Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 6

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Minuten später stand Ludwig im Schlafzimmer. Vorwurfsvoll sah er sie an, während er sagte: „Ach hier bist du! Hast du geweint?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf, während er fortfuhr: „Schatz, mach dir doch bloß keine Sorgen um ungelegte Eier! Du wirst doch sehen, was morgen dabei herauskommt. Ich würde mir doch nicht schon vorher das Leben schwer machen. Du kannst doch dann immer noch entscheiden, was du machen willst. Und vor allem kannst du nix ändern. Ich versteh´ dich nicht!“ Als seine Worte Tildas Zustand nicht augenblicklich besserten, fügte er beschwichtigend hinzu: „Guck mal, die moderne Medizin kann heutzutage doch schon so viel. Es gibt doch inzwischen gegen alles was. Warte doch einfach erstmal ab was sie dir sagen!“ Und einen Moment später fügte er hinzu: „Dass ihr Frauen immer gleich alles so furchtbar dramatisieren müsst!“ Er berührte sie leicht an der Schulter und tätschelte ihre linke Wange. Dann ging er hinaus. Er schaltete das Licht in der Küche ein und rief ungeduldig: „Was ist mit Abendbrot? Willst du auch was essen, Schatz?“

Tilda zuckte zusammen. Es gab nichts, was sie jetzt weniger wollte, als essen. Ludwig schien ihr Kummer jedenfalls nicht den Appetit verschlagen zu haben. Sie hörte, wie er mit Tellern und Besteck klapperte und die Kühlschranktür öffnete und wieder schloss. Tilda ließ sich im halbdunklen Zimmer, in das nur ein schmaler, kleiner Lichtkegel durch die angelehnte Tür aus dem Flur hereinfiel, rücklings auf ihr Bett fallen und schloss die brennenden Augen. Sie hatte einfach nur noch Angst vor dem, was da auf sie zukam. Gleich morgen, wenn sie die Auswertung hinter sich hatte, würde sie endlich mit ihrer Schwester telefonieren. Die wollte sie auf keinen Fall schon vorher verrückt machen. Ihr sagte sie lieber jetzt noch gar nichts. Doro würde im Südwesten der USA hocken und sich am Ende unnötig Sorgen machen. Tilda wusste, dass ihre Schwester verstehen würde, wie sie sich jetzt fühlte. Allein schon dieses Wissen war Grund genug, sie jetzt nicht anzurufen.

Bisher hatte Tilda sich sehnlichst gewünscht, der Tag der Auswertung würde niemals kommen. Jetzt war ihr plötzlich klar, dass sie möglichst bald Gewissheit brauchte. Irgendwie schien ihre Angst von Stunde zu Stunde größer zu werden. Das zu fühlen war unerträglich. Sie wollte nicht mehr warten. Sie brauchte endlich Antworten. Es war falsch, die Auswertung in weite Ferne zu wünschen, den Kopf in den Sand zu stecken. Tilda fühlte, dass sie diesen Zustand der inneren Anspannung kaum noch ertragen konnte.

Ein Gedanke durchzuckte sie plötzlich wie ein Blitz. Sie erinnerte sich wieder an das Gespräch mit einer Kollegin aus der Nachbarschule, das schon Wochen zurücklag. Die andere Frau hatte auch eine Untersuchung im MRT über sich ergehen lassen müssen, war aber zur Auswertung etliche Tage später zu ihrem Hausarzt einbestellt worden, dem der Befund zugeschickt worden war. Eine Feuerwalze schien in diesem Moment über Tildas Körper zu rollen. Sie lag wie erstarrt da und hatte das Gefühl, als würde ihr Herz vor Schreck stehenbleiben, während ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Der Kollegin wurde definitiv von ihrem Hausarzt erst Tage später das Ergebnis ihrer Untersuchung mitgeteilt. Sie konnte sich genau erinnern. Und sie selbst sollte am nächsten Tag ins Krankenhaus kommen? Tilda konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Auf ein gutes Ergebnis deutete das leider überhaupt nicht hin.

Augenblicklich verspürte sie den Drang aufspringen, um mit Ludwig darüber zu sprechen. Doch stattdessen blieb sie regungslos liegen. Sie war unfähig, aufzustehen. Sie empfand ihren Körper schwer wie einen Stein und fühlte nur noch Watte in ihrem Kopf. Ludwig dagegen saß in der Küche und aß in aller Seelenruhe zu Abend.

Vielleicht war es nicht gut, ihn überhaupt damit zu behelligen. Tilda wusste im Grunde gut genug, dass er kein Verständnis für ihre „irrationalen“ Ängste haben würde. Vermutlich würde er einfach wieder irgendetwas Beschwichtigendes zu ihr sagen. Solche Worte halfen ihr nicht weiter. In ihr verstärkte sich die Wut darüber, dass Ludwig so ein Holzklotz war. Während sie vor Angst fast verging, hatte er nichts Tröstlicheres für sie, als ihr zu sagen, dass sie sich nicht aufregen solle, um sich dann seelenruhig etwas zu Essen zu machen. Wenn es ihn selbst betroffen hätte, dann wäre seine Einstellung sicher eine komplett andere gewesen. Tilda war überzeugt davon. In dieser Hinsicht maß er schon immer mit zweierlei Maß.

Je länger Tilda so dalag, desto größer wurde ihre Enttäuschung über Ludwigs Verhalten. Sie konnte nur schwer mit dem Gefühl umgehen, dass sie ihm in Wahrheit gar nicht so wichtig war. Das war eine traurige und gleichzeitig erschreckende Erkenntnis. Natürlich würde Ludwig eine derartige Anschuldigung weit von sich weisen. Er würde sich unschuldig an den Pranger gestellt fühlen, sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Natürlich war er sensibel! Natürlich, aber leider nur, wenn es um ihn selbst ging.

In dieser Schärfe konnte Tilda das bisher nur noch nie sehen. Möglicherweise wollte sie das auch gar nicht. Sie war sich sicher, dass sie es ihrem inneren Ausnahmezustand zu verdanken hatte, dass ihr ihre Situation jetzt so deutlich sichtbar wurde. Das erklärte auch, warum sie sich so hilflos und allein fühlte. Tilda setzte sich mühsam auf. Sie war innerlich aufgewühlt und tief verletzt. Es war eine Mischung von Erkenntnis, Enttäuschung und Angst, die ihr das Gefühl gab, dass Elektrizität durch ihren Körper fließen würde. Sie spürte ein merkwürdiges, unheilvolles Vibrieren in sich. Es summte und brummte in ihren Zellen wie in einem Bienenstock. Erstaunlicherweise war es ein Gefühl, das sie nur körperlich wahrnehmen konnte. Zu hören war nichts. Tilda ließ sich kraftlos zurück auf ihr Bett fallen, drehte sich zur Wand und schluchzte in ihr Kopfkissen.

Am Morgen des nächsten Tages war sie wieder viel zu früh wach. Sie hatte einmal mehr das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Die ganze Nacht lang hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Mal war ihr zu warm, mal zu kalt gewesen und währenddessen rannten ihre Gedanken wild durcheinander. Sie war unfähig gewesen, dieses Chaos zu stoppen. Und was tat Ludwig? Er schlief und schnarchte neben ihr und ließ sich überhaupt dabei nicht stören. Ironisch schlussfolgerte Tilda daraus, dass er vermutlich so gut schlafen konnte, weil er so „einfühlsam“ war. Bei diesem Gedanken hätte sie auf der Stelle erneut losheulen können. Doch diesmal schaffte sie es, sich zu beherrschen.

Voller Befürchtungen sah sie den Tag auf sich zurollen. Sie hatte ein schreckliches Gefühl dabei. Wenn sie darüber nachdachte, dass ihre Welt um diese Uhrzeit am Tage zuvor noch weitgehend in Ordnung gewesen war, dann konnte sie sich das jetzt kaum noch vorstellen. Es schien ihr eine Ewigkeit lang her zu sein. Nichts war für sie mehr so, wie es gewesen war. Es war der Tag, an dem sich herausstellen würde, wie ihr Leben vermutlich weiterging. Unkonzentriert bereitete sie wenig später das Frühstück für Ludwig und für sich vor. Sie riss das Kalenderblatt vom Vortag ab. „Mit leerem Kopf nickt es sich leichter“, stand dort für diesen neuen Tag, den zwölften Mai, geschrieben.

Mit leerem Kopf nickt es sich leichter. Nur kurz trat dieser Kalenderspruch wieder in ihr Bewusstsein, als sie später im Wartezimmer des Krankenhauses saß und nervös versuchte, an nichts Schlimmes zu denken. Sie hatte das Zimmer Nr. 254 im Seitenflügel schnell gefunden. Es lag in unmittelbarer Nähe zu den MRT-Räumen. Auch die riesige grüne Krankenschwester mit dem Doppelkinn und der dunkelbraunen Betonfrisur von gestern hatte Tilda schon gesehen. Also war sie richtig dort. Sie war eine halbe Stunde zu früh gekommen. Sie war viel zu nervös gewesen, um zu Hause zu warten. Der Druck in ihrem Oberbauch war an diesem Morgen wieder besonders heftig gewesen und auch die Übelkeit quälte sie. Tilda versuchte, das mit ihrer großen Nervosität zu begründen. Tapfer hatte sie sich trotzdem zu Hause ein kleines Frühstück heruntergequält. Zum Glück verschonte sie der Durchfall sie an diesem Morgen.

Außer ihr war niemand im Raum. Sie war ganz allein im Wartezimmer. Das Durcheinander der Zeitschriften auf dem Tischchen in der Ecke und die Position der Stühle deuteten allerdings darauf hin, dass schon Patienten vor ihr dagewesen sein mussten.

Nachdem Ludwig zur Arbeit gefahren war, hatte sie es nicht mehr lange zu Hause ausgehalten. Es war zwar noch viel zu früh gewesen, aber sie war trotzdem schon aufgebrochen. Nun saß sie im Wartezimmer und hat das Gefühl, sich auf dem Weg zum Schafott zu befinden. Ihre Hände hatte sie unter ihre Oberschenkel geschoben, um sie etwas aufzuwärmen. Sie fühlten sich eiskalt an, wie erfroren. Dasselbe traf auch auf ihre Füße zu, obwohl sie extra ihre Halbstiefel angezogen hatte. Sie wurde einfach nicht warm. Normalerweise trug sie Mitte Mai keine Stiefel mehr. Aber seit dem Vortag fror sie unablässig. Es war keine Kälte, die von außen kam. Es war eine Kälte, die sich irgendwie aus ihrem Innern heraus Bahn brach. Sie war so intensiv und so anhaltend, dass sie ein Gefühl in Tilda verursachte, als wäre alles Leben in ihr zum Erliegen gekommen. Unbeweglich saß Tilda auf ihrem Wartezimmerstuhl direkt neben der Tür. Sie hatte sich ein großes buntes Seidentuch um den Hals geschlungen, das in deutlichem Kontrast zu ihrer schlichten weißen Bluse und zu ihrem fast ebenso weißen Gesicht stand. Damit fühlte sie sich wohler und war froh, es mitgenommen zu haben. Nervös drehte sie unablässig eine blonde Haarsträhne unterhalb ihres rechten Ohres um ihren Zeigefinger. Die Wartezeit wurde ihr zur Ewigkeit. Die große Uhr an der Wand, die so aussah, als gehörte sie eigentlich in einen Bahnhof, tickte unermüdlich vor sich hin und nur der rote Sekundenzeiger schien sich wirklich zu bewegen. Tilda fühlte sich wie in einer Art Zeit-Vakuum, seitdem sie sich im Schwesternzimmer gegenüber angemeldet hatte. Eine freundliche, dunkelhaarige Schwester mit osteuropäischem Akzent und hohen Wangenknochen hatte sie in Empfang genommen und sie in das Wartezimmer gegenüber geschickt. Vielleicht hatten alle schon vergessen, dass sie hier saß? Vielleicht war ihr Eintreffen irgendwie untergegangen und nun hockte sie hier und wartete und wartete? Die große Bahnhofsuhr an der Wand gegenüber tickte weiter mit stoischer Gelassenheit und zeigte erst 9.15 Uhr. Das war immer noch eine Viertelstunde zu früh. Tilda zwang sich, realistisch zu bleiben. Es gab überhaupt keinen Grund dazu anzunehmen, dass sie vergessen worden war.

Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, die wie die Uhr gegenüber zeigte nur zehn Minuten lang war, kam die riesige grüne Schwester hereingepoltert, indem sie die Tür aufriss und erneut den gesamten Türrahmen ausfüllte. Tilda fühlte sich gegen sie wie ein winziger, farbloser Zwerg. „Frau Johannsen? Kommen sie!“ polterte sie los wie ein Feldwebel. Tilda nickte nur stumm und erhob sich. Die Schwester stampfte vor ihr her in das Behandlungszimmer gegenüber.

Ein eisgrauer, sehr schlanker Arzt um die Fünfzig mit Knittern im Gesicht und einem weinroten Stethoskop um den Hals, betrat genau in diesem Moment ebenfalls das Behandlungszimmer von einer Seitentür aus. Er trug weiße Hosen und weiße Schuhe, dazu eine grüne OP-Jacke. Er streckte Tilda die Hand entgegen und stellte sich mit „Dr. Schnitzer, Onkologe. Guten Tag!“ vor. Dann wies er wortlos auf einen von zwei Stühlen, der dem seinen am Schreibtisch gegenüberstand. Er setzte sich ebenfalls und die grüne Riesenschwester legte eine Mappe vor ihn auf den Schreibtisch. Eine andere Krankenschwester mit ganz kurz geschnittenem, rotblondem Haar, rosafarbenem Kittel und einem bildhübschen Mädchengesicht schwebte herein, griff nach einer Mappe vom Seitenbord, warf einen Blick darauf und verschwand genauso lautlos mit ihr, wie sie gekommen war. Tilda fröstelte immer noch. Es war kalt im Zimmer. Die grüne Riesenschwester schien das auch so zu sehen. Bevor sie hinausging, schloss sie das angekippte Fenster mit einem so lauten Ruck, als wollte sie den Griff vom Beschlag abreißen. Danach schoss sich die Tür hinter ihr und sie war verschwunden. Dr. Schnitzer begann aufmerksam in der Akte vor sich zu blättern. An der Seite des Raumes befand sich eine Reihe großer, beleuchteter Milchglasscheiben, die offensichtlich zur Betrachtung von Patienten-Aufnahmen vorgesehen waren. Einen Augenblick lang dachte Tilda, sie würde ohnmächtig werden und vom Stuhl fallen. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr fühlen, hatte das Gefühl, nur noch aus einem riesigen Kopf zu bestehen. Der Arzt ihr gegenüber roch ein wenig nach Zigarettenrauch. Sie konnte es deutlich wahrnehmen. Ein Arzt, der rauchte. Tilda fand das merkwürdig. Dieser Mann dachte also auch, dass Rauchen keine Konsequenzen für ihn haben würde, so wie alle Raucher das taten. Dabei hätte er es an diesem Arbeitsplatz besser wissen müssen.

Tilda starrte auf sein Gesicht. Sie versuchte nervös, irgendetwas aus seiner Miene schlussfolgern zu können. Der Arzt schaute ernst, aber auch vollkommen unbeteiligt. Tilda wurde nicht schlau aus seinem Gesichtsausdruck. Sie schob die eiskalten Hände langsam wieder unter ihre Oberschenkel. Zum Glück konnte das unter dem Schreibtisch niemand sehen. Ganz plötzlich schien Dr. Schnitzer mit seinem Akten-Studium fertig zu sein und schaute sie durchdringend an. Seine Stimme klang freundlich, als er sagte: „Frau Johannsen, sie waren gestern bei uns zum MRT. Ich habe hier ihre Aufnahmen und die Auswertung des Befundes von meinen Kollegen. Da ist einiges im Argen bei Ihnen. Es besteht schneller Handlungsbedarf.“

Tilda erstarrte. Das waren genau die Worte, vor denen sie sich gefürchtet hatte. Ihr Alptraum schien wahr zu werden. Sie kämpfte einen Augenblick lang um ihre Fassung. Immer noch saß sie wie versteinert dem Arzt gegenüber und starrte ihn wortlos an. Der vertiefte sich nochmals in die Akte mit dem braunen Pappdeckel, blätterte vor und zurück und schloss dann den Aktendeckel. Er ließ seine Hände nebeneinander darauf liegen, so als wolle er den Inhalt damit schützen. Dann räusperte er sich und sagte: „Frau Johannsen, wir haben bei Ihnen ein Gewächs in der Bauchspeicheldrüse festgestellt. Genauer gesagt, einen großen Tumor und noch mehrere kleine, verdächtige Bereiche. Das könnten auch noch welche sein, die gerade heranwachsen. Das muss noch genauer untersucht werden. Aber das ist nicht alles. Wir haben außerdem Metastasen in ihrem Bauchfell gefunden. Das sind schlechte Nachrichten.“ Er schaute sie an, fischte aus der linken Brusttasche seiner grünen OP-Jacke eine Brille heraus und setzte sie sich auf. Er sah damit ganz anders aus. Dann fuhr er fort: „Wir müssen davon ausgehen, dass der Haupttumor in ihrer Bauchspeicheldrüse sitzt, und dass die anderen Tumore Metastasen davon sind. Herr Dr. Umlauf ist ihr Hausarzt?“ Er sah sie fragend an. Tilda nickte stumm. Der Arzt fuhr fort: „Dr. Umlauf hatte sie zu uns überwiesen wegen unklarer Bauchbeschwerden, Übelkeit, Durchfällen und Gewichtsabnahme. Richtig?“ Er sah sie wartend an. Außer einem stummen Nicken brachte Tilda nichts zustande. Sie öffnete und schloss ihren Mund wieder, ohne einen Ton gesagt zu haben. Der Arzt sah sie unbeteiligt an, obwohl seine Stimme ein wenig weicher zu klingen schien. „Haben sie Fragen zu ihrem Befund?“ Er wartete einen Moment lang. Als Tilda nichts sagte und nur hilflos den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Wir werden ihren Fall auf der nächsten Tumorkonferenz am kommenden Montag mit auf die Tagesordnung setzen. Eine Operation kommt in ihrem Falle nicht mehr in Frage. Wir werden voraussichtlich eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabin machen, gegebenenfalls auch eine Radiotherapie. Das heißt Bestrahlung. Mehr können wir bei diesem Befund nicht mehr für sie tun. Ist das in Ihrem Sinne, Frau Johannsen?“ Er sah sie groß an und erwartete offensichtlich eine Antwort. „Ja.“ Presste Tilda leise hervor. Ihre Stimme klang fremd. Sie wollte noch etwas hinzufügen, ließ es dann aber. Erst jetzt realisierte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Dr. Schnitzer machte einige Notizen in die Akte und erklärte Tilda noch irgendetwas über die nun angedachte Chemotherapie. Durch ihre innerliche Panik verstand sie kaum ein Wort von dem, was er sagte. Mit dem Satz: „Sonst noch Fragen?“ beendete er seinen Monolog. Tilda schüttelte stumm den Kopf. Der Arzt stand auf und wandte sich zum Gehen. Wie auf ein geheimes Signal hin erschien eine andere rosa Krankenschwester im Raum, die Tilda bis dahin noch nicht gesehen hatte. Sie begleitete sie hinaus. Dabei drückte sie ihr einen Brief in die Hand, der verschlossen war und sagte so freundlich, als wollte sie eine Pizza bestellen: „Ich bin Schwester Jennifer. Hier ist ihr Befund. Bitte melden sie sich in den nächsten Tagen bei ihrem Hausarzt und geben sie dort auch den Brief ab. Ab Besten gleich morgen oder übermorgen. Wir regeln dann alles über ihn. Auch, wann sie ihren Port für die Chemotherapie bekommen. Auf Wiedersehen! Wir sehen uns dann in einigen Tagen bei der Chemotherapie.“ Sie gab Tilda nicht die Hand, sondern eilte stattdessen nahezu geräuschlos den hellgrauen, wie nass glänzenden Krankenhausflur entlang. Das einzige, was noch von ihr zu vernehmen war, war ein leises Quietschen der Gummisohlen unter ihren Schuhen, das sich immer weiter entfernte.

Tilda steckte den Brief in ihre Handasche. In ihrem Kopf war vollkommene Leere. Da war nichts, an das sie gerade dachte, was sie gerade beschäftigte. Nichts, einfach gar nichts. Am liebsten wäre sie den Flur hinunter nach draußen ins Freie gerannt, um endlich wieder atmen zu können. Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Das war es also! Sie kannte sich zwar nicht besonders gut aus, aber es war ihr klar, dass das eine der schlimmsten Krebsarten war. Ludwig hatte einen Kollegen gehabt, der daran erkrankt war. Er war innerhalb von wenigen Wochen gestorben. Er hatte Chemotherapie bekommen und Bestrahlungen. Tilda war vollkommen verängstigt. Wieviel Zeit blieb ihr noch? Sie hatte ganz vergessen, danach zu fragen. Dr. Schnitzer hatte auch nichts darüber gesagt. Oder hatte er doch? Draußen, im Freien, fühlte sie sich besser. Sie atmete einige Male ganz tief durch, um sich etwas zu beruhigen. Bauchspeicheldrüsenkrebs! Wieso hatte sie das bekommen? Was hatte sie falsch gemacht oder was war die Ursache dafür? Wie konnte sie, die doch immer so gesund lebte, überhaupt Krebs bekommen? Sie rauchte nicht, sie trank so gut wie nie Alkohol. Sie aß ihrer Ansicht nach hauptsächlich gesunde Sachen, achtete auf ihren Zuckerkonsum. Warum also? Tilda war wie vor den Kopf geschlagen.

Das war also der Grund dafür gewesen, dass sie sich seit Monaten so schlecht fühlte. Und je länger die Sache gedauert hatte, desto größer waren ihre Befürchtungen geworden. Ihre Befürchtungen, dass etwas Schlimmes dahinter steckte. Sie hatte zwar versucht, positiv zu denken, aber ihr Bauchgefühl hatte im Grunde schon seit Wochen Alarm geschlagen. Spätestens nach den fünf Kilo unfreiwilliger Gewichtsabnahme war ihr klar, dass vermutlich etwas Schlimmes dahinter steckte. Wieviel Zeit blieb ihr jetzt noch?

Sie nahm die Abkürzung durch den Park. Die Frühlingssonne schien vom blassen Himmel herab und wärmte schon ein wenig. Es war Tildas Lieblings-Jahreszeit, wenn die Natur nach dem langen norddeutschen Winter ganz allmählich wieder zum Leben erwachte. Sie fand, dass der Frühling das Allerbeste vom Jahr war.

Einige Bänke im Park waren jetzt, um die Mittagszeit, leer. Tilda setzte sich auf eine von ihnen. Sie fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Verzweifelt versuchte sie, ruhig zu bleiben. Ihr Blick glitt über die rot gepflasterten Wege zu den ersten, kleinen Blüten in den Rabatten, hinüber zu den Sträuchern in hellem Grün und den großen Eichen weiter hinten. War das ihr letzter Frühling? Würde es ihr letzter Sommer sein? Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Es war zweifellos die schlimmste Nachricht, die Tilda in ihrem bisherigen Leben je erhalten hatte. Wie sollte es jetzt nur weiter gehen? Wie eine riesige Flutwelle brach die Furcht vor dem, was jetzt auf sie wartete, über sie herein und riss sie erbarmungslos mit ins Bodenlose. Tilda lockerte den bunten Schal um ihren Hals, weil sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Ihr war kalt und heiß gleichzeitig. Als eine leichte Windböe kam, schloss sie die Augen. Ihr gesamter Körper bebte. Sie wollte nicht sterben.

Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Dieser Satz tauchte plötzlich wie aus dem Nichts in ihrem Kopf auf. Es war diese Theorie, die sie für sehr überzeugend hielt, seit sie die Bücher von Rupert Sheldrake und seine Darstellungen zum morphogenetischen Feld gelesen hatte. Das hieß in letzter Konsequenz aber auch, dass ihr Bewusstsein und ihr Unterbewusstsein darüber entscheiden würden, ob ihr Körper die Krankheit besiegen konnte oder ob er daran zugrunde gehen würde. Es war zweifellos schwer, das eigene Bewusstsein wirklich dahin gehend zu programmieren, dass der Körper den Krebs überwinden konnte. Wenn sie doch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, warum sie diesen Krebs bekommen hatte! Vielleicht hätte sie dann auch eine Idee gehabt, wie sie ihn wieder loswerden konnte. Tildas Kopf war bis zum Bersten angefüllt mit Zweifeln und Befürchtungen.

Eine junge Mutter spazierte mit ihrem Kinderwagen vorbei. Die fremde junge Frau lächelte ihr freundlich zu. Augenblicklich schossen Tilda erneut die Tränen in die Augen. Sie wollte auch immer eine Familie haben! Dafür war es jetzt wohl zu spät. Der Arzt hatte nicht gerade viel Hoffnung ausgestrahlt. Und wenn sie nun die Chemotherapie machen würde, die das Krankenhaus ihr anbot? Was würde das Gift in ihrem Körper dann anrichten? Nein, Chemotherapie war überhaupt nicht das, was Tilda sich vorgestellt hatte. Doch welche Alternativen hatte sie? Im Park war es nun ganz still. Nur weiter hinten fuhren zwei kleine Jungen beaufsichtigt von ihrem Vater mit kleinen Kinderrädern die Wege entlang. Ein Hund bellte. Niemand war in ihrer Nähe. Nur die Bäume rauschten leise und einige brummende Insekten machten sich neben der Bank an den ersten Blüten im Beet zu schaffen. Alles wirkte so entspannt, aber Tilda hatte überhaupt keinen Blick mehr dafür.

Um diese Zeit war sie normalerweise in der Schule und würde vermutlich jetzt, zur Mittagszeit, im Lehrerzimmer wie immer einen Tee mit den Kollegen trinken. Verwundert stellte sie fest, dass es ihr so vorkam, als sei sie schon ewig nicht mehr dort gewesen. Als sei die Schule bereits aus ihrem Leben ausradiert. Dabei hatte sie vor zwei Tagen noch ganz normal unterrichtet. Es war, als habe ihr Unterbewusstsein schon damit abgeschlossen, Lehrerin zu sein. Merkwürdigerweise interessierte es sie diesmal gar nicht, wer von den Kollegen es war, der ihre Vertretungsstunden übernehmen musste oder wie es überhaupt beruflich für sie weitergehen würde. Nur ihre Großmutter, die hatte immer gesagt, dass im Leben letzten Endes alles einen Sinn machen würde. Tilda fragte sich jetzt natürlich, was für einen Sinn es machen würde, wenn sie im Alter von dreißig Jahren sterben würde. Sie konnte nicht einen einzigen Grund finden, wozu das gut sein sollte. Mit dieser Weisheit hatte Omi wohl nicht Recht gehabt. Aber vielleicht war es noch zu früh. Vielleicht würde sie den Sinn ihrer Krankheit noch herausfinden. Vielleicht brauchte sie einfach Zeit, um hinter das Geheimnis ihres Lebens zu kommen. In diesem Augenblick hoffte sie ganz stark, dass ihr die Zeit zur Erkenntnis noch bleiben würde.

Verunsichert dachte Tilda darüber nach, ob die Frage vielleicht gar nicht die war, wie sie mit der Botschaft des Krebses in ihrem Körper umgehen sollte, sondern vielmehr zunächst eine andere: Wie sollte sie es anstellen zu überleben? War es am Ende eine Schicksalsfrage, die den Sinn ihrer Krankheit ausmachte? Es wäre das einzige gewesen, was in Tildas Augen überhaupt einen Sinn gemacht hätte. Jetzt zu sterben machte für sie jedenfalls keinen Sinn.

Schließlich blieb also immer noch die Frage, wie sie es schaffen sollte, den Krebs zu überleben, während fast alle anderen daran starben. Tilda versuchte sich an alle Freunde und Bekannten zu erinnern, die irgendwann einmal in ihrem Leben Krebs gehabt hatten. Es dauerte eine ganze Weile und es waren nicht wenige die ihr einfielen. Letzten Endes waren sie aber alle gestorben oder es ging ihnen mittlerweile so schlecht, dass das Schlimmste für sie zu befürchten war. Manche waren schon kurz nach ihrer Diagnose gestorben und manche erst nach einigen Jahren, als sie sich schon geheilt wähnten. Doch irgendwann dann war der Krebs zu ihnen zurückgekehrt wie ein Flächenbrand in einen trockenen Wald und dann hatte es keine Rettung mehr für sie gegeben. Sie alle hatten Chemotherapie bekommen. Die meisten von ihnen hatten zusätzlich Bestrahlungen erhalten. Es war eine beängstigende Statistik, die sich da in Tildas Kopf zusammenfügte. Da gab es nur die beiden Kolleginnen, die ihren Brustkrebs schon mehr als 10 Jahre überlebt hatten. Vielleicht waren sie tatsächlich geheilt. Eine von ihnen war Margarete, die an ihrer Schule Mathematik unterrichtete und die andere, Marion, war inzwischen bereits im Ruhestand. Soviel Tilda wusste, ging es ihr immer noch gut. Wenn Margarete und Marion die einzigen Personen waren, die überlebt hatten, was bedeutete dann der Tod all der anderen für sie? Und was bedeutete es überhaupt, wenn die moderne Medizin sagte, Krebs sei heutzutage „gut behandelbar“? Heilbar war damit jedenfalls offenbar nicht gemeint.

Ein Paar im Alter ihrer Eltern lief gemächlich an der Bank vorbei, auf der Tilda immer noch saß. Sie sah den beiden nach, bis sie hinter der hohen Ligusterhecke verschwunden waren, die den neuen vom alten Teil des Parks trennte. Irgendwann in dieses Alter zu kommen würde ihr also verwehrt bleiben. Der Gedanke bereitete ihr Schmerzen, die sich wie ein Stich ins Herz anfühlten. In diesem Moment war sie an einem absoluten Tiefpunkt angekommen.

Unerwartet klingelte ihr Telefon. Widerwillig stellte Tilda sich ihre Handtasche auf den Schoß und kramte darin herum. Irgendwann hatte sie das Telefon gefunden, doch im selben Moment verstummte das Klingeln. Ludwig hatte sie angerufen. Sie konnte es auf dem Display sehen. Entschlossen stellte sie ihr Telefon auf stumm und verbannte es zurück in die Abgründe ihrer Handtasche. Sie wollte nicht mit Ludwig sprechen. Jetzt nicht. Vielleicht später. Tildas Blick ging über die Rabatten hinweg auf die große Rasenfläche, wo ein Herr mittleren Alters mit einem Hund Stöckchen-Holen übte. Das musste wohl der Hund gewesen, dessen Gebell sie vorhin gehört hatte. Es war ein kleiner Jack Russel, der vollkommen außer Rand und Band zu sein schien. Eigentlich wollte sie später auch immer einen Hund haben. Dazu würde es nun wohl nicht mehr kommen. Die Vorstellung schnitt wie ein Messer in ihr Fleisch. Plötzlich war der noch nicht zu Ende gedachte Gedanke von vorhin wieder in ihrem Kopf. Wenn also alle Menschen oder fast alle Menschen, die Krebs hatten, früher oder später daran starben, obwohl sie alle angebotenen Therapien gemacht hatten, dann würde das sicher nicht der richtige Weg für sie sein. Möglicherweise gab es mehr Menschen, die ihren Krebs überlebt hatten. Vielleicht. Nur sie kannte außer Margarete und Marion eben keinen von ihnen. Sie kannte dafür allerdings sechs Menschen, die gestorben waren. Zwei zu sechs, das war keinesfalls das, was man eine einigermaßen gute Prognose nennen konnte. Tilda holte tief Luft. Die angenehme Frische des Frühlingstages strömte in ihre Lungen. Zwei zu Sechs. Diese Vorstellung machte sie verzagt. Eine Gänsehaut breitete sich in Sekundenschnelle über ihren gesamten Körper aus.

Zwei junge Mädchen liefen kichernd auf dünnen Beinen vorbei, tuschelten und neckten sich. Tilda beneidete sie um ihre Unbeschwertheit. Als sie in diesem Alter gewesen war, dachte sie auch noch an nichts Böses und war gesund. In diesem Alter machte man sich keine Gedanken um Krankheit oder Tod. Tilda lauschte in sich hinein. Wie lange würde sie noch leben? Wie lange würde sie noch atmen können? Wie lange reichte ihre Kraft noch? Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte eine sehr hohe Sterblichkeitsrate. Sogar ohne nachlesen zu müssen, wusste sie das. Noch deutlicher machte ihr das bewusst, wie schlecht ihre Aussichten waren. Verzweifelt richtete sie ihren Blick in die Ferne und fragte sich, was sie jetzt wohl tun sollte. Niemand würde ihr die Entscheidung abnehmen, wie es für sie weiterging. Das jetzt selbst festlegen zu müssen war für Tilda eine unerträgliche Vorstellung. Sie beschloss erst einmal, sich auf keinen Fall zu etwas drängen zu lassen. Wenn sie ihren gesunden Menschenverstand zu Rate zog, so stand sie der angebotenen Therapie mehr als skeptisch gegenüber.

Und doch musste sie für sich einen Weg aus dem Dilemma finden. Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Sie selbst würde die Konsequenzen für all das tragen müssen, was sie bezüglich ihrer Krankheit entschied. Auch dann, wenn sie sich für die Chemotherapie entschied. Die Klink würde keine Verantwortung für ihre Therapie übernehmen, weder für den Erfolg, noch für den Misserfolg und auch nicht für die körperlichen Folgeschäden, die sie möglicherweise davontrug. Vorausgesetzt natürlich immer der Fall, dass sie überleben würde. Das alles war ein einziger Alptraum. Tilda wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich daraus zu erwachen.

Was sie verwunderte war, dass sie das alles plötzlich so klar und realistisch betrachten konnte. Es war wohl einfach ein Instinkt des Menschen, der dafür verantwortlich war. Ein Instinkt, der den Menschen zwang, realistisch zu werden, wenn er seinen Tod so unmittelbar vor Augen hatte. Tilda fischte den Patientenbrief für Dr. Umlauf aus ihrer Handtasche. Er war zugeklebt. Vorsichtig öffnete sie ihn auf der Rückseite, faltete dann die drei Bögen Papier auseinander und versuchte, sich durch den Text mit den medizinischen Fachausdrücken zu arbeiten. Eine Böe erfasste das Papier und riss es ihr fast aus den Händen. Tilda las das Schriftstück dreimal von Anfang bis zum Ende durch. Da stand zweifellos genau das, was ihr der Onkologe vorhin schon erklärt hatte. Ein Tumor in der Bauchspeicheldrüse und verdächtige Areale, dazu ein infiltriertes Bauchfell. Was das bedeutete, konnte Tilda nur erahnen. Therapieempfehlung: da inoperabel Empfehlung zu mehrerer Zyklen Chemotherapie mit „Gemcitabin“ als Palliativtherapie, außerdem Radiotherapie nach weiterer Entwicklung. Beginn: umgehend, nach Festlegung der genauen Dosierung durch die Tumorkonferenz in der nächsten Woche. Gezeichnet, Unterschrift, Anhänge…. Tilda war schweißgebadet. Ihre Bluse klebte ihr unter der Jacke am Körper. Schweißperlen waren auf ihre Stirn getreten. Sie bemerkte, wie ein knoblauchartiger Geruch sich um sie herum ausbreitete. Selbst durch all ihre Sachen hindurch nahm sie ihn deutlich wahr. Ihr Schweiß stank ekelerregend, einfach krank. Es war nicht ihr erster Schweißausbruch an diesem Tage, aber es war der Schlimmste. Selbst als sie vorhin im Krankenhaus gefroren hatte, hatte sie gleichzeitig geschwitzt. Aber da hatte sie noch nicht so gestunken.

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9783742761583
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