Читать книгу: «Die Farbe der guten Geister», страница 9

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Ludwig schüttelte störrisch den Kopf und starrte zum Fenster hinaus, als gäbe es da irgendetwas zu sehen, was seinen Blick auf sich zog. „Du bist doch verrückt!“ presste er erneut barsch hervor. „Wir sind hier doch nicht auf einem türkischen Basar! Willst du mit mir handeln? Vergiss es! Meinen Segen bekommst du für deinen Amerika-Quatsch nicht.“ Er blickte trotzig weiter aus dem Fenster hinaus wie ein störrisches Kind. Ein wenig freundlicher fügte er dann hinzu: „Schatz, es ist deine Entscheidung und niemand kann dich zwingen. Aber ich würde dich zwingen, wenn ich könnte. Das kannst du mir glauben! Es muss doch einen Weg geben, dass du Vernunft annimmst! Du machst den Fehler deines Lebens und ich muss hilflos zusehen. Für mich ist das ein unerträglicher Zustand. Anders kann ich das nicht bezeichnen, was du da vorhast!“ Er stand auf und ging sturen Blickes aus dem Zimmer.

Tilda war wütend auf ihn, sehr wütend. Er dachte nur an sich. Sie war überzeugt davon, dass es das war, was ihn zu seiner Einstellung gebracht hatte und auch jetzt daran festhalten ließ. Er hätte sie sonst verstanden. Ludwig wollte sich später einfach keine Vorwürfe anhören müssen, dass nicht „alles versucht worden war“. Tilda kannte ihn nach den Jahren einfach. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war enttäuscht, wie wenig Rücksicht er darauf nahm, was sie selbst eigentlich wollte. Sie war schließlich die Betroffene.

Ludwig wollte sich keine Vorwürfe machen müssen, wenn sie tot war. Für Tilda war das ein unvorstellbarer Gedanke. Wie würde es sein, wenn sie tot war? Wenn sie starb? Wie würde sich das anfühlen? War dann alles zu Ende oder gab es tatsächlich ein Erwachen auf der sogenannten anderen Seite? Entsetzt über ihre eigenen Gedanken zwang sie sie weg von diesem Thema. Wenn sie ihre Energien in das Todes- Thema hineinfließen ließ, dann würde es am Ende noch größer werden, wachsen und gedeihen. Sie schüttelte sich. Es war, als hätte ihr jemand einen Krug voller Eiswürfel in den Kragen gegossen. Tilda wollte auf keinen Fall, dass sich das schreckliche Thema in ihrem Leben weiter manifestierte. Außerdem war es nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken was wäre wenn. Aus ihrer Sicht stellte sich die Frage nicht. Jetzt war sie ärgerlich und aufgewühlt. Sie musste sich um ihr ESTA-Formular kümmern. Das war viel wichtiger. Sie schaltete ihren Laptop ein und ging zum Schrank hinüber, um ihren Reisepass zu holen.

Ludwig war inzwischen ins Arbeitszimmer gegangen. Sie hörte, wie er telefonierte. Dann sollte er eben bockig sein. Sie konnte doch nicht nachgeben, bloß weil sie Streit mit ihm vermeiden wollte. Genau genommen war alles im Leben eine Prüfung. Sie sah es jetzt als ihre Prüfung an, durchzusetzen, was ihr wichtiger war: Diplomatisch zu sein und ihre Überzeugung damit zu verraten oder autark zu bleiben und ein Zerwürfnis mit allen zu riskieren, die es besser zu wissen glaubten. Nachdenklich hing sie an der Auseinandersetzung mit Ludwig fest. Schlussendlich ging es doch bei dem Streit zwischen ihnen auch nur darum, wie weit sie sich von der gängigen Meinung in dieser Gesellschaft entfernen durfte, ohne auf Entrüstung zu stoßen. Tilda versuchte es so zu sehen. Personen, die gar nicht betroffen waren, schienen generell immer alles am besten zu wissen. Das Phänomen war hinlänglich bekannt.

Die Tür vom Arbeitszimmer öffnete sich und Ludwig kam mit dem Telefon in der Hand heraus. Er sah sie an und reichte ihr das Telefon ohne erkennbare Emotionen, wenn auch ein gewisser triumphierender Unterton in seiner Stimme schwang, als er ihr zuflüsterte: „Schatz, für dich! Deine Eltern…….!“ Sein Gesicht hatte rote Flecken, wie immer, wenn er sich sehr aufgeregt hatte und die Ader in der Mitte seiner Stirn war angeschwollen. Tilda erstarrte. Ludwig war sich nicht zu schade gewesen, ihre Eltern anzurufen, um sie dort anzuschwärzen. Er hatte tatsächlich nichts Besseres zu tun gehabt, als sich direkt nach ihrer Auseinandersetzung im Arbeitszimmer ans Telefon zu begeben und sie zu verpetzen. Tilda war außer sich vor Wut, versuchte aber, sich zusammenzureißen. Für sie war das ein Beweis mehr für ihre Vermutung, dass sein Inneres in Wahrheit gar nicht von dem Konflikt betroffen war. Wenn er tatsächlich so zerknirscht gewesen wäre, wie er sich noch vor einer halben Stunde gegeben hatte, dann hätte er sie jetzt wohl kaum schnurstracks verraten. Die Wut stieg Tilda ins Gesicht und machte es feuerrot. Wie konnte er nur! Selbst in dieser Situation wollte er unbedingt jemanden finden, der ihm Recht gab. Und er wollte, dass sie tat, was er für das Beste hielt. In ihren Augen war das das Allerletzte, um was es jetzt ging.

Nun hatte Tilda aber keine andere Wahl mehr. Sie musste sich ihren Eltern erst einmal stellen. Sich so neutral wie möglich zu verhalten war eine große Herausforderung, als sie ihre Mutter so plötzlich am Telefon hatte. Tilda konnte hören, wie sie schluchzte und völlig aufgelöst war. Ihre Stimme hatte diesen anklagenden Unterton, den sie von solchen Gelegenheiten her kannte: „Kind, wieso willst du denn keine Chemotherapie machen? Ludwig sagt, du hast den Termin für den Port heute platzen lassen. Warum machst du dir bloß solche Schwierigkeiten?“ Sie schluchzte in den Hörer, bevor sie fortfuhr: „Ist denn nicht schon alles schlimm genug? Du hast doch gar keine andere Wahl, Mädchen!“ Sie schluchzte erneut auf. „Es ist doch das Einzige, was du tun kannst in dieser schrecklichen Lage! Dein Vater findet das auch!“ Tilda hörte ihren Vater im Hintergrund irgendetwas sagen, konnte ihn aber nicht verstehen. Offenbar hatten ihre Eltern den Lautsprecher eingeschaltet, so dass ihr Vater alles mithören konnte. Tilda hasste diese Angewohnheit ihrer Eltern. Sie war nicht bereit, jetzt mit ihnen die gleiche Diskussion zu führen, wie kurz zuvor mit Ludwig. Sie war einfach nur sauer, weil niemand sie verstehen wollte. Sauer, weil sich niemand die Mühe machen wollte, sich wirklich in ihre Lage zu versetzen. Noch nicht einmal ihre eigenen Eltern wollten das tun. Dabei waren sie intelligente Menschen, die stets hilfreich bemüht gewesen waren, ihr im bisherigen Leben zur Seite zu stehen. Doch sogar sie schienen ihr jetzt in den Rücken fallen zu wollen. Tilda hätte sich so sehr gewünscht, dass sie wenigstens neutral geblieben wären, dass sie sich jetzt mit ihrer Meinung zurückgehalten hätten. Sie wollte unter diesen Umständen ganz bestimmt keine Auseinandersetzung mit ihnen. Tilda liebte sie und wollte keine Eskalation.

Während ihre Mutter auf sie einredete, versuchte Tilda ruhig zu bleiben und nicht unfreundlich zu werden. Während sie sich in Begründungen und Lobpreisungen der mutmaßlichen Hilfe durch moderne Chemotherapie erging, fiel Tilda ihr genervt ins Wort: „Mam, ich habe mir das gut überlegt. Das kannst du mir glauben! Die Chemo wird mich nicht wieder gesund machen. Das ist nur eine Palliativtherapie!“ Ihre Mutter antwortete erregt: „Aber Kind, woher willst du denn das so genau wissen? Die Medizin ist doch heute schon so weit! Vielleicht hilft sie dir ja mehr, als du dir vorstellen kannst?“ Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Jetzt nach Amerika zu fliegen bringt dich doch erst recht nicht weiter! Doro kann dir dort auch nicht helfen. Und du verlierst so viel wertvolle Zeit!“ Sie schluchzte am anderen Ende der Leitung und putzte sich die Nase. Genau das Argument hatte Tilda schon erwartet. Prompt entgegnete sie ihr schnippisch: „Ich verliere wertvolle Zeit? Aber Mam, das ist doch alles Quatsch! Das wäre nur der Fall, wenn mir die Chemo helfen könnte. Aber ob palliativ oder nicht, die Chemo hilft doch fast niemandem wirklich! Die Leute sterben doch trotzdem alle. Mensch Mam! Überleg´ doch mal! Wenn Krebs die zweithäufigste Todesursache in Deutschland ist, dann sieht es doch echt trübe aus mit der Heilkraft der Chemotherapie. Und dass Doro mir nicht helfen kann, das weiß ich auch allein!“

Offensichtlich entsetzt über ihre harschen Worte fiel ihr nun ihre Mutter ins Wort, wobei sich ihre Stimme überschlug: „So, Kind! Jetzt mach es aber mal halblang! Glaubst du, dass du klüger bist, als die Ärzte?“ Tilda verdrehte die Augen und schnaufte wütend, während sie entgegnete: „Ja, Mam, genau darauf habe ich gewartet. Genau darauf! Natürlich bin ich NICHT klüger, als die Ärzte. Aber ihr beiden, du und Paps, ihr solltet mal genau darüber nachdenken, wie viele Krebskranke ihr kennt. Und dann denkt mal darüber nach, wer von denen wieder gesund geworden ist und wer davon am Ende ins Gras gebissen hat. Jawohl, ins Gras gebissen! Trotz aller Chemotherapie, Bestrahlungen und wissenschaftlichem Schnickschack!“ Tilda machte eine klitzekleine Pause, um dann empört fortzufahren: „Na, und? Wie viele davon sind wieder richtig gesund geworden, Mam? Wie viele fallen dir da ein? Hmmm? Ich hör´ dich gar nicht mehr! Vielleicht müsstet ihr erstmal darüber nachdenken, bevor ihr mir Empfehlungen gebt! Niemand ist mehr am Leben von denen. NIEMAND!!!“ Tildas Stimme überschlug sich. „Ich – mach – da – nicht – mit! Verstehst du mich, Mam? Ich – mach – da – nicht – mit!“

Am anderen Ende der Leitung hörte man ein kurzes rascheln und knacken. Dann war die Stimme ihres Vaters zu hören. Er sagte beschwichtigend: „Mädchen, jetzt reg dich doch nicht so auf. Du bist doch ein kluges Kind. Meine Tochter. Im Grunde genommen ist das ja alles nicht verkehrt, was du da sagst. Aber solange du keine bessere Idee hast, würden wir dir empfehlen, die herkömmliche Therapie zu machen. Wir leben ja, Gott sei Dank, hier in einem Land, wo das möglich ist. In vielen anderen Ländern scheitert das ja häufig schon an den Kosten.“ Tilda entgegnete ihm aufgebracht: „Ja, Paps. Das stimmt. Das kann ich nicht bestreiten. Aber es geht doch hier gar nicht um die Kosten! Es geht darum, dass man nicht alles machen muss, was einem von der modernen Medizin angeboten wird! Manches von diesen Angeboten sind keine Segnungen, an denen jeder teilhaben kann! Manche dieser Angebote können einen Patienten auch ins Verderben stürzen. Das sieht man häufig erst hinterher.“ Sie schniefte: „Ich will mich nicht mit euch streiten. Das führt doch zu nichts. Den Krebs habe nun mal ich. Und deshalb entscheide ich, was ich tun werde. Meine Chancen aus Sicht der Onkologie sind Null, ob mit oder ohne Chemo. Die kann ich übrigens immer noch machen, wenn ich zurückkomme. Die läuft mir nicht weg. In drei Wochen will das Krankenhaus auch noch Geld an mir verdienen, keine Sorge!“ Tilda lachte bitter. „Ihr beiden, wenn Ihr was für mich tun wollt, dann könnt Ihr am Dienstag zum Flughafen kommen und mir eine gute Reise wünschen. Würdet ihr das bitte tun?“ Ihr Vater seufzte nur und ihre Mutter rief von weiter hinten mit schriller Stimme: „Aber Kind, nun sei doch nicht so uneinsichtig…….!!!“ Während sie ihre Mutter im Hintergrund immer noch weiterreden hörte, sie sagte gerade irgendwas von Unvernunft, beendete Tilda mit ihrem Vater kurzentschlossen das Gespräch.

Später, nachdem sie im Internet ihr ESTA-Formular für ihre Einreise in die USA ausgefüllt hatte und bereits nach einigen Minuten eine Bestätigung der US-Behörden erhalten hatte, kam auch Ludwig wieder aus dem Arbeitszimmer heraus. Es war ganz offensichtlich, dass er den Raum als Deckung benutzt hatte, um sich dort zu verkriechen. Seine wasserblauen Augen musterte Tilda einen kurzen Moment lang, um herauszufinden, wie ihr Gemütszustand war. Anscheinend wollte er daraus Schlussfolgerungen ziehen, wie das Telefonat mit ihren Eltern verlaufen war. Tilda jedoch ging schnurstracks an ihm vorbei und würdigte ihn keines Blickes. Ehe sie die Badezimmertür hinter sich schloss, um zu duschen, konnte sie sich nicht verkneifen, ihm ein: „Vielen Dank, du Verräter!“ entgegen zu zischeln. Sie verriegelte geräuschvoll die Badezimmertür hinter sich und hörte Ludwig noch jenseits der Tür sagen: „Es war nur ein Versuch von mir! Versteh mich bitte, ich musste das tun!“ Tilda ignorierte seine Rechtfertigung. Sie fragte sich wütend, auf welcher Seite er eigentlich stand. Während sie den warmen Wasserstrahl auf ihrem Körper spürte und minutenlang ganz still darunter stand, kamen ihr die Begebenheiten des Tages noch einmal in den Sinn.

Und wenn sie nun tatsächlich nur noch vier Monate oder sogar weniger zu leben hatte, wie es die Prognose der Ärzte für sie aussagte? Dann würde es Mitte oder Ende September sein. Im September würde demnach alles, was noch von ihr übrig blieb, in eine kleine Urne passen. Sie stand da wie erstarrt. Sollte das etwa ihr Leben gewesen sein? Sollte das alles gewesen sein? Es war eine Vorstellung, die Tilda die Tränen in die Augen trieb. Unter dem Wasserregen der Dusche war das bedeutungslos. Und letzten Endes: Ein Menschenleben mehr oder weniger auf dieser Welt, wen kümmerte das schon wirklich. Das fiel doch gar nicht auf. Für ihre Eltern würde es sicher furchtbar sein. Natürlich! Aber immerhin hätten sie dann noch Doro. Und Doro war am Leben! Noch dazu hatten sie durch Doro auch drei Enkelkinder, die sie liebten. Wenn der Herbst kam, dann würde sie vielleicht tatsächlich gehen müssen. Vielleicht auch schon vorher. Wer konnte das sagen? Jetzt, wo Tilda diesen Umstand realistisch betrachtete, was ihr wirklich schwer fiel, war ihr eines klar: Ihre prognostizierte Lebenserwartung, die sie jetzt noch hatte, traf doch nur auf sie zu, wenn sie die empfohlene Therapie machte. Nur für diesen Fall konnten die Mediziner in der Klinik eine Prognose stellen. Fast alle Patienten mit ihrer Diagnose hatten die übliche Therapie gemacht. Manche aus Überzeugung, mache aus Angst und manche aus Verzweiflung. Aber immer war es dieselbe Voraussetzung, die da in die Statistik einfloss. Eine Therapie, die die Patienten von vornherein aller weiteren Chancen beraubte, weil sie das Immunsystem zerstörte oder zumindest so stark beschädigte, dass es selbst mit der Hilfe anderer, geeigneter Maßnahmen meist keine Heilung mehr gab. Es war eine Sackgasse in die alle sehenden Auges hineinrannten, bis sie dort unweigerlich zugrunde gingen. Es schien tatsächlich kaum jemanden zu geben, der sich wiedersetzte.

Tilda war bisher leider nichts wirklich Brauchbares als Alternative eingefallen. Zu wenige Menschen schienen sich dafür zu interessieren. Und wenn sie es doch taten, dann stellten sie ihre Erfahrungen der Allgemeinheit offenbar nicht zur Verfügung. Während immer noch das heiße Wasser aus der Dusche auf ihre Haut prasselte und Tilda versuchte, das zu genießen, starrte sie mit leeren Augen vor sich hin.

Beim Abtrocknen fühlte sie sich schwindelig und schwach. Der Tag hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie setzte ich auf den Hocker aus hellem Holz, der im Badezimmer gleich neben dem großen Waschtisch stand. Die Anstrengungen forderten jetzt ihren Tribut. Tilda war trotzdem nicht unzufrieden. Auch wenn es einigen nicht passte, was sie tat. Sie hatte vieles erreicht und einiges entschieden an diesem Freitag. Das war alles in allem viel mehr, als sie in der Kürze der Zeit für möglich gehalten hatte. Jetzt war es Abend und sie hatte keinen Portkatheter, sie hatte mit Ludwig und mit ihren Eltern Klartext gesprochen und sie würde in Kürze zu Doro und ihrer Familie nach Arizona fliegen. Bei allem Schrecklichen, das in ihrem Leben gerade passierte, gab es auch Grund zur Freude. Tilda war zufrieden. Alles in allem war es doch ein guter Tag für sie gewesen.

Spät am Abend schrieb Tilda Conny noch eine Nachricht. „Hi Conny, habe mir keinen Port setzen lassen. Mache keine Chemo. Fliege nächste Woche nach Arizona zu meiner Schwester. Grüß alle in der Schule von mir. Melde mich! Alles wird gut. Tilda“ Die Antwort kam augenblicklich: „Hi meine Süße, Du machst alles richtig. Ich bin auf Deiner Seite, habe aber große Angst um Dich. Du machst das schon. Du bist ein großes Mädchen! Ja, alles wird gut. Liebe Grüße, Conny“. Tilda fühlte sich erleichtert. Zumindest eine Freundin hatte sie, die ihr nichts auszureden versuchte und die ihr keine Vorhaltungen machte, obwohl sie selbst auch Angst hatte. Sie zögerte einen Moment. Dann schrieb sie Conny: „Ich habe auch große Angst.“, und schickte die Nachricht ab. Die Antwort von Conny kam genauso schnell, wie beim ersten Mal: „Ich weiß.“ Tilda stiegen wieder die Tränen in die Augen. Sie wusste schon, was sie an Conny hatte. Aber dieses stille Einvernehmen erfüllte sie trotz der Umstände mit großer Freude und Erleichterung. Es gab zum Glück Menschen in ihrem Leben, mit denen sie nicht alle Dinge lang und breit diskutieren, sie hin und her wälzen und sich rechtfertigen musste. Trotzdem war alles klar. Conny war schon immer ein ganz besonderer Mensch für sie gewesen, nicht nur wegen ihrer schrillen Outfits. Sie kannte sie jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Dabei war diese Ewigkeit realistisch betrachtet noch gar nicht so lang. Sie betrug nur ganze fünf Jahre.

Tilda erinnerte sich jetzt an Connys langes, braunes Haar. Das war ihr damals zu allererst aufgefallen, als sie sie zum ersten Mal im Lehrerzimmer gesehen hatte. Und an ihr fröhliches, entspanntes Lachen. Und daran, dass sie mit ihrer Größe alle anderen Kolleginnen überragte. Als sie sich zum ersten Mal die Hand gegeben hatten und Tilda wegen Connys Größe ein wenig zu ihr aufschauen musste, hatte Conny grinsend gesagt: „Jetzt fragen sie mich aber bloß nicht, wie die Luft hier oben ist! Der alte Witz ist öde.“ Tilda hatte gelacht und einfach nur: „Nö!“ gesagt. Das Eis war gebrochen und dank Conny hatte Tilda sich viel schneller in ihren Arbeitsalltag als Lehrerin hineingefunden. Conny hatte ihr damals einiges erspart und sie in aller Freundschaft auch vor dem einen oder anderen Kollegen gewarnt. Das, was sie selbst an Erfahrungen gemacht hatte, stellte sie Tilda einfach so zur Verfügung. Als Begründung für dieses Verhalten hatte sie damals nur kurz gesagt: „Ich denke, wenn einer damit angeeckt ist, dann reicht´s! Und ich bin schon.“

Conny war immer so lustig und unbeschwert, obwohl sie es in ihrem Leben bisher nicht leicht gehabt hatte. Eigentlich hatte sie eine ganz dramatische Geschichte hinter sich, von der sie sich glücklicherweise nicht hatte unterkriegen lassen. Der Mann, den sie geliebt hatte, war vor über fünf Jahren auf schreckliche Art und Weise bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Das war auf der Fahrt nach Hause passiert, in die gemeinsame Wohnung, die die beiden erst eine Woche zuvor bezogen hatten. Er war am späten Abend mit seinem Auto aus unerklärlicher Ursache frontal gegen einen Baum gefahren. Der Unfallhergang konnte nie abschließend geklärt werden. Er war auf der Stelle totgewesen. Seitdem hatte Conny keinen anderen Mann mehr angesehen. Sie sagte immer, dass ihr Herz noch nicht wieder frei sei für eine neue Liebe. So war Jahr um Jahr vergangen. Dabei gab es genug Männer, die sich für Conny interessierten. Sie hatte aber keinen Blick für die Bewerber. „Es dauert so lange wie es dauert. Und vielleicht geht es ja nie vorbei. Wer weiß.“, pflegte Conny ihren eigenwilligen Standpunkt dann immer klar zu machen.

Das war typisch für sie. Sie ließ sich nie unter Druck setzen. Es war diese Eigenschaft, die Tilda schon immer am meisten an ihr bewundert hatte. Das traf auch auf ihren Umgang mit Schülern und Kollegen zu und überhaupt auf alles, was in ihrem Leben so stattfand. Der Grundsatz, sich nicht erpressen zu lassen, machte ihr Leben auf eine gewisse Art und Weise viel leichter und unkomplizierter. Das war wohl auch der Hauptgrund dafür, warum sie im Gegensatz zu anderen Menschen viel entspannter durch ihr Leben schipperte. Sie sagte von sich immer, sie sei der Korken in der Mitte eines Flusses. Immer sicher, immer gemütlich, immer ohne die geringste Gefahr des Unterganges oder die Angst, vom rechten Wege abzukommen. Conny war der Ansicht, dass jeder Mensch in seinem Leben möglichst bald lernen sollte, „richtig gut nein“ zu sagen. Denn durch den Schlingerkurs, den viele Zeitgenossen fuhren und der daraus resultierte, dass sie ihre Meinung nicht von Anfang an ehrlich kundtaten, machten sie sich selbst nur Schwierigkeiten. Tilda hatte von ihr gelernt, dass es tatsächlich oft besser war, erst einmal „nein“ zu sagen. Zum Beispiel dann, wenn man nicht ganz sicher war. Später war es problemlos, eventuell doch noch einzulenken. Es war in der Tat kein Problem, dieses Nein später in ein Ja zu verwandeln. Das Gegenteil war viel komplizierter. Erst einmal zuzustimmen und dann später doch abzulehnen war fast unmöglich, ohne sich unbeliebt zu machen.

Conny nannte diesen Vorgang: „Für die anderen zum Arsch werden“. Sie benutzte diese Formulierung oft und gern und lachte jedes Mal darüber. Eine Freundin wie Conny zu haben war für Tilda ein beruhigendes Gefühl, zumal Doro, ihre Schwester so weit weg war.

Irgendwie hatte Conny das Bestmögliche aus dem schrecklichen Schicksalsschlag in ihrer Vergangenheit gemacht. Nach einem einsamen Jahr in der ursprünglich gemeinsamen Wohnung, war Conny zurück zu ihren Eltern nach Stellingen gezogen. Dort bewohnte die Familie schon seit Generationen eine große, alte Villa mit viel Platz und einem wunderschönen, romantischen Garten. Conny war dort aufgewachsen. In diesem Garten hatte sie gespielt und gelacht, als sie ein Kind war. Dort fühlte sie sich auch jetzt wieder wohl.

Sie bewohnte eine der beiden Einliegerwohnungen unter dem Dach ihres Elternhauses. Das hatte den Vorteil, dass sie sich mit ihren Eltern nicht in die Quere kam. Sich mit Connys Eltern in die Quere zu kommen war ohnehin kaum möglich. Zumindest Tilda sah das so. Connys Eltern waren erstaunlich jung gebliebene Leute, ein wenig durchgeknallt und sehr nett. Sie hatten die Ansichten und Einstellungen von Mittdreißigern, obwohl sie gut und gerne doppelt so alt sein mussten, denn sie waren beide schon längere Zeit im Ruhestand. Tilda hatte sie bereits vor Jahren kennengelernt. Es war tatsächlich sehr schwer, die beiden auf ihr wahres Alter zu schätzen. Sie entzogen sich durch ihre Art und durch ihre jugendliche Ausstrahlung allen Maßstäben.

Vielleicht lag ihr Anderssein auch daran, dass sie die langen Winter in Deutschland mieden und stattdessen seit geraumer Zeit die kalte Jahreszeit in Südfrankreich verbrachten. Dort lebten sie glücklich, bescheiden und ohne großen Luxus, so dass Conny immer lachend behauptete, sie würden sehr viel Geld sparen können, wenn sie für immer dort bleiben würden. Obwohl sie ihre Eltern liebte, war sie durchaus von Zeit zu Zeit glücklich darüber, sie eine Weile lang los zu sein. Noch glücklicher war sie dann allerdings, wenn die beiden im Frühjahr wieder aus dem Süden zurückkehrten. Conny hatte in Tildas Augen bewiesen, dass es möglich war, auch aus einem schlimmen Schicksal noch etwas Gutes zu machen. Es kam offenbar nur auf die innere Einstellung an. Lächelnd erinnerte sich Tilda jetzt daran, dass sie Conny einmal danach gefragt hatte, ob sie ihren Eltern für die Wohnung im Dachgeschoss auch Miete zahlen würde. Schließlich war es ja nicht selbstverständlich, dass ein erwachsenes Kind mit eigenem Leben und eigenem Einkommen wieder ins elterliche Haus zurückkehrte, um dort eine ganze Etage zu bewohnen. Auf die Frage hin hatte Conny sie verständnislos angeschaut und im Brustton der Überzeugung gefragt: „Ich??? Ich soll ihnen Miete zahlen??? Ich verstehe deine Frage nicht! DIE müssen MIR was zahlen. Schließich bin ich die Hälfte des Jahres die Haus-Sitterin von dem großen Kasten!“ Tilda hatte ein wenig irritiert geschwiegen und dann unsicher gemurmelt: „Naja, ich dachte ja bloß…..“ Conny hatte schallend darüber gelacht und konnte sich erst gar nicht wieder beruhigen. Natürlich zahlte sie Miete an ihre Eltern, wie sie später richtigstellte. Aber sie machte ihre Späße gern und bei jeder Gelegenheit. Und sie machte sie mit allen Menschen ihrer Umgebung gleichermaßen. Berührungsängste hatte sie in dieser Hinsicht nicht. Deshalb gab es in der Schule zur zwei Lager: Die, die Conny liebten und die, die Conny hassten. Letztere wahrscheinlich deshalb, weil sie nie so genau wussten, woran sie bei ihr und ihren Späßen waren.

Auch eine weitere Begebenheit hatte Tilda nie vergessen. Es war während einer Grippewelle. Die Hälfte der Lehrer (und zum Glück auch ein Teil der Schüler) war krank. Die übrigen Lehrer mussten eine Flut von Vertretungsstunden übernehmen, um den Schulbetrieb überhaupt aufrechterhalten zu können. Im Namen aller hatte sich Conny beim Direktor bereits den Mund verbrannt, als sie auf der Lehrerversammlung offiziell zur Kenntnis gegeben hatte, dass sie selbst und die übrig gebliebenen Kollegen mit der Situation vollkommen überfordert waren. Trotzdem hatte der Direktor sie alle zu immer neuen Vertretungsstunden verurteilt. Conny hatte das am nächsten Tag am Vertretungsplan gesehen. Sie war dermaßen wütend darüber gewesen, dass sie Tilda sofort angekündigt hatte, diese Stunden diesmal nicht zu halten. Erbost hatte sie gesagt, der Direx solle sie sich „in die Haare schmieren“ oder so ähnlich. Das sei keine Schule mehr, sondern ein Irrenhaus. Conny und sie hatten sich zum Trost nach dem regulären Unterricht auf eine Pizza verabredet. Als sie beide auf leisen Sohlen möglichst unauffällig über den Schulkorridor in Richtung Ausgang strebten, erwischte sie der Direktor sozusagen auf frischer Tat. Seine tiefe Bassstimme dröhnte durch den langen Korridor, als er ihnen hinterherrief: „Wann kann ich denn heute noch mit ihnen rechnen, liebe Kolleginnen?!“ Nach einer Schrecksekunde hatte sich Conny zu ihm umgedreht und geflötet: „Überhaupt nicht, lieber Herr Direktor! Überhaupt nicht!“ Dann hatte sie ihm noch einmal gewinnend zugelächelt und war dann ungerührt in Richtung Ausgang weitergegangen. An Tilda gewandt hatte sie leise gezischelt: „Komm schnell!“. Draußen auf der Straße hatte sich Conny dann über den gelungenen Spaß vor Lachen ausgeschüttet. Tilda hingegen war danach nicht so sehr zum Lachen zumute gewesen.

Sie konnte sich noch gut erinnern, dass auch einige andere von Connys Späßen für sie anfangs gewöhnungsbedürftig waren. Das mochte wohl auch daran gelegen haben, dass sie zu diesem Zeitpunkt den etwas merkwürdigen Sinn für Humor ihrer Freundin noch nicht verstanden hatte. Aber das änderte sich schnell. Mit Conny zusammen war es immer lustig gewesen. Welche Konsequenzen Conny und sie damals für den Aufritt mit dem Direktor ertragen mussten, überraschte sie. Keine. Offiziell wurde die Begebenheit nie wieder erwähnt. Conny hatte übrigens immer eine gute Erklärung dafür, warum man sich nicht alles gefallen lassen dürfe. Ein ungeschriebenes Gesetz, so sagte sie jedenfalls, beschrieb die Regel: Wenn einer immer gut zum anderen ist, dann muss der andere böse werden. Zunächst schien diese Sichtweise ein Widerspruch in sich zu sein. Im Laufe der Jahre aber hatte Tilda erkannt, dass der Satz voller Wahrheit steckte.

Noch am selben Wochenende begann Tilda, ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Für sie stand außer Frage, dass sie für zwei bis drei Wochen in Arizona nicht allzu viel benötigen würde. Dort war im Juni heißes Sommerwetter. Die Sachen für kühle Tage konnten folglich zu Hause bleiben. Alles, was sie vergessen hatte, würde sie sicher von ihrer Schwester bekommen können. Sie flog schließlich zum Familienbesuch und nicht als Touristin in eine Bettenburg.

Noch mehrmals nahm Ludwig Anlauf, um sie doch noch umzustimmen. Er bat und bettelte, versuchte sie mit allerlei Argumenten zu einem Sinneswandel zu bringen. Tilda ließ sich auf keine Diskussion mit ihm ein. Ihr war klar, dass wenn sie jetzt nicht flog, womöglich nie wieder etwas daraus werden würde. Noch reichten ihre Kräfte für eine Reise, aber wie lange würde das noch so sein? Im Gegensatz zur Vorwoche hatte Tilda sogar das Gefühl, ihr ginge es etwas besser. Die Anfälle von Übelkeit hielten sich in Grenzen. Nur ihr Appetit, der wollte einfach nicht wiederkommen. Ihr Gewichtsverlust setzte sich immer weiter fort. Seit Beginn des Jahres vor fünf Monaten hatte sie schon 10 Kilo verloren. Dementsprechend war sie auch viel weniger belastbar als früher. Sie fühlte sich die meiste Zeit über schwach und ausgelaugt. Das war ein Grund mehr, nur leichtes Gepäck mitzunehmen. Ludwig´s Versuche, ihre Reise zu verhindern, empfand sie als bedrohlich. Sie war sich sicher, dass er ihr gegenüber nicht ehrlich war und mit ihren Eltern paktierte. Nicht nur er, sondern auch ihre Eltern blieben dabei, dass sie in ihrem Zustand auf gar keinen Fall so eine Reise antreten sollte. Ihr Vater Thomas war nicht davor zurückgeschreckt, ihr klipp und klar zu sagen, dass er ihr Handeln für unverantwortlich, unüberlegt und obendrein kindisch hielt. Das hatte Tilda sehr verletzt. Sie war sofort in Tränen ausgebrochen. Nicht so sehr wegen seines Standpunktes, sondern deshalb, weil sich offensichtlich noch nicht einmal ihre Eltern die Mühe gemacht hatten, sich wirklich einmal in ihre aussichtslose Lage zu versetzen. Stattdessen beharrten sie auf ihrem Standpunkt, dass sie sich in der Klinik „helfen lassen sollte“. Tilda war todtraurig darüber, dass ihre Eltern in ihrer eigenen Angst und in ihrem Stress vollkommen verdrängten, dass es überhaupt keine wirkliche Hilfe in der Klinik für sie gab. Noch dazu war ihr Vater früher doch immer selbst derjenige gewesen, der der Meinung war, dass Angst ein schlechter Ratgeber sei. Während Tilda diese Weisheit schon als Kind verinnerlicht hatte, schien er sie inzwischen vergessen zu haben.

Die traurige Realität war unumstößlich die, dass Tilda mit ihren Eltern in dieser Angelegenheit nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen konnte. Sie fand das sehr schlimm. Sie war nicht daran gewöhnt, Differenzen mit ihnen zu haben. Tilda wollte auf keinen Fall im Streit mit ihnen auseinandergehen. Normalerweise hätte sie ihre Reise unter solchen Umständen gar nicht erst angetreten. Es schmerzte sie, dass sie offenbar wirklich in dieser angespannten Situation abreisen musste. Zudem belastete sie der Gedanke, dass ihre Eltern auch Doro deswegen unter Druck setzen würden.

Weinend hatte Tildas Mutter zu ihr bei einem ihrer vielen Anrufe nach der Reiseentscheidung gesagt: „Kind, ich habe das schlimme Gefühl, dass wir uns nicht mehr wiedersehen, wenn du jetzt fliegst!“ Obwohl für Tilda allein der Gedanke daran schon Horror war und sie am liebsten augenblicklich losgeheult hätte wie ein Schlosshund, hatte sie doch mit fester Stimme dagegen gehalten: „Mam, jetzt hör auf damit! Ich fliege zu meiner Schwester und dort überlege ich mir, was ich weiter tun werde. Hier reden doch ohnehin nur alle auf mich ein! Ich kann gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und ihr seid auch nicht gerade hilfreich für mich, Mam!“ Und nach einer kurzen Pause fügte sie anklagend hinzu: „Denkt ihr denn, ich bin blöd? Mir ist auch klar, dass ich sterben könnte. Und Mam, das will ich nicht! Aber ich brauche einen anderen Plan! Und überhaupt: vielleicht reicht für mich auch schon andere Luft. Ich ersticke hier!“

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9783742761583
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