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Dedra sah an diesem frühen Herbstnachmittag tatsächlich ein wenig wie ein Geist aus, und wie ein erschöpfter dazu. Sie schleppte sich gerade schnaufend über den Boden des Waldrandes vor ihrer Hütte. Mit einem erleichterten Grunzen nahm sie die letzten paar Schritte zur hinteren Veranda in Angriff. Sie war eine Hexe, eine der wenigen echten, die es noch gab, aber sie war ebenso eine leidenschaftliche Kräuterfrau, und zwar eine hervorragende.

Alchemie und Kräuterkunde hatten ihr immer Freude bereitet, obgleich Menschen für sie nicht viel mehr waren als Nutztiere. Es war erheiternd, einem von ihnen einen Trank zu verabreichen, der ihn in Krämpfen verenden ließ. Es konnte jedoch auch durchaus befriedigend sein, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Bei all dem war es für eine Hexe unabdingbar, über ein fundiertes Wissen in der Naturheilkunde zu verfügen, wenn sie längere Zeit an einem Ort leben und arbeiten wollte.

Wer das, was die Ignoranten die dunkle Kunst nannten, öfter als unbedingt nötig gebrauchte, blieb nicht lange unentdeckt. Und dann waren immer rasch Leute mit Fackeln und Mistgabeln oder Hammer und Nägeln zur Stelle. Eben diese Kräuterheilkunde aber war in den Jahren seit dem Grau ständig schwieriger geworden. Durch die anhaltend kälteren Temperaturen und das Fehlen von direktem Sonnenlicht hatten sich Fauna und Flora verändert. Dabei schienen ihr die Veränderungen der Pflanzenwelt bis vor kurzem am gravierendsten zu sein. Vor den vielen Eichhörnchen und den Hirschen. In jedem Fall aber waren sie für ihre Arbeit problematischer. Sie hatte die neuen Umstände das eine um das andere Mal verflucht. Zum Glück war sie dank ihrer Kunst nicht ausschließlich auf die Natur angewiesen.

Einige Kräuter waren während der kühlen Jahrzehnte einfach nur selten geworden oder ausgestorben. Andere Pflanzen wiederum gab es zwar noch, doch verloren sie im Laufe der Zeit teilweise oder vollständig ihre Wirkung. So heilte Dedra seit fast dreißig Jahren eine Blasenentzündung nicht mehr mit Grelenwurz, wie es in diesem Teil der Welt üblich war. Sie verwendete die Pflanze nicht mehr, weil sie früher in den warmen Monaten von Mitte Juni bis Mitte August geblüht hatte. Nur wenn es in seiner Blüte geerntet wurde, entfaltete das Kraut seine Heilkraft. Nun gab es aber seit sechzig Jahren keine warmen Sommermonate mehr. Und damit natürlich auch kein wirksames Grelenwurz. Sie heilte die Blasenentzündungen trotzdem, obgleich ihre übernatürlichen heilerischen Fähigkeiten vergleichsweise bescheiden waren. Sie war jedoch eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Es gab schließlich genug Kraut, das so ähnlich aussah. Die Dorfbewohner kannten sich mit diesen Dingen ohnehin nicht aus. Den meisten war es auch egal, was sie nahmen, solange es nur half. In jedem Fall wäre es für eine halb so alte Frau wie Dedra heuer mühsam gewesen, dieser Arbeit nachzugehen. Ob Hexe oder nicht.

Sie erklomm die schmale Treppe zur Veranda mit kurzen, leisen Stoßseufzern, die sie im Takt ihrer Schritte ausstieß. Jede der drei Stufen war wie ein Messer in den Kniegelenken. Erleichtert schnaufend erreichte sie schließlich den verblassten Holzboden. Sie ließ den Korb mit den gesammelten Kräutern, den sie an einer Lederschlaufe über der Schulter getragen hatte, auf ein Tischchen aus grob gezimmertem Holz gleiten. Dann machte sie zwei weitere Schritte und plumpste mehr in ihren alten Schaukelstuhl, als sie sich hineinsetzte. Dedra war eine kleine Frau, knochig gebaut und vom Alter ausgemergelt. In jungen Jahren hatte sie durch ihre geringe Körpergröße und den grobschlächtigen Körperbau korpulent gewirkt, ohne es zu sein. Jetzt schien es, als zöge sich nur noch lederartige, faltige Haut über ihre Knochen und die meist geschwollenen Gelenke. Sie war spindeldürr, krumm wie ein alter Dornenbusch und runzlig wie eine blasse Rosine.

Den knorrigen Stock in der Linken, die von der Arthritis gekrümmte Rechte auf der Stuhllehne, saß sie da und wartete darauf, dass sie wieder zu Atem kam. Sie war tiefer in den Wald hineingegangen, als sie es vorgehabt hatte. Weiter durch die nasskalte Luft, als sie es vor einigen Jahrzehnten für die spärliche Kräuterausbeute hätte tun müssen, die nun in dem Korb neben ihr lag. Das Leben wurde stetig härter und sie wurde immer älter und schwächer. Sie saß mit rasselndem Atem leise keuchend da und versuchte so viel der schweren, feuchten Waldluft in die Lunge zu ziehen, wie sie konnte. Die krampfartigen Schmerzen in jedem Gelenk und Muskel unterhalb der Körpermitte ließen langsam etwas nach. Sie rieb sich vor und nach ihren Ausflügen den Körper mit einer dicken Salbe ein, was zumindest ein wenig Abhilfe schaffte. Dass die Wirkung gleichermaßen immer länger auf sich warten ließ, wie sie kürzer anhielt, war eine andere Geschichte. Mit jedem mühsamen Atemzug entspannten sich ihre verdorrten Muskeln ein wenig mehr. Die Bronchen fühlten sich freilich nach wie vor so an, als wollten sie ausgekotzt werden. Aber das taten sie inzwischen jeden Morgen, obwohl Dedra seit Jahren fast völlig auf die Kräuterpfeife verzichtete, die sie so liebgewonnen hatte.

Ihre alten, zu einer verwaschenen Farblosigkeit verblassten Augen streiften über den Wald, der einige Schritte vor der Veranda begann. Dieser Wald, die Hütte und das kleine Stück Land, auf dem sie stand, waren der einzige Ort, an dem sie sich je zu Hause gefühlt hatte.

Obgleich sie auch im letzten Lebensabschnitt nicht zur Rührseligkeit neigte, schlich sich eine schmerzhafte Traurigkeit in ihr altes Herz, wenn sie daran dachte, dass sie ihr bescheidenes Glück bald verlieren würde. Denn das war das Leben hier gewesen, eine Zeit der Zufriedenheit, ihrem Verständnis von Glück so nahe, wie sie es sich vorzustellen vermochte.

Sie lebte einfach und einsam, aber sie lebte gern. Das hatte sie schon immer getan, ganz gleich wie widrig ihre Lebensumstände gewesen waren. Sie hatte sich daran gewöhnt, für ihre Dörfler zu sorgen und wenn sie auch im Grunde wertlos waren, genoss Dedra doch den Respekt, den sie ihr entgegenbrachten. Sie mochte ihr einfaches Essen, das in den letzten Jahren zumeist aus Suppen bestand. Gemüse, teils wild gewachsen, teils von den Dörflern angebaut, selbst gesammelte Kräuter und Pilze und das eine oder andere Eichhörnchen oder Stück Fleisch aus dem Dorf. Schlicht und doch reichhaltig genug für eine alte Frau. Die nachmittäglichen und abendlichen Kräutertees, die immer öfter auch dazu dienten, die Schmerzen zu dämpfen und ihren Geist ein wenig zu entspannen. Und natürlich ihre Katze, ihren kleinen, pelzigen Schatz.

Besagtes Tier kam, nachdem Dedra leise seinen Namen gerufen hatte, aus einer nur ihm zugänglichen Ecke der Veranda geschlichen. Eigentlich mehr gehumpelt, wenn sie ehrlich war. Die Katze schnurrte laut und strich für einen Moment um ihre krummen alten Beine. Schließlich sprang sie mit einem leisen Miauen, das dem Keuchen seiner Besitzerin beim Erklimmen der Verandastufen nicht unähnlich war, auf Dedras Schoß. »Ach Grumpel, mein zerlumpter kleiner Liebling«, seufzte sie mit einer Stimme, so brüchig wie altes Laub, und begann den mageren Körper des Tieres behutsam zu streicheln. Das Fell war einmal pechschwarz und von seidigem Glanz gewesen. Aber Grumpel war für eine Katze so alt, wie es ihre Herrin für einen Menschen war und nun war ihr Pelz von einem verwaschenen, schmutzig wirkenden Eisgrau. Schuppig und mit der einen oder anderen kahlen Stelle verunziert war es ebenfalls. Grumpel war Dedra als junges, wildes Kätzchen zugelaufen, halb verhungert, zerkratzt und zerschunden. Keine zwei Monate war sie damals alt gewesen. Das war nur kurze Zeit nach dem Bau der Hütte, erinnerte sich die alte Frau. Wie schnell ein halbes Jahrhundert dahinflog.

Sie hörte auf das Tier zu streicheln, als es sich schnurrend in ihrem Schoß zusammenrollte und mit einem Schnaufen die Augen schloss. Ja, Grumpel und sie hatten beide lange über ihre Zeit gelebt, und sie würde bald nichts mehr für die Katze tun können.

Als Hexe hatte man Möglichkeiten, aber die Zeit war gnadenlos und unerbittlich. Sie war ein geduldiges, gemeines altes Miststück. Möglichkeiten und greise Frauen waren ihr ebenso gleichgültig wie Katzen, Hexen und alles andere. Irgendwann kam sie einen holen, und dann brachte sie einen zu ihrem alten Liebhaber, dem Gevatter Tod. Das war so unabwendbar, wie die Nacht dem Tag folgte.

Ihr Atem hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Der saure, beißend riechende Schweiß klebte an ihrer pergamentartigen Haut und trocknete langsam. Grumpel schien bereits eingeschlafen zu sein, und sie fühlte die Wärme des Tieres im Schoß und die nasse Kälte am Rücken. Ihr Blick wanderte von dem dunklen, unwirtlichen Wald zu dem Inhalt des alten Weidenkorbes. Sie beugte sich zu dem Tischchen, auf dem er stand, und untersuchte die Ausbeute. Ein wenig Malorikraut gegen Sodbrennen und diverse andere Magenbeschwerden. Ein kleines Bund Bleichminze und wilder, immer seltener werdender Knoblauch. Er half gegen Fieber und Entzündungen, vor allem aber schmeckte er ganz vorzüglich und wärmte von innen. Daneben etwas Heckenwurz für die Behandlung mannigfaltiger Frauenleiden. Das Zeug verlor mit jeder Saison mehr von seiner Wirkung.

Sie hielt bei der Handvoll Eisschlehen inne, die fast am Boden des Korbes lagen. Die Pflanze wuchs erst seit wenigen Jahren in diesen Wäldern. Eigentlich gehörte sie in nördlichere Gefilde. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Veränderungen durch das kältere Klima auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Grau noch nicht beendet waren. Wie es wohl heutzutage dort sein mochte, wo das Wetter früher bereits kalt und lebensfeindlich war, fragte sie sich beiläufig. Aber es waren inzwischen nicht mehr nur die Pflanzen, die ihre Aufmerksamkeit erregten.

Sie sah in letzter Zeit Tiere, die ihr ganz und gar nicht gefielen. Einige Nagetiere waren so selten, dass manche Arten völlig verschwunden zu sein schienen. Seit dem Herbst vorletzten Jahres hatte sie mehr Eichhörnchenkadaver gefunden als in den zehn Jahren davor zusammen. Besonders aber das Aussehen der Tiere beunruhigte sie zunehmend. Eichhörnchen waren eine feine Fleischbeigabe für ihre Suppen, außerdem liebte Grumpel sie. Daher genossen diese kleinen Tiere seit jeher ihre Aufmerksamkeit. Grumpel und sie hatten beide eine Vorliebe für einfaches Essen und waren nicht wählerisch. Wobei das heutzutage kaum noch jemand war, dafür hatte das Grau gesorgt. Nun war es aber eine Sache, ein schon etwas mürbes Eichhörnchen zu verspeisen. Wenn die vermeintliche Nahrungsergänzung Ohren und Finger hatte, die deutlich zu lang für seine Art waren und die Augen wirkten, als wären sie seitlich am Kopf nach unten gerutscht, sah das völlig anders aus. Sie wusste nicht, ob diese Missbildungen mit den vielen Kadavern zusammenhingen, die sie fand. Die meisten von ihnen schienen von anderen kleinen Tieren totgebissen worden zu sein. Aber natürlich konnte man eine Krankheit nie ausschließen. Seit einigen Monaten gab es jedenfalls nur noch sehr selten Eichhörnchen bei Dedra und Grumpel, und sie bevorzugte die mageren jungen Hühner aus dem Dorf.

Die Beeren der Eisschlehe hingegen stellten eine der erfreulichen Veränderungen dar. Leicht bitter und nussig im Geschmack, konnten sie im getrockneten Zustand rasch zu einem feinen Pulver gemahlen werden. Roh oder frisch zubereitet waren sie in einer Speise schmackhaft. Als dünner Tee aufgebrüht wirkten sie beruhigend auf die Nerven. Getrocknet und in Pulverform verstärkte sich diese Wirkung um ein Hundertfaches. Das führte dazu, dass aus einer Medizin ein tödliches Gift wurde. Wie so oft machte nur die Dosis den Unterschied aus. In einem Getränk oder einer Speise war das Pulver nahezu geschmacklos und hervorragend geeignet, Mensch oder Tier binnen weniger Minuten zu töten. Sekunden nach der Einnahme setzte eine tiefe Müdigkeit ein, der die Bewusstlosigkeit folgte. Kurz darauf erstarb die gelähmte Atmung und alles war vorbei.

Dedra seufze erneut und schaute auf das gleichmäßig atmende, zottige Bündel Fell in ihrem Schoß hinunter. Es war ein bitterer Gedanke, unter Umständen einen solchen Trunk für das Tier oder sich selbst bereiten zu müssen. Die Katze war ebenso ein alter Sack voll Knochen, wie sie einer war. Der Pelz eine stumpfe, struppige Entsprechung ihres eigenen eisgrauen, spinnwebenfeinen Haares. Vielleicht blieben ihnen ja noch der eine oder andere Sommer, dachte sie wehmütig. Zunächst einmal stand der Winter bevor.

Wenn sich auch Vieles geändert hatte, seit das Grau über die Welt gekommen war, der Winter machte seinem Namen nach wie vor alle Ehre. Er kam jetzt statt im frühen Dezember bereits im späten Oktober und blieb für gewöhnlich bis Mitte oder Ende April. Außerdem war er, wie jede andere Jahreszeit, ungleich kühler als zuvor. Aus dem Frühling war der Herbst geworden, aus dem Sommer der Frühling und aus dem Herbst der Winter. Der Winter selbst hatte sich in etwas Dunkleres und Kälteres verwandelt, als man bis dahin gekannt hatte.

Dedra schauderte, wenn sie an die Beschwerlichkeit des Weges von ihrer Hütte bis zum Dorf dachte, die ihr in den kommenden Monaten bevorstand. Ihre Knochen fühlten sich langsam aber sicher so alt und spröde an, wie sie waren. Die Schmerzen in den Morgenstunden und nach ihren Ausflügen wurden immer hartnäckiger und unerträglicher. Über das Blut, das sie inzwischen ständig im Abort fand, dachte sie nicht weiter nach. So etwas musste man verdrängen, oder man wurde verrückt. Ab und an überlegt sie, eine Hütte im Dorf zu beziehen. Willkommen war sie dort, das wusste sie wohl, aber stets verwarf sie den Gedanken wieder. Die Dorfbewohner waren nicht ihresgleichen. Die Bequemlichkeit und vermeintliche Sicherheit der Nähe zu den Menschen barg mehr Gefahren, als sie wert war. Außerdem konnte sie nach über einem halben Jahrhundert der Einsiedelei eine Gesellschaft, die nicht aus Grumpel bestand, kaum ertragen.

Es war besser hier zu bleiben, und das Beste aus der verbleibenden Zeit zu machen. Wenn es denn nicht mehr ging, wenn alles zu unerträglich wurde, hatte sie Möglichkeiten. Die hatte jede Kräuterkundige. Und erst recht jede Hexe. Sie schloss die Augen, sog den Waldgeruch tief in ihre alten Lungen, und lies eine klauenartige Hand sanft auf dem dürren aber warmen Körper von Grumpel ruhen.

Kapitel 3

Baldric

Für Baldric von Dunstan brachte dieser relativ milde September seinen ersten Herbst als Marschall des Templerordens. Der Orden des Lichtbringers war der eiserne, halbweltliche Arm der Kirche. Er diente als Verteidigung des Glaubens gegen Feinde sowohl von außerhalb, als auch von innerhalb des Reiches.

Baldrics Laufbahn hätte als beispielhaft bezeichnet werden können, wäre da nicht der eine dunkle Fleck gewesen, der seine Vergangenheit unauslöschlich beschmutzte. Besagter Makel war außerdem der Grund dafür, dass er seinen Titel in der Ostmark trug und nicht in Stennward, der Liegenschaft des Regenten selbst. Dieser ferne Teil des Reiches, die Königsmark, war sowohl der Sitz des großen Tempels des Lichtbringers als auch der des Ordenshauptquartieres. Gleichzeitig sorgte die weit zurückliegende Verfehlung dafür, dass sein kürzlich erworbener Rang der höchste war, den er je erreichen würde. Seine nicht unproblematische Herkunft hingegen spielte hier keine Rolle.

Er war ein Bastard aus dem mittleren Adel, was an sich keine allzu bedeutende Schande darstellte. Besonders förderlich war es in der aristokratischen Welt freilich auch nicht unbedingt. Hier, in der Gesellschaft des eisernen Armes der Kirche, verloren weltliche Wertigkeiten jedoch fast völlig ihre Bedeutung. Mit dem Ordensschwur ließ der Anwärter sein bisheriges Leben zurück. Zum Guten, wie zum Schlechten. Baldric, der mit zweiunddreißig Jahren einer der jüngsten Marschälle des Ordens war, ließ die Vergangenheit vor seinem inneren Auge Revue passieren, während er durch die Gänge von Moorwacht schritt. Er kam gerade vom Gebet und fühlte sich so entspannt, wie es nur selten der Fall war.

Er ging nicht direkt zu seiner Kammer, sondern schlug einen Weg ein, der ihn quer durch die kleine Ordensburg führte. Er bewegte sich gerne durch die Wehranlage, die er seit einigen Jahren seine Heimat nannte. Die Ernennung zum Marschall lag wenige Tage zurück, und er würde bald zu einer längeren Mission aufbrechen. Es war eines seiner größten Kommandos und das Erste in dem kürzlich erworbenen Amt. Es gab Zeiten, in denen es gut war, einen ruhigen Blick auf die Vergangenheit zu werfen, um sich für die Zukunft zu wappnen. Er ging bewusst langsam, nickte dem einen oder anderen Bruder im Vorbeigehen zum Gruß und dachte an seine Jugend.

Die wilden, unsicheren Jahre. Den frühen, nicht ganz freiwilligen Eintritt in den Dienst für den Lichtbringer, der nicht im Orden selbst, sondern im Schoß der Kirche begonnen hatte. Fast fünfundzwanzig Jahre war das inzwischen her. Bereits nach kurzer Zeit war deutlich geworden, dass der geistliche Teil der Kirche nicht der Ort war, an dem der junge Baldric sein Leben würde verbringen können. Zwar war er, am Hofe seines Vaters im wahren Glauben erzogen, willfährig den Lehren des Herrn gefolgt. Auch mit der Disziplin kam er für einen sonst so unsteten Jungen gut zurecht, nachdem einige ebenso empfindliche wie lehrreiche Bestrafungen erfolgt waren. Er begehrte nie gegen Vorgesetzte auf und nahm die Strafen für Vergehen, die fast immer aus seinem Jähzorn heraus entstanden, nie aus Aufsässigkeit, ohne zu murren hin.

Doch eben dieser Zorn war es, gegen den weder Disziplin noch Gebet half, und der letztendlich zu seinem Ausscheiden aus der Kirche führte. Er war aggressiv und streitlustig, wie so viele Jungen, aber er war größer und stärker als die meisten anderen Initianten. Außergewöhnlich kräftig, brutal und leicht zu einer Wut entflammbar, die ihresgleichen suchte. Die Raufereien, an denen er beteiligt war, pflegten nur selten so zu enden, wie es unter Kindern für gewöhnlich der Fall war.

Allzu oft hatte einer der kleinen Kombattanten mehr als nur ein paar Schrammen, Prellungen und blaue Flecke zu beklagen. Mehr als einmal war ein gebrochener Knochen im Spiel. Einmal, das letzte Mal, hatte es einen anderen Novizen sogar ein Auge gekostet.

Bei der Sache mit dem schwer verletzten Jungen war Baldric erst elf Jahre alt gewesen. Die Kirche hatte ihn nach diesem Zwischenfall als nicht mehr tragbar angesehen, was ihr kaum jemand verübeln konnte. So war er der jüngste Anwärter, den der Templerorden je aufgenommen hatte.

Lag das Mindestalter für die Aufnahme im Orden bei dreizehn Jahren, fiel Baldric trotz der zwei Lenzen zu wenig nicht weiter auf. Sowohl sein Körperbau als auch sein Gebaren entsprachen dem eines älteren Kindes. Und wenn es ihm an einem nicht mangelte, dann an Durchsetzungsvermögen unter Gleichaltrigen. Der Eintritt in den Orden war nicht nur der Beginn einer nahezu beispielhaften Karriere, er rettete ihm auch das Leben.

Das erfuhr er freilich erst viele Jahre später. Zu diesem Zeitpunkt waren ihm die Hintergründe, wie alle anderen weltlichen Belange, längst gleichgültig geworden. Baldric von Dunstan, der einfaches weißes Leinen und geschnürte Lederstiefel trug, während durch eine unbedeutende Grenzburg des Ordens schritt, war der Sohn des Barons Eadred III von Dunstan. Land und Titel der in der Nordmark gelegenen Baronie gehörten heute seinem acht Jahre jüngeren Halbbruder. Die fehlenden Jahre in der Erbfolge glich dieser dadurch aus, dass er reinen Blutes war und keinem außerehelichen Fehltritt entstammte.

Der alte Baron war etwa zu der Zeit von Baldrics Eintritt in den Orden gestorben. Mit der ungewöhnlichen Regelung, den ältesten Sohn der Kirche zu überantworten, waren Baldric zwei Dinge erspart geblieben. Zum einen der in gewisser Weise klangvolle, aber wenig schmeichelhafte Titel Baldric der Bastard, zum anderen ein früher Tod. Legitimierte uneheliche Sprosse kamen in den Kreisen des Adels immer wieder vor. Eadred hatte denn auch keine Sekunde gezögert, Baldric als seinen Sohn anzuerkennen. Zu dringend war die Notwendigkeit für einen Erben. Im mittleren Adel gehörte derlei auch im Grunde zum Tagesgeschäft und war kaum mit einem Skandal behaftet. Erklomm man erst den Rang eines Grafen oder gar den eines Herzogs, waren solche Dinge schon heikler. Ein Bastard als ältester Sohn war auf der anderen Seite nie besonders gern gesehen, war er doch nach der Legitimation dem Kronrecht zufolge uneingeschränkt erbberechtigt. Natürlich widerrief der Tod jedes Recht. Manche Gerichtsbarkeiten waren unantastbar, ob unter einfachen Bauern oder hohen Herren.

Den Baron kümmerte all das wenig. Für ihn zählte nur, dass die Geburt Baldrics ihn aus der peinlichen Situation erlöste, im Alter von vierzig Jahren noch immer kinderlos zu sein. Das war ungewöhnlich für einen verheirateten Mann, dem überdies zahllose Liebschaften nachgesagt wurden. Kenner des Hofes von Eadred verwunderte diese Tatsache freilich nicht.

Zum einen war seine attraktive Gattin in den Jahren ihrer Ehe so gut wie unberührt geblieben. Jedenfalls von ihrem Gatten. Zum anderen fanden seine Affären ausnahmslos mit Personen männlichen Geschlechtes statt. Ebenso blutjungen Alters, wie die Gemahlin es bei der Hochzeit gewesen war, verstand sich. Durchaus auch zumeist ansehnlich, aber eben dem Gesetz der Natur nach unfähig, auch nur einen Bastard als Nachfolger zustande zu bringen.

Und doch, in einer durchzechten Nacht, an die der Baron sich später nach eigener Aussage nicht einmal erinnerte, musste es passiert sein. Irgendwie hatte sich sein alter, treuloser Schwanz im Laufe einer der Orgien, die er regelmäßig abzuhalten pflegte, verirrt. Es gab amüsierte und mehr oder weniger diskrete Zeugen, und spätestens nach der Geburt des Kindes war jeder Zweifel dahin. Die Mutter Baldrics war nicht etwa die obligatorische Schankmaid, sondern die Cousine von einem Ritter Eadreds. Besagter Recke war denn auch schlau genug, der betreffenden Dame in seinem Haushalt Unterkunft und Schutz zu gewähren, bis die Niederkunft stattgefunden hatte. Im regen Treiben auf der Burg passierten einfach zu leicht Unfälle. Während die Mutter schwarzes Haar und dunkle Augen hatte, war Baldric mit weißblondem Flaum auf dem Kopf zur Welt gekommen. Die Augen so blau, wie der Sommerhimmel vor dem Grau gewesen sein mochte. Mit anderen Worten, er hatte das typische Aussehen eines männlichen Dunstan.

Eadred III legitimierte den kleinen Bastard ohne viel Federlesen. Von dem erbosten Gezeter seiner Gemahlin zeigte er sich gänzlich unbeeindruckt. Der Junge war nun einmal offensichtlich sein Sohn. Es wurde dringend ein Erbe gebraucht und wer die Mutter war, spielte im Grunde keine Rolle. Jedenfalls nicht für Eadred. Frauen waren ohnehin ein Gräuel, die eine wie die andere. Wie es der Lady von Dunstan im Laufe der folgenden Jahre gelungen sein mochte, den Geschlechtsakt mit ihrem Gatten doch noch einige Male zu vollziehen, war nicht bekannt. Eadred war ein ausschweifender, zügelloser und versoffener Mann. Vielleicht hatte das, was einmal unbeabsichtigterweise funktioniert hatte, es auch ein zweites Mal getan. Eine Menge Alkohol und ein dieses Mal absichtlich in die Irre geführter Schwanz waren das naheliegendste Szenario.

In jedem Fall kam acht Jahre nach der Geburt Baldrics der zweite Sohn des Barons zur Welt. Zum Glück für seine Mutter ebenso blond und blauäugig wie der alte Eadred. Kein Bastard zwar, aber eben acht Jahre zu spät. Da der Junge als einziger Abkömmling reinen Blutes nun schon nicht den Titel erben konnte, bekam er wenigstens Eadreds Namen und wurde damit der vierte Träger desselben. Als solcher erblickte er das Licht der Welt und läutete damit einen ehelichen Krieg ein.

Nach Monaten des Zankes, der Drohungen und Intrigen, kam Eadred zu der Einsicht, dass ihm zwei Möglichkeiten blieben. Entweder, etwas in dieser Sache zu unternehmen oder ein frühes Ende zu riskieren. Ein bitterer Geschmack im Wein, ein Dolch unter dem Hemd eines Liebhabers, es gab der Gelegenheiten viele. Er zweifelte am Ende nicht daran, dass seine Gemahlin zu derartigen Mitteln bereit war. Ebenso war ihm bewusst, wie gut ihre Chancen standen, unbeschadet damit durchzukommen. Er war sich darüber im Klaren, dass außer einigen Bettgespielen niemand eine Träne über sein Ableben vergießen würde. Mit anderen Worten, die Lady von Dunstan hatte ihm glaubhaft gemacht, dass nach den Jahrzehnten der Erniedrigung das Maß voll war. Faul und kraftlos, wie er war, kümmerte es ihn im Grunde auch nicht, welcher Sohn ihm später auf den Thron folgte. Er wählte also, getreu seinem Naturell, den einfachsten und am bequemsten gangbaren Weg.

Baldric wurde ins Noviziat der Kirche geschickt, für einen ältesten Nachkommen eine ungewöhnliche Vorgehensweise, aber eine im Rahmen des königlichen Rechtes. Es war, obschon meist im Falle jüngerer Söhne, eine gängige Praxis, das eine oder andere Kind der Kirche oder dem Orden zu überantworten. In Baldrics Alter, er war damals keine neun Jahre alt, war dieser Eintritt allerdings nur bedingt bindend, wie sein Vater sehr wohl bedacht hatte. Faul und feige mochte der alte Eadred gewesen sein, bequem und schwach ebenso, dumm jedoch ganz gewiss nicht. Ein Novize wurde im Alter von zwölf Jahren vor die Wahl gestellt, Profess abzulegen und in den Stand eines Diakons erhoben zu werden, oder aber die Kirche zu verlassen. Und selbst danach war es noch möglich, dem Dienst im Namen des Herrn den Rücken zu kehren. Somit war Baldric aus dem Blickfeld und Einflussbereich der Baronin verschwunden, blieb Eadred jedoch als möglicher Erbe erhalten. Nur für den Fall, dass dem kleinen Eadred IV etwas zustoßen mochte.

Dann aber war der Baron plötzlich gestorben. Gelbfieber sagten die Quacksalber. Unter den Menschen bei Hofe gab es unterschiedliche Meinungen. Er habe sich die Leber schließlich doch zu Brei gesoffen, meinten die einen. Die Gedärme des Alten seien nach den vielen Lustknaben ganz einfach kaputtgevögelt gewesen, mutmaßten die anderen.

Wie sich der Tod des Barons auch zugetragen haben mochte, brachte sein Ableben der Baronin sowohl Freude wie Sorge. Zum einen war ihr leibliches Kind nun der rechtmäßige Titelträger des Baronates von Dunstan. Auf der anderen Seite hatte sie unter diesen Umständen erneut Grund, Baldrics Anspruch zu fürchten. Der Junge entging jedoch möglicher Intrige und Verfolgung durch seine Eskapaden und dem daraus folgenden, nicht ganz freiwilligen, Eintritt in die Reihen der Templer.

Im Gegensatz zu den großzügigen Regelungen des Kirchendienstes war der Ordenseid bindend bis zum Tode. Im Orden spielte es keine Rolle, wer man war oder woher man kam, ob ehelich geboren oder als Bastard. Man war Anwärter, Halbbruder, Ritterbruder, und wenn man aufrecht und tapfer diente, vielleicht eines Tages Marschall, oder gar Landmeister einer der Marken.

Baldric erfuhr erst Jahre später von der Entwicklung in Dunstan, als für ihn längst nur noch die Belange innerhalb des Ordens zählten. Er legte weder Wert auf Kontakt zu seiner leiblichen Mutter noch zum Rest der Blutsverwandtschaft oder irgendwelche Adelstitel. Seine Familie war die Bruderschaft.

Auch hier war er zu Beginn ob seines bösartigen Temperamentes hin und wieder angeeckt. Trotzdem hatte er von Anfang an gespürt, dass der Orden der Ort war, an den er gehörte. Zwar hatte seine Gelehrsamkeit hier nicht mehr so viel Gewicht, dafür aber war sein Jähzorn nicht so fatal wie in der gewaltfreien Gesellschaft der Kirche. Natürlich wurde auch hier die Fortbildung des Geistes weitergeführt. Das Hauptaugenmerk lag jedoch auf dem physischen Training. Wie sich zeigte, war das erbarmungslose und oft brutale Kampftraining genau das, was der junge Baldric brauchte. Durch die völlige Verausgabung, die eiserne Disziplin innerhalb des Ordens und die kompromisslose Härte der Ausbilder lernte er zum ersten Mal im Leben, seinen Jähzorn zu beherrschen. Schmerz und Erniedrigung stachelten ihn an und schliffen ihn. Das Training gab ihm die Möglichkeit, seinen inneren Dämon zu zähmen. Diesen unbändigen Zorn kontrollieren zu lernen, um ihn dann im Kampf gezielt gegen den Gegner zu lenken, war eine wunderbare Erfahrung.

Baldric entwickelte sich mit der Zeit zu einem Beispiel an Hingabe und Tapferkeit für seine Brüder. Er trainierte härter als jeder andere und nahm an mehr Messen und Gebeten teil, als von ihm erwartet wurde. Er unterwarf sich bedingungslos, ja beinahe begeistert, dem Reglement des Ordens. Instinktiv spürte er, dass er diese Dogmen brauchte, um seinem Leben Struktur zu geben. Nur so kam er mit sich selbst zurecht. Im Laufe der Jahre verschwand das jähzornige und gewalttätige Kind. Aus ihm wurde ein disziplinierter junger Mann von gewaltiger Kraft und mit einem hellen Kopf. Ein Ordensbruder von der Sorte, der im Kampf einen heiligen Zorn entwickelte konnte. Aber auch einer, der ein respektables Mitglied der verschworenen Gemeinschaft von Kameraden war.

Mit sechzehn Jahren wurde er zum Halbbruder ernannt und in das Ordenshauptquartier Wachtstein nahe der Hauptstadt des Reiches versetzt. Dort wurden unter anderem die vielversprechendsten jungen Männer ausgebildet, über die der Orden verfügte. Es war die Schmiede für die Elite der Templer und der Sitz des Hochmeisters selbst. Die mächtige Ordensburg bildete, mit dem Schloss des Königs an der Grenze der Stadt und dem großen Tempel des Lichtbringers im Stadtinneren, das Dreigestirn der Macht des Reiches. Diese Zeit war eine zwiespältige für Baldric, eine Epoche seines Lebens, die er heute zumeist zu verdrängen suchte. Sie lehrte ihn etwas über sich selbst, das er wissen musste, um weiterleben zu können, und sie kostete ihn fast alles.

Wie zuvor erregten seine Tugenden die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten. Er arbeitete nach wie vor hart, gleichermaßen an Körper und Geist. Das physische Training war wichtig, weil es ihn erschöpfte und ihm überschüssige Kraft nahm. Aber auch die geistige Lehre war hilfreich, denn sie trainierte Selbstbeherrschung und Geduld. Dass die glühende Hingabe des jungen Mannes nur persönlichen Notwendigkeiten entsprach, ahnte außer ihm selbst niemand. Ebenso verstand er es, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem spirituellen Teil der Ordensideologie zu verbergen. Religion an sich bedeute ihm schon damals nichts. Er fügte sich der Obrigkeit einzig aus dem Grund, dass diese Fügsamkeit der Preis für die Ordnung in seinem Leben war. Baldric hatte schon früh erkannt, dass er, auf sich allein gestellt, nicht in der Welt zurechtkommen würde.

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9783738030112
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