. Alles, was sie noch zu fühlen imstande war, war die Unausweichlichkeit ihres nahenden Todes. Die Furcht davor ließ sie vor Angst erstarren. Sie hatte in den letzten Stunden jedes Zeitgefühl verloren, hatte nichts gegessen und nichts getrunken. Da war nur noch die Angst, bald zu sterben. Diese Angst vermischte sich mit Hilflosigkeit und Panik zu einer grollenden Lawine, die unabänderlich auf sie zuraste.

Ludwig schaltete die kleine Lampe mit dem bunten, gläsernen Schirm an, die auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen stand. Sie war ein Geschenk ihrer Eltern zu ihrem letzten Geburtstag gewesen. Das Licht der kleinen Lampe war viel zu schwach, um den ganzen Raum zu erhellen, aber es war freundlich und warm und es half ein wenig gegen die zunehmende Dunkelheit des Raumes. Vorsichtig setzte er sich neben Tilda, als hätte er Angst davor, ihr näher zu kommen. Er streichelte ihr sanft übers Gesicht und ließ seine Hand tröstend auf ihrer Schulter liegen. Erst nach einer ganzen Weile, nachdem sie so stumm nebeneinander gesessen hatten, begann Tilda wieder zu weinen. Je länger sie weinte, desto stärker flossen ihre Tränen. Ludwig holte aus der Küche eine Packung Taschentücher, faltete eins davon auf und wischte ihr damit die Tränen aus dem Gesicht. Unvermittelt ging ein Ruck durch Tilda, die bis zu diesem Zeitpunkt nur apathisch dagesessen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und schluchzte: „Ich will nicht sterben, Luddi!“ Sie spürte, wie Ludwig nach Worten suchte. Alles, was ihm einfallen wollte, schien viel zu banal zu sein, um sie trösten zu können. Hilflos drückte er sie an sich und krümmte sich dabei selbst zusammen, als hätte er Schmerzen. So saßen sie eine ganze Weile stumm beieinander. Draußen war es mittlerweile vollständig dunkel geworden und auch der Rest der Wohnung lag in absoluter Dunkelheit. Nur die Glaslampe auf dem Fensterbrett warf ihr spärliches, buntes Licht in den Raum. Tildas Tränen versiegten irgendwann. Mit dem Wissen um ihre aussichtslose Lage war sie vollkommen überfordert. Später am Abend gelang es ihr, sich ein wenig zu beruhigen.

Ludwig war zu diesem Zeitpunkt bereits zur Normalität zurückgekehrt. Er hatte den Fernseher eingeschaltet und sah sich wie üblich die Sportsendung an. Tilda war irgendwann wortlos aufgestanden und hinausgegangen. Ein tiefer, spitzer Schmerz hatte sich in ihr Herz gebohrt und brannte dort unaufhörlich vor sich hin. Genau das war es, was sie an Ludwig so schrecklich fand. Es war diese Art von Selbstsucht. Die Sache mit der Sportsendung hatte ihr einmal mehr deutlich gemacht, dass er immer nur an sich selbst dachte. Es war eine kleine Enttäuschung mehr für sie an diesem trostlosen Tag. Natürlich konnte Ludwig ihr nicht helfen. Das wusste sie selbst. Aber allein seine Aufmerksamkeit und seinen Beistand hätte sie an diesem Abend als große Hilfe empfunden. Doch Ludwig war weit davon entfernt, sich das bewusst zu machen.

Nachdem ihre größte Enttäuschung langsam gewichen war, war es ihr eigentlich ganz recht, allein zu sein. So konnte sie wenigstens ungestört mit ihrer Schwester telefonieren. Wahrscheinlich hatten ihr die Eltern ohnehin schon alles erzählt. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr das. Mit der Zeitverschiebung von acht Stunden war bei Doro grade Mittagszeit. Möglicherweise war sie zu Hause während Greg und Gesi noch in der Schule waren und der Kleine Güssi in der Vorschule. Tilda wählte ihre Nummer. Es dauerte keine dreißig Sekunden und sie hörte die vertraute Stimme ihrer Schwester, die sofort rief: „Tildi! Was machst du nur für Sachen! Ich bin hier halb verrückt vor Angst! Du musst ganz schnell wieder gesund werden! Ganz schnell! Verstehst du mich?“ Sie machte eine ganz kurze Pause, ließ ihre Schwester aber nicht zu Wort kommen. „Bauchspeicheldrüsenkrebs! Bist du nicht recht bei Trost, Tildi? Ich hab da mal nachgeschaut…..“

Tilda schossen sofort wieder die Tränen in die Augen. Sie schniefte. Ihre Schwester fuhr währenddessen aufgelöst fort: „Die Eltern haben mir schon alles gesagt.“ Tilda schniefte erneut und konnte nichts antworten. So fuhr Doro fort: „Was machst du jetzt? Willst du Chemotherapie machen?“ Tilda flüsterte tonlos: „Ich weiß nicht. Ich glaub´ nicht.“ Ratlos hörte sie wieder die Stimme ihrer Schwester, die entsetzt rief: “Oh Gott, ich weiß auch nicht! Mach das lieber nicht! Hier in den Staaten bringt das keine guten Ergebnisse.“ Sie räusperte sich und weil Tilda nichts sagte, sprach sie mit belegter Stimme weiter: „Eine Nachbarin hier in Scottsdale hatte auch Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Dicke mit den kurzen, schwarzen Haaren und dem kleinen weißen Hund. Die Mexikanerin meine ich, aus dem Haus am Ende der Straße mit den vielen Kakteen im Vorgarten. Weißt du, welche ich meine?“ Sie wartete einen kleinen Moment ab, doch Tilda brachte keinen Ton mehr hervor. „Sie hat jedenfalls Chemo gemacht und acht Wochen später war sie trotzdem tot. Sie ist aus der Klinik gar nicht wieder nach Hause gekommen. Ich meine, das kann´s doch irgendwie auch nicht sein!“

Verstört hörte Tilda die Worte ihrer Schwester, die so weit entfernt war und doch so nah klang. Doro sprach ihr aus der Seele, als sie ihre Zweifel in Worte fasste, die sie gegenüber von Chemotherapie hatte. Tilda fühlte sich furchtbar elend, während sie ihrer Schwester stumm zuhörte. Sie sah ihre Befürchtungen bestätigt. „Die Nebenwirkungen von Chemotherapie sind grauenvoll, oft sogar tödlich!“, brachte Doro es auf den Punkt. „Da macht es auch keinen großen Unterschied, welches Präparat sie bei dir nehmen. Zumindest nicht bei diesem Krebs.“ Doro war, wie sich herausstellte, inzwischen gut informiert. Sie war der Meinung, dass im Grunde alle diese Mittel versuchten, sich gegenseitig an Giftigkeit zu übertreffen. Es waren Zellgifte. Die meisten von ihnen wirkten auf alle sich schnell teilenden Zellen tödlich, um so das Wachstum der Tumore zu verlangsamen. Leider vergifteten sie dabei auch den Rest des Körpers. Sie taten das selbst dann, wenn die eigentlich gewünschte Wirkung ausblieb. In diesen Fällen blieb dann nur die Vergiftung übrig. So würde der Krebs kaum verschwinden. Doro sprach davon, dass sie auch herausgefunden hatte, dass fast alle Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs trotz aller Behandlungen in kurzer Zeit starben. Hilflos unterbrach Tilda ihre Schwester und flüsterte entsetzt: „Schwester, erzähl´ mir das nicht! Ich will das gar nicht hören! Ich hab das doch auch schon alles gelesen. Wenn ich nur wüsste, was ich jetzt machen soll! Das geht alles viel zu schnell für mich.“ Sie schluchzte. „Manchmal fühlt es sich an, als wenn mich alle nur zu etwas überreden wollen, damit sie sich einbilden können, es wird alles für mich getan. Ludwig, die Eltern - und die Klinik sowieso.“ Sie stockte, bevor sie weitersprach: „Das mit der Chemotherapie ist ja für so eine Klinik Routine. Und der Tod von Patienten ist für die leider auch Routine.“ Sie schluchzte erneut auf und fuhr unter Tränen fort: „Aber ich hab doch nur das eine Leben, Doro! ........ Ich will doch nicht schon jetzt durch die Hintertür aus dem Krankenhauses rausgefahren werden und das war´s dann!“

Doro unterbrach ihre Schwester erregt: „Tildi, jetzt hör mir mal zu! Wenn Du keine Chemo machen willst, dann machst Du keine Chemo! Lass dich zu nichts überreden! Die meisten Patienten sterben früher oder später trotz oder wegen dieser Art von Therapie. Kein Mensch weiß das so genau. Moderne Medizin hin und moderne Medizin her. Selbst etwa 80% der Ärzte sagen, dass Chemotherapie umstritten ist und würden sie nicht bei sich machen lassen und auch nicht bei ihren Angehörigen. Das hört sich alles andere als überzeugend an.“

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9783742761583
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