Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 8

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Sie machte eine kurze Pause und sagte dann nachdrücklich: „Wenn du nicht sterben willst, dann musst du dir jetzt gut überlegen, was du tust! Und wenn du nicht sicher bist was du jetzt machen sollst, dann komm einfach für ein paar Wochen zu uns. Hier in Scottsdale wird keiner auf dich einreden und dich zu etwas überreden wollen. Wir lassen dich in Ruhe! Du kannst hier in Ruhe nachdenken. Weißt du, Angst ist immer ein schlechter Ratgeber.“ Tilda schluchzte: „Du bist so lieb, Schwester. So lieb! “ Sie weinte und presste unter Schluchzen hervor: “Wenn ich dich nicht hätte – ich - wüsste - gar - nicht - was - ich - jetzt - machen - soll!“. Doro lachte am anderen Ende der Leitung ganz leise. Es war ihr kleines Lachen, das Tilda schon immer so vertraut war. Es ließ ihre innere Anspannung ein wenig kleiner werden. Doro fuhr fort: „Ich finde wirklich, das wär ´ne gute Idee! Mal alles aus der Distanz zu sehen ist nie verkehrt. Was meinst Du, Tildi? Komm einfach her, wenn´s dir einigermaßen gut geht, wenn du dir den Flug zutraust. Du musst ja nicht selbst fliegen.“ Sie lachte wieder leise. „Wir haben hier unseren Hausarzt Dr. Lackner. Nur für den Fall der Fälle. Der ist wirklich nett! Sam und er sind zusammen zur Schule gegangen. Ich glaube, du hast ihn auch schon mal gesehen.“ Tilda schluchzte einige Male ergriffen und schniefte dann in den Hörer: „Danke, Doro! Das ist so lieb von dir. Ich denk mal drüber nach.“

Mit einem Schlage kamen ihr jedoch Zweifel. Nur wiederstrebend und ein wenig ängstlich formulierte sie ihre Frage: „Und Sam? Meinst du, dass Sam nichts dagegen hat, wenn ich in meinem…… Zustand…..zu euch komme?“ Doro lachte nur: „Du kennst doch Sam! Sam will immer das, was ich will – und umgekehrt ist das auch so. Meinst Du, ich wäre sonst hier, so weit weg von zu Hause? So weit weg von dir? Ich wär´ sonst niemals zu ihm über den großen Teich gegangen, wenn er nicht so ein toller Mann wäre.“ Tilda nickte zustimmend vor sich hin.

Sie zwang sich, ihren Gedanken Struktur zu geben. In ihrem Kopf herrschte immer noch Chaos. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben so verwirrt gewesen zu sein. Vor allem nahm sie sich in diesem Augenblick eins ganz fest vor: Sie wollte sich nicht in ihren Entscheidungen beeinflussen lassen, von niemandem. Nicht von Ludwig, nicht von den Eltern und erst recht nicht von der Klinik, die mit diesen Behandlungen selbstverständlich auch viel Geld verdiente und deshalb ihrer Ansicht nach niemals objektiv beraten würde. Die Klinik war genauso objektiv wie ein Autoverkäufer in einem Autohaus, den man fragte, ob die Autos in der Ausstellung eine gute Wahl seien. Die Antwort wäre klar.

Vielleicht tat sie manchen Ärzten damit Unrecht. Ganz frei von Zweifeln war sie in dieser Hinsicht nicht. Vielleicht war es einfach nur so, dass die Klinik schnell zur Chemotherapie drängte, weil es in der Tat das Einzige war, was die Medizin anbieten konnte. Dass das ihr Leben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht retten würde, und dass ihr das bei einer Palliativ-Therapie auch gar nicht erst in Aussicht gestellt wurde, war da schnell Nebensache. Ihr Tod interessierte niemanden von denen wirklich, die tagtäglich mit Krebs und seinen Folgen zu tun hatten. Vielleicht erwartete sie einfach zu viel.

Schon am übernächsten Morgen machte sich Tilda auf den Weg ins Krankenhaus. Sie hatte gleich morgens einen Termin in der Chirurgie. Die Ambulanz hatte sie angerufen und es dringend gemacht. Tilda sollte einen Portkatheter bekommen. Einen dauerhaften Zugang in ihr Adersystem, damit sie ihre Medikamente über einen Tropf bekommen konnte. Das zumindest hatte ihr der Arzt am Telefon gesagt. Tilda machte sich zu Fuß auf den Weg zum Krankenhaus. Sie wollte eine Zeitlang für sich sein, wollte sich nicht von Ludwig fahren lassen und auch nicht selbst fahren. Es hatte einen großen Streit zwischen ihnen gegeben. Streit wegen ihrer Reisepläne nach Amerika. Ludwig hatte sie für vollkommen verrückt erklärt, in ihrem Zustand nach Arizona fliegen zu wollen. Er hatte das auch nicht zurückgenommen und beharrte darauf. Es sei eine Schnapsidee und einfach unverantwortlich, hatte er gebrüllt. Sie hatte sich gegen ihn zur Wehr gesetzt und am Ende hatten sie sich beide angeschrien.

Ludwig hatte trotzdem darauf bestanden, dass sie ihn anrufen sollte, sobald sie fertig war und nach Hause gehen durfte. Dann wollte er sie abholen.

Tilda verließ gegen 6.30 Uhr die Wohnung. Auf den Straßen war trotz der frühen Stunde der Berufsverkehr schon in vollem Gange. Sie wählte einen kleinen Umweg durch das Viertel, um nicht an der vielbefahrenen Straße entlanggehen zu müssen. Sie brauchte frische Luft. Außerdem war noch genug Zeit, so dass sie sich diesen kleinen Luxus erlauben konnte. Über so einen Portkatheter hatte sie sich inzwischen belesen. Der Port war als Dauerzugang in erster Linie dafür notwendig, um durch ihn die Chemotherapie in die Blutbahn zu verabreichen. Tilda wusste immer noch nicht, ob sie das Ding überhaupt brauchen würde. Sie war nach wie vor unentschlossen. Der Port sollte ihr irgendwo rechts unterhalb ihres Schlüsselbeines implantiert werden. Tilda hatte ein mulmiges Gefühl, als sie pünktlich kurz vor sieben Uhr die chirurgische Abteilung des Krankenhauses betrat. Auf den Fluren war es noch verhältnismäßig leer. Sie musste nicht lange warten.

Der Arzt in der Chirurgie war offensichtlich Afrikaner. Sein Name, mit dem er sich Tilda vorstellte und der auf die Tasche seines weißen Kittels mit blauem Garn gestickt war, war fast unaussprechlich. Der Mann mochte wohl etwa 35 Jahre alt sein. Das war sehr schwer zu schätzen. Seine Haut war dunkelbraun, fast schwarz, genauso wie sein Haar. Es war sehr kurz geschnitten und vollkommen kraus. Seine Augen schienen in Öl zu schwimmen. Das Weiß wirkte gelblich und seine Iris war beinahe so dunkelbraun wie seine Haut. Er war auffallend groß und sehr schlank. Er hatte wunderschöne weiße Zähne und machte einen freundlichen Eindruck. Sein Händedruck war warm und verbindlich. Hinderlich war, dass er nicht gut Deutsch sprach und so verstand Tilda nicht alles von dem, was er ihr erklärte. Weiter erschwerend kam hinzu, dass er immer wieder lateinische Fachbegriffe benutzte, die sie nicht kannte. Tilda war so beunruhigt und aufgeregt, dass sie ohnehin schon Schwierigkeiten hatte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Sie fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier und das Behandlungszimmer, in dem die grelle Neon-Deckenbeleuchtung eingeschaltet war, wirkte kalt und sachlich und machte sie noch nervöser. Dieser afrikanische Arzt sollte offenbar mit ihr das Aufklärungsgespräch über die im Anschluss bevorstehende Operation führen. Die ambulante Operation, die für das Setzen des Portkatheters notwendig war. Tilda war eingeschüchtert und traute sich kaum noch einmal nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden hatte. Offenbar wegen seiner eingeschränkten Kenntnisse der deutschen Sprache stand ihm eine zierliche, burschikos wirkende Schwester in grüner Kleidung zur Seite, die zwischen dreißig und vierzig Jahre alt war. Sie hatte die Ausstrahlung einer zähen, durchtrainierten Soldatin. Wegen ihrer geringen Größe wirkte sie wie ein Zwerg gegen ihn. Ihr ohnehin schon kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war auf der linken Kopfseite fast vollständig abrasiert. Ihre dunkelbraunen Augen mit den starken Brauen darüber blickten unterkühlt und sachlich. Sie hielt ihre Hände ständig hinter ihrem Rücken verschränkt, so als habe sie etwas zu verbergen. Ihre Nasenflügel bebten, wenn sie atmete. Der afrikanische Arzt gestikulierte während seinen Erklärungen mit den Händen, wohl um das Gesagte verständlicher zu machen. Es war ihm offenbar bewusst, dass die Patienten Schwierigkeiten hatten, ihn zu verstehen. Während er sprach, versuchte Tilda den eingestickten Namen auf seinem weißen Kittel in Gedanken auszusprechen. „Dr. Abubakar Omntumbu“ stand da. Sie fragte sich, woher dieser Mann kam. Die kleine grüne Zwergen-Krankenschwester neben ihm wartete immer ab, bis er seine Ausführungen beendet hatte, und es eine kleine Pause gab. Dann begann sie, die Informationen für Tilda noch einmal zusammen zu fassen. Alles, was Tilda verstanden hatte war, dass ihr Portkatheter eine Kammer mit einer dicken Silikonmembran war, an die der Schlauch angeschlossen werden sollte, der mit dem Gemcitabin-Tropf, der chemischen Keule, verbunden wurde. Von dort aus würde also das Gift in ihre Blutbahn gelangen. Der Arzt erklärte ihr, dass dieser dauerhafte Zugang zu ihrem Blutsystem praktisch wäre, um ihr nicht jedes Mal erneut eine Kanüle in den Arm stechen zu müssen, wenn sie zur Chemotherapie kam. Er erwähnte dabei auch, dass es möglich sei, dass dieser Zugang verstopfen konnte. Der Arzt machte zur Erklärung eine Skizze mit einem silbernen Kugelschreiber aus dem eleganten, hölzernen Ständer auf seinem Schreibtisch. Er benutzte dazu den Schreibblock, der auf seinem Tisch dafür bereit lag und auf dem schon eine ähnliche Skizze zu sehen war. Er erklärte ihr, dass, wenn der Portkatheter nicht wieder frei zu bekommen war, ein neuer an einer anderen Stelle ihres Körpers eingesetzt werden musste. Das käme leider ab und zu vor, wie er beiläufig erwähnte. Tilda befürchtete im Stillen, dass das vermutlich davon abhing, wie lange der Patient mit seinem Krebs bei dieser aggressiven Therapie am Leben blieb.

Der schwarze Chirurg blendete den Aspekt des Sterbens bei seinen Schilderungen aber vollkommen aus. Wahrscheinlich war für das Sterben in diesem Krankenhaus eine andere Abteilung zuständig. Überhaupt schien er die Maßnahmen, über die er Tilda aufklärte, nicht weiter dramatisch zu finden. Irgendwann gegen Ende seiner Ausführungen erwähnte er wie nebenbei, dass auch bei Palliativbehandlungen praktischerweise früher oder später alle Medikamente durch diesen Portkatheter gegeben werden konnten. Das würde vieles vereinfachen. Auch die regelmäßige Gabe der Schmerzmittel, wie beispielsweise des Morphins. Vor allem Patienten würden davon profitieren, so sagte er, die gegen Ende ihrer Erkrankung zu schwach waren, um ihre Medikamente auf andere Art und Weise einzunehmen. Tilda erstarrte innerlich bei seinen Worten. So direkt hatte das bisher noch niemand zu ihr gesagt. In ihrem Innern sträubte sich alles gegen das Gehörte. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Injektion bekommen, die dafür sorgte, dass ihr binnen Sekunden das Blut in den Adern gefror. In ihrem Kopf rauschte es. Sie schloss für einen kurzen Moment lang die Augen. Palliativ bedeutete ja in Wahrheit, dass es gar nicht mehr um den Versuch einer Heilung ging. Es ging nur noch um schmerzfreies Sterben. Sie wusste ja eigentlich selbst, dass das die bittere Wahrheit war. Alles in ihr bäumte sich bei diesem Gedanken auf. Tilda merkte, wie ihr übel wurde. Sie wollte nicht sterben.

Merkwürdig entschlossen zwang sie sich zur Ruhe und erkundigte sich nach den Nebenwirkungen ihrer Chemotherapie. Dr. Omntumbu lächelte freundlich, so dass sie seine schneeweißen Zähne erneut sehen konnte. „Haarausfall, Blutbildveränderungen, Übelkeit und verschiedenes mehr“, gab er vage zur Antwort. Dann aber schüttelte er den Kopf, als er zu sprechen fortfuhr. All das würden ihr seine Kollegen von der Onkologie später noch erklären, sagte er. Sie würden es rechtzeitig tun, bevor sie in der kommenden Woche ihre erste Chemotherapie bekäme. Er sei schließlich nur der Arzt, der den Port einsetzen sollte. Er sei Chirurg und kein Onkologe. Freundlich lächelnd gab er Tilda abschließend jedoch den guten Rat, sich über die Nebenwirkungen ihrer Chemotherapie keine Gedanken zu machen. Patienten, so sagte er, die sich zu viele Gedanken machten, würden die Chemotherapie erfahrungsgemäß schlechter vertragen. Vieles sei nämlich nur Kopfsache.

Tilda starrte ihn an. Von einem Moment zum anderen war sie voller Wut. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte sich nicht verhört. Sie sollte sich keine Gedanken machen, sollte stattdessen alles über sich ergehen lassen und sich nicht einbilden, das Gift nicht zu vertragen.

Tilda fragte sich entsetzt, was dieser Mann da eigentlich redete. In ihr brodelte es. Sie biss die Zähne zusammen, und versuchte, sich zu beruhigen. Alles in ihr war in Aufruhr. Ihr war, als hätten sich alle Härchen ihres Körpers wie zur Abwehr aufgestellt. Sie war schließlich nicht blöd und es gab keinen Zweifel daran, dass die eingesetzten Medikamente bei ihrer Chemotherapie hochgiftig waren. Sie würde doch nach dem Dafürhalten der Mediziner auf jeden Fall sterben, denn sie bekam eine Palliativbehandlung. Und dabei sollte sie sich keine Gedanken machen. Tilda fragte sich, was das für eine Art und Weise war. Patienten waren doch nicht automatisch dumm. Sie schien einen ausgesprochen debilen Eindruck auf den Arzt zu machen, weil sie auf diese Art beruhigt werden sollte. Das Kalenderblatt ihres Küchenkalenders fiel ihr ein, das sie kürzlich abgerissen hatte. Sollte die Weisheit darauf, dass es sich mit leerem Kopf besser nickt, eine mysteriöse Vorwarnung in Bezug auf ihre Therapie gewesen sein?

Tilda sah Dr. Omntumbu wütend an und sagte mit fester Stimme: „Ach so? Ich verstehe sie! Sie sind also auch der Meinung, dass es sich mit leerem Kopf leichter nickt.“ Betretenes Schweigen erfüllte einen Moment lang das Zimmer. Allerdings kam es weniger vom Arzt selbst, denn Dr. Omntumbu schaute sie nur verständnislos an. Er hatte offenbar wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse nicht wirklich verstanden, was sie damit meinte. Die kleine grüne Krankenschwester allerdings, die neben ihm stand, wurde plötzlich ganz blass und dann wieder rot und warf Tilda einen vernichtenden Blick zu. Sie wandte sich schnell einem Tischchen zu und ordnete dort mit fahrigen Bewegungen klappernd irgendwelche chirurgischen Instrumente. Es schien ihre Art zu sein, sich abzureagieren. Offenbar hatte sie in diesem Zweiergespann den Mund zu halten, weil es ihr nicht zustand, die Patienten in Anwesenheit des Arztes von sich aus anzusprechen oder gegebenenfalls zurechtzuweisen.

Das Vorgespräch für den Eingriff schien damit beendet zu sein. Dr. Omntumbu holte ein Formular aus seiner Schreibtischschublade. Es war eine Einverständniserklärung für das Einsetzen des Ports, die Tilda unterschreiben sollte. Unmittelbar darauf sollte offenbar dann schon der Eingriff stattfinden. Der Arzt schob ihr das Formular zusammen mit seinem Kugelschreiber über den Tisch und lächelte auffordernd, während er sagte: „Dann lesen sie bitte hier und unterschreiben!“

Einen kurzen Moment lang zögerte Tilda, dann schob sie ihm das Papier zusammen mit dem Kugelschreiber entschlossen über den Tisch zurück. Wenn sie sich bis jetzt noch im Unklaren gewesen war, so wusste sie mit einem Male, dass sie diesen Portkatheter nicht wollte. Sie brauchte ihn nicht, weil sie nicht im Entferntesten sicher war, ob sie überhaupt eine Chemotherapie machen wollte. Und falls sie sich doch noch dazu entschließen würde, dann schon gar nicht in der folgenden Woche.

Mit einem Schlage war ihr klar, dass sie, bevor sie überhaupt irgendeine Therapie anfangen würde, erste einmal in Ruhe über alles nachdenken musste. Sie fühlte sich überfahren. Wenn diese Chemotherapie ohnehin nur eine Palliativmaßnahme war, Heilung also nicht mehr zur Debatte stand, dann hatte sie alle Zeit der Welt. Was sollten dann die Toxine in ihrem Blut? Die würden zusätzlich noch ihr Immunsystem kaputt machen. Und ohne ein funktionierendes Immunsystem hatte sie erst recht keine Chance, vielleicht durch irgendeine andere Therapie gesund zu werden. Tilda hatte in diesem Moment zwar überhaupt keine Ahnung, wie ein anderer Weg aussehen konnte, aber sie sah keinen Grund dafür, sich selbst die Chance darauf voreilig zunichte zu machen.

Genau von diesem Moment an war ihr klar, dass sie erst einmal zu ihrer Schwester nach Arizona fliegen würde. Sie hatte sich entschieden. Dort wollte sie sich zunächst klar darüber werden, was sie tun sollte. Aber sie wollte das selbst entscheiden, wollte zu nichts gedrängt werden. Nicht von Dr. Omntumbu, nicht von der Klinik, nicht von Ludwig und nicht von ihren Eltern. Von niemandem. Es war ihr Leben und wenn es schlecht für sie lief, dann war es auch ihr Tod. Es war ihr gutes Recht, darüber frei zu entscheiden. Tilda war in diesem Moment gefasst und voller Ablehnung. Die anderen würden ihr den Tod schließlich nicht abnehmen, falls sich eine ihrer Entscheidungen als falsch herausstellen sollte. Das hier war ihre Möglichkeit, sich zu entscheiden. Tilda fühlte, dass sie jetzt reagieren musste.

Sie wollte nach Arizona zu ihrer Schwester. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie das Problem für sich gelöst hatte. Das war ein großartiges, ein erhabenes Gefühl nach diesem Strudel der Hilflosigkeiten, der sie zermürbt hatte. Tilda war glücklich. Sie würde das schon schaffen. Noch fühlte sie sich nicht zu schwach für die Reise, auch wenn sie weit davon entfernt war, sich gut zu fühlen. In der vergangenen Woche hatte sie immerhin noch als Lehrerin vor ihren Schülern gestanden und gearbeitet. Da hatte sie von ihrem Krebs noch gar keine Ahnung gehabt. Was sollte dagegen sprechen, wenn sie jetzt für zwei oder drei Wochen in die Staaten flog?

Erst in diesem Moment realisierte sie, dass Dr. Omntumbu sie die ganze Zeit über von der anderen Seite seines Schreibtisches her irritiert angesehen hatte. Er schien eine Erklärung dafür zu erwarten, schien ihre Weigerung, zu unterschreiben, erst einmal für eine Art Missverständnis zu halten. Nur die kleine grüne Krankenschwester ließ mit ihrem missbilligenden Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran, dass sie sehr gut verstanden hatte, wie sich die Patientin Tilda Johannsen entschieden hatte und was sie davon hielt.

Tilda erhob sich dann auch spontan mit den Worten: „Vielen Dank für ihr Angebot. Falls ich mich für eine Chemotherapie entscheiden sollte, werde ich mich bei Ihnen melden. Bis dahin brauche ich auch keinen Portkatheter.“ Sie schob den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, ordentlich zurück unter den Schreibtisch. Draußen auf dem Flur waren Stimmen und Schritte zu hören. Eine Tür fiel mit dumpfem Schlag ins Schloss. Im Raum selbst aber war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Dr. Omntumbu und die kleine, grüne Krankenschwester sahen Tilda verständnislos an. Die sah sich zu einer freundlichen Ergänzung ihrer Worte veranlasst. So nett wie möglich fügte sie hinzu: “In der nächsten Woche werde ich erst einmal in die USA fliegen. Da würde mich der Portkatheter nur stören. Das verstehen sie sicher!“ Abrupt wandte sie sich zum Gehen. Bevor sie durch die Tür hinaus auf den Flur trat, sagte sie: „Einen schönen Tag noch für sie! Auf Wiedersehen sage ich besser nicht!“ Mit einem gequälten, kleinen Lächeln schloss sie leise die Tür hinter sich und ging dann schnell den Flur entlang in Richtung Ausgang.

Hinter ihr blieb es ruhig. Wahrscheinlich mussten sich Dr. Omntumbu und der grüne Zwerg erst einmal sammeln.

Tilda fühlte sich mit einem Mal großartig. Ihre Übelkeit und auch die Schwäche waren plötzlich wie weggeblasen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie sich richtig gut fühlte. So, wie sich früher immer gefühlt hatte, als sie noch gesund war.

Zielstrebig ging sie nach Hause. In ihrem Kopf ordnete sie währenddessen bereits alle Dinge, die sie vor ihrer Abreise noch klären musste. Ihr fehlte eine ESTA-Einreisegenehmigung für die Staaten. Zum Glück gab es dieses vereinfachte Visumverfahren für Reisen in die USA. Ein reguläres Visum hätte sie viel mehr Zeit gekostet. Zeit, die sie nicht hatte.

Tilda war in Eile. Je früher sie das alles klärte, desto ehr würde sie fliegen können. Zwischen der Beantragung der ESTA-Genehmigung und dem Abflug des Antragstellers mussten, wenn sie sich recht erinnerte, mindestens 72 Stunden liegen. Das würde ihren Abflug ohnehin verzögern. Sie konnte es sich also nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren.

Ludwig kam ihr in den Sinn. Tilda hatte das Gefühl, dass sie ihn anrufen sollte, um ihm zu sagen, dass er sie nicht abzuholen brauchte. Er wartete vermutlich auf ein Zeichen von ihr. Und ihre Eltern würde sie auch anrufen müssen. Sie würden sich bestimmt aufregen, würden ihre Entscheidungen für Fehler halten.

Als Tilda Ludwig anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie schon wieder zu Hause war, ohne Operation, dafür aber mit Reiseplänen für die Staaten, sagte der im ersten Moment erst einmal gar nichts. Er war offenbar geschockt. Vielleicht hatte ihm ihre Mitteilung auch einfach nur die Sprache verschlagen.

Tilda konnte seine Reaktion nicht nachvollziehen. Immerhin hatte sie ihm ihre Reisepläne tags zuvor schon angedeutet. Hatte er ihr nicht zugehört?

Jetzt, da er merkte, dass sie das alles ohne ihn entschieden hatte, begann er, Tilda Vorwürfe zu machen. Durch´s Telefon herrschte er sie barsch an: „Du spielst mit deinem Leben, Tilda! Das ist einfach unverantwortlich!“ Er schnappte nach Luft und fuhr heftig fort. „So viel Unverstand! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch jetzt nicht verreisen, als wenn nichts wäre! Ich versteh´ dich nicht! Das ist doch irre, was du da machst! Bist du denn lebensmüde?“

Er bemerkte jedoch bald, dass seine Einschüchterungen nicht die gewünschte Wirkung erzielten. Tilda war offenbar nicht zu bewegen, ihre Meinung zu ändern. Wütend legte er auf.

Irritiert starrte sie auf ihr Telefon. Sie hatte von ihm keine Beifallsbekundungen erwartet, aber auf keinen Fall Anschuldigungen und Vorwürfe. Dennoch stand ihre Entscheidung fest. Als Ludwig am Nachmittag nach Hause kam, wirkte er beleidigt und wortkarg. Tilda erkannte das sofort an seinem Gesichtsausdruck, als er zur Tür hereinkam. Immer, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, sprach er nicht mit ihr oder nur so wenig wie möglich. Kaum hatte er seine Jacke im Flur aufgehängt, hielt er Tilda an beiden Schultern fest und starrte sie mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit an. Während er ihr in die Augen sah, presste er aggressiv hervor: „Bist du denn verrückt geworden? Wenn Du jetzt fliegst, dann wirst du sterben!“ Er schluchzte merkwürdig auf. „Du wirst sterben, wenn du dich nicht behandeln lässt! Begreifst du das denn nicht? Geht das nicht in deinen Dickschädel?“

Ein wenig tat er Tilda sogar leid, weil er sich so aufregte. Beschwichtigend schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. „Aber Schatz, ich sterbe doch sowieso! Auch wenn ich Chemotherapie mache!“ Sie versuchte zu lächeln, aber das misslang. Kurze Zeit rang sie um ihre Fassung, bevor sie mit Tränen in den Augen fortfuhr: „Du! Du bist der, der nichts begreift! Es ist eine Palliativbehandlung, die ich bekommen soll! Palliativ – verstehst du, was das heißt? Sie rechnen nicht damit, dass ich es schaffen kann. Für die Onkologen bin ich tot! Tot! Toooooot!“ Ludwig ließ hilflos die Arme sinken. Er suchte nach Worten. „Aber…… vielleicht geschieht doch noch ein Wunder……und die Chemo hilft dir?!“, stammelte er. Er war vollkommen überfordert mit dem, was geschah. Tilda löste ihre Arme langsam von seinem Hals und sah ihm in seine angstgeweiteten, blauen Augen. So aufgelöst hatte sie ihn bisher noch nie gesehen. Mit fester Stimme erklärte sie dann entschlossen: „Nein, Ludwig. Auf ein Wunder werde ich nicht hoffen. Ich weiß, dass ich handeln muss. Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Aber ich werde es herausfinden. Dafür brauche Abstand.“ Ein wenig leiser fügte sie hinzu: „Ich bin doch kein krebskranker Lemming, der sich mit den vielen anderen krebskranken Lemmingen in den Abgrund stürzt, bloß weil all die anderen das tun!“

Resigniert ließ Ludwig sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und griff sich an die Stirn. Dann flüsterte er mit brüchiger Stimme: „Schatz, ich kann dir nichts vorschreiben. Das ist klar. Aber ich bitte dich inständig: Bleib hier und mach die Chemotherapie! Vielleicht bist du eine von den Wenigen, die damit wieder gesund werden!“ Tilda setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand. „Warum sollte gerade ich diejenige sein, die es damit schafft? Selbst wenn mir das helfen sollte, die Überlebenszeit bei Krebs über 5 Jahre hinaus ist so gering, dass du noch nicht einmal zuverlässige Statistiken darüber finden kannst! Und wenn man doch irgendetwas findet, dann ist das alles bloß geschönt und entspricht nicht der Realität. Wer kann das kontrollieren? Tatsache ist doch, dass jeder vierte Mensch in Deutschland an Krebs stirbt. Krebs ist damit die zweithäufigste Todesursache bei uns in Deutschland.“ Sie legte ihre Stirn in nachdenkliche Falten und fügte hinzu: „Das sind einfach verheerende Zahlen. Und weißt du, dass achtzig Prozent aller Ärzte selbst keine Chemo machen würden, wenn sie Krebs hätten? Mindestens achtzig Prozent! Das sind zumindest die, die das bei den Befragungen zugegeben haben. So sieht die Realität aus, Luddi!“ Herausfordernd blickte sie Ludwig an und strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Ihre blauen Augen funkelten dunkel und angriffslustig, während sie weitersprach: „Ja, alle die ich kenne, sind tot! Davon lebt keiner mehr. Und die haben alle haben ihre Chemotherapie durchgezogen. Ich kenne nur zwei Frauen, die den Krebs überlebt haben. Und das ohne Chemo! Aber die beiden hatten Brustkrebs. Das ist sicher nicht vergleichbar. Bei Brustkrebs sind die Zahlen viel besser. Aber vielleicht haben sie auch überlebt, weil sie keine Chemo gemacht haben. Oder weil ihre Tumoren in Wahrheit gutartig waren. Wer weiß das schon.“

Tilda ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Orangensaft zurück. Sie stellte eins auf den Couchtisch vor Ludwig und trank selbst einen großen Schluck von ihrem Glas, bevor sie es neben das seine stellte. „Und was Margarete angeht, eine der Brustkrebs-Frauen“, griff sie erneut das Thema auf, „vielleicht war das wirklich gar kein Krebs bei ihr. Vielleicht waren es nur Zysten oder Verkalkungen oder was weiß ich. Jedenfalls das, was man vor wenigen Jahren noch als gutartig bezeichnet hätte. Das glaubt sie auch. Heute ist doch angeblich alles immer gleich Krebs! Die gutartigen Tumoren scheinen ausgestorben zu sein. Das ist mir schon länger aufgefallen. Findest du das nicht auch merkwürdig?“ Sie sah ihn fragend an und als er nicht antwortete, sprach sie weiter: „Aber wenn man alles zu Krebs erklärt, dann hat man statistisch gesehen natürlich bessere Überlebensraten. Klar!“ Da Ludwig immer noch nichts sagte, fuhr sie fort: „Vielleicht lebt Margarete deshalb noch, weil das in Wahrheit gutartige Tumore bei ihr waren. Oder sie lebt noch, weil sie keine Chemo gemacht hat.“ Sie schaute einen Moment lang still vor sich hin und sagte dann nachdenklich: „Ich glaube, sie war auch noch bei so einer Besprecherin. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie bei so einer Frau war!“

Ludwig hob theatralisch die Hände: „Bei einer Besprecherin war sie? Heiliger Strohsack! Und an so einen Unfug glaubst Du?“, fragte er wütend. „Meine Eltern kennen in München eine Menge guter Ärzte. Das ist wenigstens was Reelles und nicht so ein Hokuspokus. Kriminell ist das! Besprecherin! Das ich nicht lache! Ich werde meine Eltern bitten, einen guten Onkologen für Dich zu finden, bei dem du dich vorstellen kannst. In München!“ Er trank einen Schluck und stellte sein Glas mit einem Knall wütend wieder zurück auf den Tisch, während er weitersprach: „Das sind studierte Leute, von denen du dir helfen lassen kannst.“ Er schlug mit der flachen Hand aufgebracht auf die hölzerne Tischplatte des Couchtisches, der das mit einem Ächzen quittierte. Der Orangensaft in den Gläsern zitterte. Tilda erhob sich entschlossen von der Couch. „Egal, Ludwig. Das bringt doch nichts. Was meinst du, was die Ärzte in München mit mir machen werden? Chemotherapie! Und zwar palliativ! Mach dir doch nichts vor! Du bist doch sonst immer so ein realistischer Mensch, wie du sagst!“

Tilda ging zurück in die Küche. Von dort aus sah sie durch die geöffnete Wohnzimmertür, wie Ludwig immer noch zusammengesunken auf der Couch hockte. Einerseits tat er ihr leid. Andererseits war sie wütend auf ihn, weil er sie wie ein unverständiges, kleines Mädchen behandelte. Sie war zwar sechs Jahre jünger als er mit seinen sechsunddreißig, aber sie litt doch nicht plötzlich an Verblödung, weil sie Krebs hatte! Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Was wusste er schon davon, wie sie sich fühlte und was das Beste für sie war? Wie konnte er nur so blind sein, ihr genau das vorzuschlagen, was all die anderen verzweifelten Krebskranken auch schon erfolglos versucht hatten? Genau das, was die meisten von ihnen mit ihrem Leben bezahlt hatten. Tilda kochte innerlich vor Wut.

Schlagartig spürte sie wieder dieses Unwohlsein in sich. Es war ihr, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. In ihrem Bauch baute sich erneut der dumpfe Druck auf, den sie seit Wochen kannte. Sie setzte sich erschöpft auf einen der Küchenstühle. Entmutigt starrte sie vor sich hin, konnte kaum einen Gedanken fassen. Sie fragte sich verzweifelt, ob diese Krankheit tatsächlich ihr Todesurteil sein sollte. Warum stritt Ludwig mit ihr über die Behandlung? War nicht der Grund dafür in Wahrheit der, dass er die Verantwortung für den weiteren Verlauf abgeben wollte, um besser damit zu Recht zu kommen? War es tatsächlich das? Natürlich wäre das vollständiger Unsinn, denn es gab doch gar keine Verantwortung für ihn in dieser Sache! Warum verstand er nicht, dass sie alles für besser hielt, als die übliche Therapie?

Sie war enttäuscht von ihm. Dass Ludwig ihr in den Rücken gefallen war ließ ihr keine Ruhe. Langsam ging sie wieder hinüber zu ihm ins Wohnzimmer. Sein Gesicht wirkte verquollen, seine Augen gerötet. Er sah so aus, als ob er geweint hätte. Seit sie ihn kannte hatte sie ihn noch nicht ein einziges Mal weinen sehen. Irgendwie tat er ihr leid, aber sie fühlte gleichzeitig auch ganz viel Wut in sich. Sie fragte sich, warum er plötzlich so sensibel sein sollte. Hatte er vielleicht nur aus reinem Selbstmitleid geweint, weil sie so unnachgiebig auf ihrem Standpunkt beharrte? Vorsichtig setzte sie sich wieder neben ihn, legte versöhnlich ihren Arm um ihn und versprach mit der freundlichsten Stimme, zu der sie sich unter diesen Umständen fähig war: „Jetzt hör´ mir doch zu, Luddi! Ich bleibe nur drei Wochen bei Doro. Dann komme ich zurück. Und wenn mir bis dahin kein anderer Weg eingefallen ist, dann werde ich die Chemotherapie machen. Ich versprech´s dir!“ Sie machte eine Pause und sah ihn bittend an, bevor sie fortfuhr: „Wenn ich zurück komme ohne eine bessere Idee, dann werde ich das machen. Wäre das okay für dich?! Sie sah ihn abwartend an.

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9783742761583
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