Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 10

Шрифт:

Etwas unsicher vernahm sie die Stimme ihrer Mutter durch´s Telefon: „Wie meinst du das denn, du brauchst andere Luft? Kind, ich kann dir nicht folgen! Andere Luft heilt doch keinen Krebs!“ Tilda versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen: „Naja, niemand weiß, warum ich diesen Krebs bekommen habe. Vielleicht ist hier irgendein Gift in meiner Umgebung. Was weiß ich denn? Sag du mir doch, woher ich diese Krankheit habe!“ Statt einer Antwort kam nur Schluchzen vom anderen Ende der Leitung. Tilda hatte genug von dieser Depression, die sich wie ein schwarzer Schleier über ihre gesamte Familie gelegt hatte. Schließlich war sie noch nicht tot und wenn sie noch nicht tot war, dann gab es noch Hoffnung.

Aber hin und wieder überkam sie selbst Panik beim Gedanken an den Ausnahmezustand, in dem sie sich befand. Alles in ihrem Leben stand mit einem Mal in Frage. Normalerweise war es so, dass die Eltern vor ihren Kindern starben. Jetzt würde es vielleicht umgekehrt sein. Seit sie an dieser schrecklichen Krankheit litt, die mit dem Fortbestand ihres Lebens unvereinbar war, schienen alle ihr diese Tatsache unablässig deutlich machen zu wollen. So, als ob sie das nicht selbst längst verstanden hätte. Diese Tatsache erzeugte ein unbeschreibliches Vakuum in ihr. Ein Vakuum, das sie immer mehr zusammendrückte und das ihr die Luft zum Atmen nahm. Unter Tränen wiederholte ihre Mutter noch einmal, sie möge doch in Hamburg bleiben, „da man doch schließlich nicht wisse, was kommen würde“.

Tilda spürte, wie ihre Angst sich immer mehr in Aggression verwandelte. Eigenartigerweise war das ein befreiendes Gefühl. Entschlossen stand sie von dem Stuhl im Arbeitszimmer auf, auf dem sie gesessen hatte. „Mam? Ich bin noch nicht tot. Hörst Du? Das kannst du auch Paps sagen. Ich bin noch nicht tot! Und wenn man noch nicht tot ist, dann kann man noch was machen. Mir wird schon irgendwas einfallen. Ich weiß nicht was, aber mir ist bisher immer was eingefallen. Was ich weiß ist, dass ich dringend raus muss aus Hamburg, sonst sterbe ich tatsächlich noch!“ Und mit fester Stimme fügte sie hinzu: „Und ihr beiden seid auch nicht gerade hilfreich für mich! Den Vorwurf müsst ihr euch schon gefallen lassen.“ Sie beendete wütend das Gespräch, indem sie das Telefon auf die Ladestation warf. Neugierig steckte Ludwig den Kopf zur Tür herein. Wahrscheinlich hoffte er insgeheim, Tilda hätte eine Kehrtwende vollzogen. Stattdessen giftete sie ihn an: „Und du? Du kannst auch verschwinden! Ihr seid alle so furchtbar selbstgerecht! Ihr wisst alles besser! Wer ist denn hier eigentlich krank? Nein, du wirst schon nicht sterben, Ludwig! Jetzt guck´ mich nicht so komisch an. Ich kann´s nicht mehr sehen und ich kann´s auch nicht mehr hören. Ich bin froh, wenn ich hier weg bin! Ihr seid doch alle irre! Ihr bringt mich wirklich noch um mit eurem Gerede!“

Voller Wut rauschte sie aus dem Zimmer, nahm eine ihrer Jacken von der Garderobe im Flur und schlug die Tür hinter sich zu, die daraufhin krachend ins Schloss flog. Sie hatte in diesem Moment keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Sie wollte nur weg von Ludwig, raus aus der gemeinsamen Wohnung, raus aus dem Stress. Ziellos lief sie durch die Stadt. Es war inzwischen dunkel geworden. Manche Geschäfte waren noch geöffnet und aus den Schaufenstern floss das Licht golden auf den Bürgersteig. Überall waren Menschen. Es tat Tilda gut, so ganz anonym unter ihnen zu sein. Niemand kannte sie, niemand wusste etwas von ihr. Sie war plötzlich wieder ein ganz normaler Mensch unter vielen anderen ganz normalen Menschen in dieser Stadt. Tilda fühlte sich wie befreit und atmete tief durch. Es war kühl geworden. Die frische Luft füllte ihre Lungen mit Sauerstoff und beruhigte ihre angespannten Nerven. Niemals hätte sie gedacht, wie glücklich sie frische Luft machen konnte.

Sie dachte darüber nach, dass jeder Mensch in seinem Leben immer etwas ganz Besonderes sein wollte. Bis vor kurzem wollte sie das auch. Aber nach allem, was ihr in den letzten Tagen passiert war, mochte sie noch nicht einmal mehr daran denken. Sie wollte einfach nur noch ganz normal sein, vollkommen unauffällig. Sie wollte normale Dinge tun, ein ganz normales Leben haben und vor allem eine ganz normale Gesundheit. War das denn unnormal? War das zu viel verlangt? Gedankenschwer lief sie die hell erleuchtete Straße entlang und unter all den Menschen hatte sie das Gefühl, einzutauchen in diese anonyme Gemeinschaft, von ihr getragen zu werden und einfach nur wie Conny der Korken in der Mitte auf dem reißenden Fluss zu schwimmen. Conny schien alles richtig gemacht zu haben. Conny war fidel, fröhlich, gesund und schlagfertig, obwohl sie so ein furchtbares Schicksal hinter sich hatte. Conny! Umständlich fischte Tilda ihr Handy aus der Jackentasche. Zwanzig Minuten später saßen die beiden Frauen in einem gemütlich erleuchteten Kaffee und tranken gemeinsam ein Glas Wein auf die Zukunft. „Kopf hoch!“ sagte Conny und lächelte ermutigend. „Die anderen in deiner Familie haben doch alle nur Angst. Sie wollen nichts falsch machen. Sie sind wie gelähmt. Versuch´ sie ein bisschen zu verstehen!“ Tilda wollte es ja versuchen. Aber wer verstand sie?

Am darauffolgenden Montag, nachdem sie gerade ihre Flüge gebucht hatte, klingelte das Telefon. Es war die onkologische Ambulanz des Krankenhauses. Dr. Schnitzer selbst, der Onkologe, wollte sie sprechen und scheute offensichtlich keine Mühen, ihr noch einmal zu erklären, dass eine Chemotherapie zwar nur ein Angebot an den Patienten sei, aber dass er ihr unter den gegebenen Umständen dringend dazu raten müsste. Tilda schwieg im ersten Moment irritiert. Sie war verwundert, dass die Fürsorge des Krankenhauses sogar so weit ging, den abtrünnigen Patienten per Telefon zu Hause ins Gewissen zu reden. Gleichzeitig wuchs ihr Misstrauen. Dr. Schnitzer empfahl ihr dringend, noch einmal über ihre Entscheidung nachzudenken? Wieso war ihre Entscheidung denen im Krankenhaus so wichtig? Tilda blieb einsilbig am Telefon. Ihr Blick glitt über die Flugtickets nach Phoenix/Arizona, die ausgedruckt auf dem Tisch vor ihr lagen. Die wahren Beweggründe von Dr. Schnitzer waren ihr eigentlich egal. Er machte lediglich seine Arbeit und er würde sie mit seinem Gift- Cocktail auch nicht vor dem Tode retten können. Er hatte die Mehrzahl der anderen vor ihr ja auch nicht retten können. Was also sollte sein Anruf bei ihr bewirken? Er hatte ihr nichts vorgeschlagen, was eine wirkliche Chance in sich trug. Tilda wollte keinen Streit mit ihm. Sie wollte nur, dass er sie in Ruhe ließ. Und sie wollte nicht sterben, sich nicht kampflos ergeben und sie wollte auch keine Morphium-Tröpfe. Sie beendete das Gespräch.

Nachdenklich beobachtete sie die blau-weiß gestreifte Markise, die draußen auf dem Balkon im Frühlingswind flatterte und die Sonne, die goldene Streifen auf die Scheiben der großen Terrassentür warf. Waren Krankenhäuser nicht auch nur Firmen, die Gewinne erwirtschafteten mussten, um sich selbst zu erhalten? Wie war es da eigentlich um die Ehrlichkeit bei den Behandlungs- Angeboten bestellt? Wie neutral konnte so eine Klinik beraten, wenn eine Therapie -zigtausend Euro kostete und ein Teil davon als Gewinn blieb? Wie viele Krebspatienten brauchte eine Klinik im Jahr, um ihren Status als Therapiezentrum aufrecht zu erhalten? Wenn der Arzt seinen Patienten hinterher telefonierte und ihn zu etwas überreden wollte, dann war das nach Tildas Empfinden schon sehr merkwürdig. Es war ihr unheimlich. Egal welche Beweggründe Dr. Schnitzer in Wahrheit hatte. Sie würde nichts tun, was sie später vielleicht bereuen würde.

In diesem Durcheinander von Ratlosigkeit und Hoffnung, zwischen Hilflosigkeit, Übelkeit, Schwäche und Einsamkeit war Tilda eines jedoch nach diesem Abend mit Conny ganz klar geworden: Sie wollte unter allen Umständen der Korken sein. Sie wollte auf dem reißenden Fluss des Lebens in der Mitte und an der Oberfläche bleiben. Sie wollte weiter schwimmen, weiter, immer weiter. Sie wollte nicht vor der Zeit zugrunde gehen.

Was sie wollte war ihre Reise nach Amerika. Sie wollte zu ihrer Schwester, zu ihrem Schwager Sam und zu den Kindern. Sie hatte zwar noch überhaupt keinen Plan, wie sie das anstellen sollte, aber sie würde dort schon etwas finden, was sie am Leben hielt. Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Es war notwendig, also war es möglich. Tilda war sich sicher, dass sie nichts mehr brauchte, als innere Einkehr, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Obwohl sie sich in höchstem Maße verunsichert fühlte, war sie doch zum gleichen Zeitpunkt auch voller innerer Zuversicht, dass sie es schaffen würde. Sie würde nicht sterben! Genau das war es, was sie für sich entschieden hatte, was sie tief in sich fühlte.

Ein alles überlagerndes, großartiges Gefühl der Dankbarkeit, eine Mischung aus Zuversicht und innerem Frieden erhellte Tilda wie ein inneres Licht, als sie an diesem Abend ins Bett ging und ihre Decke über sich zog. Sie lag vollkommen still in der Geborgenheit des dunklen Raumes. Aus dem Wohnzimmer drangen die Geräusche des Fernsehers. Ludwig sah sich irgendeinen Krimi an. Er war ein Meister der Ablenkung und doch konnte Tilda ihn ein wenig verstehen. Während sie so im Dunkeln lag, lauschte sie still in sich hinein. Da war eine große Schwäche ich ihr, aber sie fühlte sich trotzdem nicht schlecht. Als ihre Augen sich nach ein paar Minuten an das Dunkel des Raumes gewöhnt hatten glitt ihr Blick über die Konturen der Möbel, deren Silhouetten sich würdevoll und stumm im Dunkel des Raumes abzeichneten. Ihre Augen wanderten weiter über das Glas der großen Fensterscheiben, die gen Westen hinausgingen. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Der Himmel weinte. Am dunklen Glas sah sie, wie die Silberfäden des Regens hinabglitten, sich immer wieder erneuerten und weiterflossen. Tropfen wie Silberperlen bildeten sich und wurden abwärts gezogen wie von einer unsichtbaren Kraft. Sie stellte sich vor, dass sie wie ein Korken im brodelnden Fluss ihrer Krankheit davon schwamm. Weiter und weiter zog sie der Fluss, immer weiter weg aus der Gefahrenzone. Um sie herum gurgelte das vom Regen aufgepeitschte Wasser. Wer hatte sie eigentlich gefragt, was sie selbst wollte? Und war es nicht vollkommen egal, wie reißend der Fluss war? Korken gingen niemals unter, denn Korken schwammen. Es würde einen Weg geben. Es gab immer einen Weg. Es war notwendig, also war es möglich.

KAPITEL 4

Nur noch wenige Stunden waren es, die Tilda von ihrem Abflug nach Phoenix trennten. Der Juni hatte mit regnerischem, aber recht warmem Wetter begonnen. Ludwig hatte sich bis zum Schluss quergestellt, dann aber doch versprochen, Tilda zum Flughafen zu fahren. Auch ihre Eltern Thomas und Brigitte hatten zugesagt, dorthin zu kommen. Trotzdem war sich Tilda nicht sicher, ob sie beim Abschied tatsächlich da sein würden. Seit den letzten Auseinandersetzungen war die Stimmung zwischen ihnen angespannt. Tilda hatte sich zurückgehalten und den Kontakt nicht mehr gesucht. Sie hatte genug von Moralpredigten und davon, ständig Dinge gesagt zu bekommen, die sie ängstigten. Sie fürchtete sich selbst schon genug vor dem, was da auf sie zukam. Ihr Unwohlsein war in den letzten Tagen wieder stärker geworden und hielt die meiste Zeit des Tages über an. Unter diesen Umständen hielt sich natürlich auch ihr Appetit in Grenzen. Schleichend verlor sie immer weiter an Gewicht. Das bereitete ihr große Sorge. Tilda hoffte, dass alles besser werden würde, wenn sie erst einmal weit weg war von dem Druck, der in Hamburg auf ihr lastete. Sie war überzeugt davon, dass es ihr bei ihrer Schwester schnell besser gehen würde.

Doro hatte ihr am Telefon versprochen, dass sie alle ab sofort im Hinblick auf ihren Besuch nur noch „gesund“ essen würden. Sie hatte Sam und den Kindern gesagt, wenn das für ihre Schwester wichtig sei, dann sei es für sie alle wichtig. Tilda freute sich unbeschreiblich darauf, sie alle endlich wiederzusehen. Seit sechs Jahren hatten sie sich nun schon nicht mehr besucht. Natürlich, sie hatten jede Woche mindestens einmal miteinander telefoniert und über Skype hatten sie sich dabei auch sehen können. Aber das war nicht dasselbe. Es war vollkommen anders, einen Menschen umarmen zu können, seine Nähe zu spüren und an seinem Leben teilnehmen zu können. Tilda konnte sich gar nicht vorstellen, wie es sich für sie angefühlt hätte, wenn so wie in früheren Zeiten Briefe die einzige Verbindung zwischen ihnen hätten sein müssen. Tilda freute sich auch auf ihren zwölfjährigen Neffen Gregory und auf Gesine, ihre achtjährige Nichte. Aber vor allem war sie neugierig auf den kleinen Gustav, ihren jüngsten Neffen. Er war mittlerweile bereits fünf Jahre alt und sie hatte ihn noch nie persönlich kennengelernt. Alle drei zusammen waren ohne Zweifel eine Rasselbande voller Energie und Tatendrang, die jeden Tag aufs Neue gebändigt werden musste. Tilda fand drei Kinder wirklich grenzwertig, zumindest aus ihrer eigenen Sicht und für ihr Leben. Sie bewunderte den Mut ihrer Schwester, die mit dieser Herausforderung aber offensichtlich gut zu Recht kam. Dabei war sie früher gar keine so große Verfechterin des Familienlebens gewesen. Aber schließlich schien sie mit Sam ihre Meinung geändert zu haben. Tilda war wirklich gespannt auf die Kinder, für die sie bisher immer irgendwie nur die „fremde Tante aus Deutschland“ geblieben war.

Eigene Kinder zu haben war ihr bisher noch nie wichtig gewesen. Vielleicht war auch einfach der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen. Zumindest war das ihr Satz, den sie immer sagte, wenn sie irgendjemand danach fragte. Bisher war da immer das Gefühl gewesen, als hätte das noch Zeit. Kinder passten noch nicht in ihr Leben. Erst war es das Studium gewesen, das sie abgehalten hatte. Dann folgte der berufliche Einstieg als Lehrerin und schließlich war es die Beziehung mit Ludwig, in der sie nicht so glücklich war, dass sie ihn sich als Vater ihrer Kinder hätte vorstellen können. Sie wollte auch nicht gleich durch eine Geburt wieder beruflich aussetzen müssen. Dabei war es dann geblieben. Sie hatte sich fortan damit beruhigt, dass die Kinder ja schließlich nicht alle werden würden und später noch Gelegenheit war, um sich zu entscheiden. Außerdem gab es in der Schule wahrhaftig genug Kinder. Oft war sie nachmittags einfach nur froh, wenn sie zu Hause ihre Ruhe vor ihnen hatte.

Ludwig hingegen wünschte sich Kinder, obwohl Tilda ernsthaft daran zweifelte, dass er außer diesem Lippenbekenntnis eine genaue Vorstellung von dieser Aufgabe hatte. Von außen betrachtet war zwischen Ludwig und ihr eigentlich alles in Ordnung und doch war es das überhaupt nicht mehr. Um es mit Connys Worten auszudrücken, die das Talent besaß, alles immer irgendwie genau auf den Punkt zu bringen: „Der Lack war ab.“ Und jetzt war sowieso irgendwie alles ganz anders. Jetzt war sie todkrank und würde vielleicht nie Kinder bekommen können. Das war dann doch ein schrecklicher Gedanke, der Tilda sehr beschäftigte. Diese Vorstellung hatte so etwas Endgültiges. Trotzdem tröstete sie sich damit, dass es in ihrer Situation gut war, keine Kinder zu haben. Vielleicht war es so etwas wie eine schicksalhafte Fügung, die immer dafür gesorgt hatte, dass es noch keine Kinder in ihrem Leben gab. Wenn sie jetzt sterben würde, dann würde sie wenigstens ihre Kinder nicht als Halbwaisen in dieser Welt zurücklassen müssen.

Halbwaisen! Das war ein furchtbares Wort. Tilda schauderte. Sie schüttelte sich unwillkürlich. Innerlich spürte sie eine große Abwehr gegen derlei Gedanken und doch drängten sie sich ihr immer wieder auf. In ihrem Mund machte sich ein pelziger, schaler Geschmack breit. Sie dachte daran, dass nach einer Chemotherapie eine Schwangerschaft ohnehin fast immer ausgeschlossen war. Das hatte Dr. Schnitzer neulich in seinen Ausführungen irgendwann wie beiläufig erwähnt. Er hatte es so gesagt, als wenn das überhaupt nicht wichtig wäre. Es hatte Tilda in diesem Moment auch tatsächlich wenig interessiert. Zu diesem Zeitpunkt war sie sich allerdings schon sicher gewesen, dass sie sein Gift nicht wollte.

Einerseits war sie stolz auf sich und glücklich, dass sie die toxische Therapie für sich erst gar nicht in Erwägung gezogen hatte. Das war ein gutes Gefühl und ein wenig beängstigend zugleich. Nachdem der letzte Anruf von Dr. Schnitzer seine Wirkung bei ihr verfehlt hatte, hatte sie vom Krankenhaus nichts mehr gehört. Sie würde sehen, wie es in Zukunft weiterging. Das einzige, was sie wirklich interessiert hätte wäre gewesen, ob es dem Krankenhaus tatsächlich um sie als Patientin ging oder ob es nur das Geld war, das sie mit ihrer Krankheit verdienen wollten.

Nachmittags hatte Tilda noch ein lapidares Schreiben der Onkologie im Briefkasten gefunden, aus dem hervor ging, dass sie sich gegebenenfalls zu „Palliativmaßnahmen“ an die onkologische Abteilung des Krankenhauses wenden konnte. Das Schreiben machte darauf aufmerksam, damit der ärztlichen Aufklärungspflicht entsprochen zu haben und dem „Gesetzgeber“ Genüge zu tun. Für Tilda bedeutete der Inhalt des Briefes, dass sie sich dann zum Sterben wieder auf der Station melden konnte. Zumindest hatte sie den Inhalt so interpretiert. Natürlich erschreckte sie das. Nachdem sie das Schreiben gelesen hatte, hatte sie sich den Rest des Tages furchtbar gefühlt.

Tilda war sich nicht sicher, ob das Angebot in dieser Formulierung wirklich im Sinne der Patienten war. Sie wollte das für sich auch nicht weiter hinterfragen, wollte sich nicht aufregen und sich auch nicht darüber ärgern, da Ärger ihrer Ansicht nach alles immer nur noch ärger machte. Es war nichts, was sie weiter bringen würde. Sie hatte das Stück Papier genommen und ordnungsgemäß in ihrem Ordner abgeheftet. Dabei hatte sie sich vorgenommen, den Inhalt als erledigt zu betrachten.

Was sie zunehmend ängstigte war der Gedanke daran, dass alle üblichen medizinischen Maßnahmen abzulehnen möglicherweise tapfer war, wenn man so wie sie der nutzbringenden Wirkung einer Chemotherapie nicht vertraute. Doch wenn sie sich dann vor Augen führte, dass sie überhaupt keinen anderen Plan hatte, um den Krebs aus ihrem Körper zu vertreiben, dann fand sie ihre Entscheidung schon riskant. Außer mit Conny und mit ihrer Schwester konnte sie über diese Ängste mit niemandem sprechen. Andere Menschen in ihrer Umgebung waren gewöhnlich schnell dabei, ihre Einstellung als unverantwortlich, als geradezu verrückt zu bezeichnen. Tilda wollte das nicht hören. Niemand sollte ihr sagen: „Und jetzt? Was willst du denn jetzt anstatt dessen machen? Du musst doch einen Plan haben, wenn Du keine Chemo machen willst!“ Nein, Tilda hatte aber noch keinen Plan, jedenfalls momentan noch nicht.

Würde sie am Ende doch Zugeständnisse machen müssen? Tilda biss die Zähne fest aufeinander. Alles in ihr sträubte sich. Soweit war es noch nicht. Soweit würde es auch nicht kommen. Es war schließlich Krebs und keine Verblödung unter der sie litt. Sie würde sich etwas überlegen. Wahrscheinlich war es normal, dass sie nach einer Woche noch keinen Plan hatte. Und nein, sie war natürlich kein Arzt. Aber was hätte ihr das genützt? Ärzte konnten ihr auch nicht helfen. Vielleicht war es am Ende sogar besser, kein Arzt zu sein.

Während der Fahrt zum Flughafen Fuhlsbüttel trieben sich diese Gedanken unaufhörlich in ihrem Kopf herum. Sie wollte nicht mit Ludwig reden und hielt ihre Augen geschlossen, damit er sich nicht in ein Gespräch verwickeln konnte. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie hatte etwas über vegane Ernährung bei Krebs gelesen und über das Heilfasten von Krebskranken. Sie hatte sich auch in der Kürze der Zeit über einige andere Methoden der alternativen Krebsbehandlung informiert. Sie hatte ein Buch über „Essiac“ von einer Kollegin in ihrem Koffer. „Essiac“ sollte ein hilfreicher Kräutersud der Ojibwe Indianer sein, deren Stamm in Kanada und im Norden von Amerika lebte. Das zumindest stand auf der Rückseite des Einbandes. Sie war sich nicht sicher, ob ihr so ein Kräutersud helfen würde oder ob er am Ende nicht viel zu schwach für so eine große Aufgabe war. In ihrem Koffer befand sich außerdem noch das Buch einer gewissen Dr. Clark, einer amerikanischen Zellphysiologin. Nach Clarks Auffassung war Krebs eine Krankheit, die durch Parasiten oder durch Umweltgifte hervorgerufen wurde. Das Buch war ein dicker Wälzer und Tilda wusste nicht so genau, ob sie es schaffen würde, die beiden Bücher während ihrer drei Wochen in Scottsdale bei ihrer Schwester zu lesen. Eine freundliche Buchhändlerin hatte ihr das Buch von Dr. Clark empfohlen. Obwohl „empfohlen“ eigentlich nicht das richtige Wort dafür war. Während sie einige Tage zuvor in einer kleinen Buchhandlung im Herzen von Hamburg das Regal mit der Aufschrift „Gesundheit“ durchforstete, stand wie aus dem Boden gewachsen plötzlich diese nette ältere Buchhändlerin neben ihr. Sie hatte feines, ergrautes Haar mit Löckchen wie Federn und forschende, aber freundliche, graubraune Augen. Ihre Brille mit goldenem Gestell hing an einer ebenso goldenen Kette von ihrem Hals herab. Sie mochte wohl 60 Jahre alt gewesen sein. So liebenswert, wie sie Tilda bei ihrem Eintreten begrüßt hatte, so freundlich und bestimmt fragte sie später: „Sie suchen etwas über Krebs?“ Tilda nickte verblüfft. Wie konnte diese Frau das ahnen? Die freundliche Buchhändlerin schien ihr die Frage vom Gesicht abgelesen zu haben. Mit einer leichten Handbewegung deutete sie wortlos auf die beiden Bücher über alternative Krebsbehandlung, die Tilda bereits auf das kleine Lesetischchen neben dem Regal gelegt hatte und lächelte. „Wenn ich Ihnen ein Buch zum Thema empfehlen darf?“ Einen kurzen Moment zögerte sie, so als wartete sie auf Tildas Antwort. Kurz darauf beförderte sie mit einem entschlossenen Handgriff das dicke Buch von Dr. Clark aus einer der oberen Reihen des Regales herunter. „Dem hier“, fuhr sie lächelnd fort, “verdankt mindestens einer meiner Kunden sein Leben. Das hat er mir selbst erzählt. Ich denke, dass es auf jeden Fall lesenswert ist.“ Sie drückte Tilda das Buch in die Hand. „Schauen sie einfach mal rein!“

Tildas Augen huschten über den Einband. „Heilung ist möglich“. Einen Moment lang sah sie die Buchhändlerin unschlüssig an. Heilung ist möglich? Das hörte sich gut an. Eine Empfehlung war oft das Beste, was dem unschlüssigen Käufer passieren konnte. Manchmal war sie auch ein Zeichen. Tilda gab sich einen Ruck und stellte die beiden anderen Bücher zurück ins Regal. Das Buch von Dr. Clark, das dicker war als ein Ziegelstein, behielt sie in der Hand und sagte: „Danke, das nehme ich dann. Vielleicht kann ich dem Buch auch bald mein Leben verdanken. Das hoffe ich zumindest.“ Tilda folgte der Buchhändlerin zur Kasse und bezahlte. Die lächelte freundlich, als sie das Buch in eine braune Papiertüte mit dem Logo der Buchhandlung schob: „Alles Gute für Sie. Und gute Besserung!“ Tilda standen sofort wieder die Tränen in die Augen. Die Dame beugte sich ein wenig über ihren Verkaufstresen und sagte mit fast beschwörender Stimme: „Lesen sie das. Es ist bestimmt das Richtige für sie ist. Alles wird gut“. Als Tilda unmittelbar darauf den Laden verließ, drehte sie sich in der Tür noch einmal um. Sie war etwas verlegen wegen ihrer Tränen. Ihre Lippen bebten ein wenig, als sie leise sagte: „Ich danke ihnen!“

Nun lag das Buch in der braunen Papiertüte hinten in ihrem Koffer. Wenn es tatsächlich einem Menschen bereits das Leben gerettet hatte, und die Buchhändlerin hatte sie sicher nicht angelogen, dann war es eine gute Wahl. Vielleicht würde es auch ihr helfen.

Als Tilda und Ludwig am Hamburger Flughafen ankamen, das Gepäck ausgeladen hatten und sich dem gläsernen Eingangsbereich der Terminals näherten, sah Tilda unter der großen Anzeigetafel für die Abflüge bereits ihre Eltern warten. Sie standen dort in der großen Halle mit dem spiegelblanken Fußboden. Ihre Mutter Brigitte hatte ein verweintes Gesicht und putzte sich ständig die Nase. Ihre grauen Haare waren wie immer perfekt frisiert und ihr dunkelblaues Kostüm sah so aus, als wollte sie vom Flughafen direkt zur Bank. Seit sie im Rentenalter war, hätte sie ihren Bekleidungsstil eigentlich lockern können. Aber sie hatte sich offensichtlich noch nicht dazu durchringen können. Sie traute dem neuen Lebensabschnitt offenbar noch nicht. Neben ihr sah Tilda ihren Vater Thomas, der etwas steif daneben stand. Im Gegensatz zu seiner Frau trug er ein langärmeliges, graublaues Shirt und eine etwas verwaschene Jeans, darüber seine Lieblingsjacke, die ihre besten Zeiten bereits hinter sich hatte. Obwohl sich die beiden vom Charakter und von ihrer Art her sehr ähnelten, so hatten sie inzwischen doch einen vollständig unterschiedlichen Stil, was ihr Äußeres anging. Während Tildas Mutter auch jetzt noch sehr viel Wert auf ihr Äußeres legte, sah das ihr Vater seit seiner Pensionierung entspannter. Jetzt schien er in die Betrachtung der Anzeigetafel vertieft zu sein und kniff seine Augen ein wenig zusammen, um besser lesen zu können. So, wie es aussah, hatte er wieder einmal seine Brille vergessen. Tilda sah, wie ihre Mutter an seiner Seite leise vor sich hin weinte. Ein Großteil ihrer Wimperntusche klebte bereits am Taschentuch, was dunkle Flecken verursachte, die Tilda sogar aus einiger Entfernung schon sehen konnte. Jetzt hatten die beiden sie entdeckt und kamen auf sie zu. Offenbar waren sie fest entschlossen, einen optimistischen Eindruck zu machen. Tilda war etwas beklommen zumute in der Erwartung ihrer Reaktion. Seit ihrer letzten Auseinandersetzung am Telefon vor etwa achtundvierzig Stunden war Funkstille zwischen ihnen gewesen. Tilda wusste aber von Doro, dass sie sie als die Ältere beschuldigten, gemeinsame Sache mit ihrer kleinen Schwester zu machen. Sie hatten Doro gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Tildas Reise zu ihr für vollkommen irrational und sogar für lebensgefährlich hielten. Doro versuchte, das gelassen zu sehen und sich nicht damit verrückt zu machen.

Es war eine tränenreiche Begrüßung, der kurz darauf ein ebenso tränenreicher Abschied folgte. Die Zeit war glücklicherweise knapp bemessen und alle vermieden die heiklen Themen. Zum Schluss weinten sie alle. Nur Ludwig vergoss keine Träne. Ihm machte die Situation sicher auch zu schaffen, aber offenbar nicht in gleichem Maße wie allen anderen. Kurz vor der Sicherheitskontrolle kam der Moment des Abschieds. Tilda umarmte ihre Eltern, die um ihre Fassung rangen. „Bis bald!“ flüsterte sie unter Tränen und fügte hinzu: „Es wird alles wieder gut. Das hoffe ich jedenfalls.“

Ihr Vater Thomas umarmte sie ebenfalls und sagte mit strenger, bebender Vaterstimme: „Bleib nicht zu lange weg, Mädchen. Vielleicht entscheidest du dich doch noch für eine Therapie in der Klinik. Es wäre schön, wenn es dann nicht zu spät ist.“ Ihre Mutter schluchzte und brachte, wie meist in solchen Situationen, kein Wort hervor. Tilda umarmte auch sie und gab ihr einen Kuss. „Mam, bis bald! Ich denk drüber nach, was ich machen werde. Du weißt ja: Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Das habt ihr mir früher so oft gesagt. Und so ist es auch. Und Doro will mir nur helfen. Sie hat mir immer beigestanden. Ihr müsst versuchen, uns zu verstehen.“

Tilda stopfte schnell noch die Geschenke ihrer Eltern für die Kinder in ihren Rucksack, der daraufhin zum Bersten gefüllt war und unförmige Beulen bekam. Ludwig küsste sie zum Abschied und ermahnte sie ebenfalls mit strenger Stimme: „Bleib nicht zu lange weg, Schatz. Drei Wochen, mehr nicht. Sonst komm´ ich dich holen!“ Tilda nickte zögernd. In drei Wochen war sie sicher zurück. Davon abgesehen war es sehr unwahrscheinlich, dass Ludwig, der Fliegen hasste, um sie zu holen in ein Flugzeug stieg. Seine blauen Augen schwammen ein wenig, als er sie anschaute. Tilda registrierte es mit einiger Verwunderung. Sie hatte ihn in den sechs Jahren ihrer Beziehung noch nie richtig weinen sehen. Er küsste sie noch einmal auf beide Wangen und drückte sie. „Du machst das schon.“ flüsterte er ihr ins Ohr. Es klang nicht sehr überzeugt. Eine Gruppe aus etwa 12 Japanern eilte aufgeregt miteinander diskutierend vorüber. Die Frauen kicherten wie kleine Mädchen. Sie alle verbreiteten Hektik, die ansteckend war. Ein Herr mittleren Alters, offenbar ein Geschäftsreisender im schicken grauen Designer-Anzug und nur mit schwarzem Aktenkoffer unterm Arm, zwängte sich entschuldigend an ihnen vorbei, gefolgt von einer blonden jungen Frau mit einem Baby auf dem Arm. Es war offensichtlich, dass sie mit ihrem Verabschiedungsritual mitten im Weg standen.

Tilda ergriff die rettende Initiative und beendete kurzentschlossen das unangenehm-emotionale Familientreffen. Sie ging einfach los und winkte dabei allen noch einmal zu. Während sie sich entfernte, grub sie die Zähne schmerzhaft in ihre Unterlippe, um die Tränen zurück zu halten. Es gelang ihr nur zum Teil. Sie legte ihren Rucksack und ihre Handtasche aufs Band der Sicherheitskontrolle und war einige Minuten später im Transitbereich des Flughafens verschwunden. Dort schaltete sie ihr Handy aus. Sie wollte vor ihrem Flug auf gar keinen Fall noch emotionale Nachrichten lesen, die vielleicht von Ludwig oder von ihren Eltern kamen. Sie fühlte wieder diese leichte Übelkeit in sich, die sie nun schon seit Monaten begleitete. Nervös ließ sich Tilda auf einen Sitz im Wartebereich ihres Gates fallen und stellte den Rucksack auf den glänzenden, dunkel gefliesten Fußboden vor sich. Nach der großen Anspannung der letzten Tage überkam sie Erleichterung, obwohl sie noch nicht einmal im Flugzeug saß. Es schien schon auszureichen, dass sie im geschützten Transitbereich saß mit dem sicheren Wissen, dass sie dort niemand der anderen mehr erreichen konnte. Sie fühlte eine leichte Müdigkeit und nahm sich vor, die fast 16 Stunden ihrer Reise soweit wie möglich zum Schlafen zu nutzen. Während sie wartete, schloss sie die Augen. Ihr geschwächter Körper brauchte dringend Ruhe und auch ihr Geist brauchte irgendetwas, um sich beruhigen zu können.

Бесплатный фрагмент закончился.

956,63 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
850 стр.
ISBN:
9783742761583
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают