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Die neue Umgebung barg jedoch auch Gefahren. Für ihn negative Einflüsse, vor denen ihn der Schutz von Kirche und Orden bis dahin bewahrt hatte. Wachtstein lag nur wenig außerhalb der Stadt und die Ordensbrüder verfügten über ein bescheidenes Maß an Freizeit. Für den jungen Baldric bedeutete das zum ersten Mal in seinem Leben ein anderes soziales Umfeld, als das klosterartige Dasein in Kirche und Orden. Es bedeute auch zum ersten Mal seit seiner frühen Kindheit den Umgang mit Frauen und Kindern. Hier offenbarte sich ihm bald, dass neben seinem Jähzorn offenbar noch ein weiterer Dämon in ihm wohnte. Es mochte auch eine Spielart desselben sein, die hier erstmals zutage trat, weil sich die Gelegenheit dazu bot.

Für Mitglieder des Ordens bis zum Range des Halbbruders war es nicht ungewöhnlich oder gar verboten, gelegentliche sexuelle Kontakte zu pflegen. Die Unterdrückung des geschlechtlichen Triebes hatte in der militärischen Ausbildung junger Männer eine lange Tradition. Daher wusste man aber auch, dass eine völlige Enthaltsamkeit langfristig doch zu Problemen führte. So war es geduldet, wenn die jüngeren Brüder sich ab und an ein wenig austobten. Eine Möglichkeit, von der natürlich gerne und reichlich gebraucht gemacht wurde.

Einige Kameraden hatten Baldric zu seinem siebzehnten Geburtstag mit einem Besuch in einem der Freudenhäuser der Stadt überrascht. In seiner Jugend im Orden hatte er noch kumpelhafte Freunde. Später lernte er, zu allen Menschen eine gewisse Distanz aufzubauen. In den Jahren nach der Sache in Wachtstein brachte er sich selbst bei, eine Maske über sein wahres Wesen zu ziehen. Dieses Ding zu verbergen, das ihn auf so mannigfaltige Art und Weise in Schwierigkeiten zu bringen vermochte.

Baldric war im Umgang mit Frauen unerfahren, aber nicht sonderlich ängstlich. Er merkte früh, dass die Weiblichkeit ihn anziehend fand, ohne dieser Tatsache viel Aufmerksamkeit zu schenken. Auch war sich bewusst, dass er größer, stärker und damit wohl attraktiver war als die meisten der Mitbrüder. An diesem Tag erfuhr er zum ersten Mal im Leben echte Lust und erkannte zugleich, was Lust für seinen Dämon bedeutete.

Das Freudenmädchen, das er sich hatte aussuchen dürfen, war dreizehn Jahre alt gewesen. Ein kleines, mageres Ding mit großen braunen Augen, halblangem dunkelblondem Haar und einem beinahe knabenhaften Körper. Sie hatte jünger gewirkt, als sie war, kindlich und sehr verletzlich. Das alles hatte ihn tief in seinem Inneren berührt und zu ihr hingezogen.

Der Baldric der Gegenwart, über einsneunzig groß und fast zweihundert Pfund schwer, durchschritt eine mit Eisen beschlagene Tür aus dunklem, grob gemasertem Holz. Er trat auf einen der Wehrgänge hinaus in die kühle, graue Luft und legte die Handflächen auf den Stein der Außenmauer. Er fühlte, wie die raue Oberfläche hart und kalt unter seinen Händen lag. Ganz so, wie es das Mädchen damals glatt und warm getan hatte. Am Anfang jedenfalls. Diese viele Jahre zurückliegende Nacht war sowohl eine Katastrophe wie eine Befreiung gewesen. Beinahe sein Ende und doch in gewisser Weise ein Neuanfang.

Als es vorbei war und man sie wegschaffte, hätte vermutlich nicht einmal ihre Mutter sie noch erkannt. Baldric hatte es nur seinem Potential und dem bis zu diesem Tage hohen Ansehen bei den Oberen zu verdanken, dass er nicht nur im Leben, sondern auch im Orden verblieb. Seine kurze aber prägnante Zeit in Wachtstein, im Machtzentrum von Orden und Reich, war allerdings vorbei gewesen. Er war, nur wenige Tage, nachdem man die von ihm verursachte Schweinerei beseitigt und die Mäuler der Zeugen gestopft hatte, hierher in die Ostmark versetzt worden.

Diese galt damals wie heute als der unruhigste und gefährlichste Teil des Reiches. Besonders die östlichen Grenzlande, in denen Baldric sich nun seit über zehn Jahren befand, wurden ihrem Ruf vollauf gerecht. Das Königreich war in den Wirren der Zeit nach dem Grau nicht auseinandergebrochen, doch hatten sich einige Teile des Landes nur langsam und schwerlich von den Veränderungen erholt. In der Ostmark war das am weitläufigsten der Fall gewesen.

Das Grenzland war nach den ersten Unruhen im Grunde genommen Niemandsland. Dann hatte sich der Orden der Landstriche angenommen, um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Steppenkriege gegen die Goyaren, einem wilden, halbmenschlichen Volk aus den Weiten des Ostens jenseits des Reiches, waren Jahrhunderte her. Ganz vergessen war die Angst vor einer fremden Horde hierzulande jedoch nie. Dabei spielte es keine Rolle, dass seit Generationen kein Zeichen von Leben mehr aus östlicher Richtung gekommen war. Noch immer hielt der Orden diese Grenze, obgleich der jetzige Herzog die Ordnung im westlichen Teil der Mark längst wiederhergestellt hatte. Boden, in den das Blut ihrer Brüder geflossen war, gaben die Templer so leicht nicht wieder auf.

Baldric ließ seinen Blick über die Zinnen von Moorwacht und den von kleinen Waldstücken unterbrochenen Horizont schweifen. Die Umrisse der Bäume zeichneten sich in dem feinen Nebel ab, der die Welt in einiger Entfernung in einen geisterhaften Schleier hüllte. Er hatte im Laufe der Jahre in vielen Ordensburgen der Ostgrenze gedient. Hatte bei Niederschlagungen von unbedeutenden Bauernaufständen im Süden ebenso gekämpft, wie bei den Jagden gegen die Banden von Gesetzlosen in den bewaldeten Gebieten im Norden. An zwei Expeditionen hinter die Grenze in die östlich liegende Tundra, denn dazu war die Steppe nach dem Grau geworden, hatte er teilgenommen. Eine trostlose, leere Landschaft war das, ohne eine Spur von Leben außer ein paar Vögeln und kleinem Pelzgetier. Die Tage der großen Unruhen gehörten der Vergangenheit an.

Das schlimmste Chaos und Elend an Krieg, Hungersnot und Krankheiten war vor seiner Zeit vorbei gewesen. Aber es war immer noch die Ostmark, in der man sich einen Namen machen konnte, wenn man überlebte. Und das hatte er getan. Darin war er gut. Er war am Leben geblieben und seinen verbotenen, in den Augen der Welt abartigen Bedürfnissen selten und diskret nachgegangen. Meistens jedenfalls, nachdem er einige weitere Dinge gelernt hatte.

Diese magere, dreizehn Jahre alte Hure hatte er nie vergessen. Der Abend war heute nicht mehr, als eine verschwommene Erinnerung an einen Rausch aus Bildern und Gefühlen. Und doch hatten sich die Details ihres Zusammenseins unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Ihre großen, dunklen Augen, die ihn ansahen, als er sich entkleidete. Sie hatte gelächelt, zum einen wohl, weil sie wusste, dass es sein erstes Mal sein würde. Aber auch, weil sie ihren Körper erst seit kurzem verkaufte, und daher an einem so stattlichen Burschen noch selbst Freude haben konnte. Die Beschaffenheit ihres Haares, der Geschmack ihrer Haut und ihres Schweißes. Dann das Geräusch des Stöhnens, das irgendwann in erstickte Schreie übergegangen war. Erst voll von ihrer Lust, dann voll von Schmerz und Grauen, als er die Seine befriedigte. Oder die seines Dämons, falls es diesen Unterschied gab. Das Gefühl, wie sie unter ihm brach, unter ihm zuckte, unter ihm verging. Die, wenn auch nur kurze, Geborgenheit durch die Wärme und den Geschmack ihres Blutes. Sie war bis zum heutigen Tage die älteste Frau geblieben, die ihn je wirklich erregt hatte. In der Nacht, in der er sie tötete, setzte sich etwas Essentielles in ihm frei.

Wenn er heute darüber nachdachte, konnte er sich glücklich schätzen, die Lektion mit einer kleinen Hure gelernt zu haben. Die konnte man zumindest ohne großen Aufwand verschwinden lassen und die Spuren mit ein wenig Geld verwischen. Unter anderen Umständen wäre diese Erfahrung eine seiner Letzten gewesen, Ordensbruder oder nicht.

Zunächst hatte er in den darauffolgenden Jahren versucht, sich mit älteren Frauen zu treffen. Die Grenzterritorien der Ostmark waren nur spärlich besiedelt, und die Stützpunkte des Ordens lagen meist weitab der größeren Ortschaften. Es gab allerdings hier und da Dirnen, und auch die eine oder andere Bauersfrau war in diesen schweren Zeiten bereit, einem für ein wenig Nahrung zu Willen zu sein. Zwar mochte der Hungertod für viele Menschen nur noch ein Schreckgespenst sein, doch hatte es in den östlichen Grenzlanden nach wie vor ungleich schärfere Klauen und Zähne als im Inneren des Reiches.

So hatte Baldric damals versucht, seine Bedürfnisse mit der herkömmlichen Form der geschlechtlichen Zerstreuung zu befriedigen. Umsonst, wie er bald hatte feststellen müssen. Sein Trieb war gleichbedeutend mit seinem Dämon, und dieser wollte Blut. Junges Blut, Angst und Schmerz und Verzweiflung. Vielleicht war es das gleiche Ding, das ihn als Kind dazu gebracht hatte, diesem Novizen so lange ins Gesicht zu treten, bis man ihn von ihm wegzerrte. Der Junge verlor sein linkes Auge und blieb auf dem Rechten fast blind. Baldric erinnerte sich mit einer Art klaren Distanziertheit an den Vorfall. Er konnte beinahe das Wimmern hören, den dumpfen Schmerz in seinem Fuß spüren, durch den Stiefel hindurch, wie er immer wieder zutrat. Er trat nicht mit aller Kraft zu, das hätte sein Opfer nach wenigen Tritten getötet. Er traf den Kopf nur hart genug, dass der andere Junge blutete und schrie, bis sein Gesicht nur noch ein blutiger Brei war. Hatte ihn das erregt? Vermutlich nicht, schließlich war er kaum mehr als zehn Jahre alt gewesen.

Aber auch diese spezielle Lust ließ sich befriedigen. Der immer drängender werdende, schreckliche Druck, ließ sich von ihm nehmen. Hier draußen war vieles leichter als anderswo. Das eine oder andere vermisste Mädchen fiel in Tagen wie diesen kaum auf. Die Kleinen verschwanden, starben, hatten Unfälle. Letztendlich war ein verschwundenes Kind für manche arme Seele nur ein hungriges Maul weniger, das es zu stopfen galt. Darüber hinaus war er, nachdem er einige Erfahrungen gesammelt hatte, überaus vorsichtig. Mit älteren Frauen traf er sich nicht mehr, was angesichts seiner Stellung im Orden kein Aufsehen erregte. Es war zwar kein Zölibat vorgeschrieben, aber von einem vollwertigen Ritterbruder erwartete man einen gewissen Anstand. Wurde schon keine Enthaltsamkeit geübt, so war doch ein hohes Maß an Diskretion angebracht. Baldric hatte es freilich zu einem Meister dieses Faches gebracht, wenn auch auf andere Art und Weise, als viele glauben mochten. Waren seine Gründe doch schwerwiegender, als bei einem normalen Mann mit gewöhnlichen Gelüsten.

Baldrics sonstiges Verhalten war tadellos und beispielhaft. Er war diszipliniert, fleißig und unermüdlich im Training wie in den Besuchen der Messe. Darin war er all die Jahre über beständig gewesen, weil er es sein musste. Dabei war er trotz der freundlichen Distanz, die er zu jedermann hielt, nicht unbeliebt, ganz im Gegenteil. Er galt als introvertiert und über die Maßen pflichtbewusst, aber auch als zuverlässig und hilfsbereit. Der Humor, dessen er sich befleißigte, war oft zynisch und kaltschnäuzig, passte aber durchaus zu seinem Wesen und kam daher bei vielen Brüdern an. Er schien stets unnahbar, ohne dabei arrogant zu wirken.

In den Kämpfen, die er geschlagen hatte, hatte er einen Mut unter Beweis gestellt, der an Kühnheit grenzte. Diese Tapferkeit brachte ihm auch bei denen Respekt ein, die von seinem Auftreten und Zynismus irritiert waren. Selbst die Kameraden, die keinerlei Sympathien für ihn hegten, achteten ihn.

Das war letztendlich der Grund, warum Baldric von Dunstan nun der dritte Marschall der Ostmark war. Die Ranggenossen Gregor Stoinok und Ladislaus Koranov stammten beide aus der Ostmark, wie die meisten Männer, die hier ihren Dienst versahen. Ersterer hatte ihn für den Titel vorgeschlagen, nachdem sein Vorgänger vor Kurzem betagt gestorben war. Die große Mehrheit, mit der er daraufhin von seinen Brüdern gewählt worden war, hatte niemanden überrascht. Ihn trennten zehn Jahre zu den anderen beiden Marschällen und fünfundzwanzig zum Landmeister Jarek Zdravko. Dennoch genoss er den Respekt der Älteren.

Seine Position war in gleichem Maße gefestigt, wie hart erarbeitet. Alles verlief in wohl strukturierten Bahnen, so wie er es mochte, so wie er es brauchte. Seine Augen ruhten auf einem Wäldchen, das in der Richtung lag, in die er morgen früh aufbrechen würde. Hinter den Bäumen, im Nebel verborgen, folgten ein paar Landmeilen Grasland. Später wandelte sich die Landschaft im Norden zum Moorland und im Süden zu einem weitläufigen, spärlich bewachsenen Landstrich. Gen Osten begann nach einem weiteren Streifen Waldland die Tundra, wo bald die Reichsgrenze verlief.

An und in dem dünn bewaldeten Gebiet lagen einige Grenzdörfer, die letzten Siedlungen in diesem Teil des Reiches. Zwei von ihnen hatten bereits vor Wochen ihre jährlichen Abgaben liefern sollen.

Der Orden war als Gegenleistung für die Grenzsicherung dazu berechtigt, die örtliche Bevölkerung zu besteuern. Dabei war er konsequent, aber nicht sonderlich gierig. Man verlangte den ärmlichen Dörfern lediglich ein zehnt der Nahrungsproduktion ab. Das war auch in harten Jahren zu bewältigen und sorgte für wenig Unmut bei den Bauern. Nur ab und an, vielleicht einmal in einer Dekade und nach einer besonders schlechten Ernte, musste man das eine oder andere Dorf daran erinnern, dass Hunger im Vergleich zum Zorn Gottes, oder dem seiner Diener, das kleinere Übel war.

In der Regel liefen diese Dinge jedoch reibungslos ab und die Dörfler lieferten brav ihre Abgaben, wenn es an der Zeit war. Für gewöhnlich kam allerdings auch Landvolk, das man zum Auskundschaften ins Hinterland schickte, zur Burg zurück. Nicht so in diesem Fall. Zwei Dörfer hatten die Woche, in der sie ihre Steuern abzuliefern waren, um fast einen Monat verstreichen lassen. Eine weitere Woche später hatte man einige zivile Kundschafter geschickt, wie üblich junge Burschen aus dem Umfeld der Ordensburg. Ab und an irrten sich die Dörfler schlichtweg in der Abgabezeit, oder erlitten auf dem Weg einen Unfall. Auch eine Plünderung durch gesetzlose Banden lag zumindest im Bereich des Möglichen. Seitdem man die beiden kleinen Gruppen von Spähern ausgesandt hatte, gab es weder von ihnen noch jemand anderem aus dem Osten ein Lebenszeichen. Damit war es an der Zeit zu handeln. Es würde nicht bei den paar Brüdern bleiben, die man für gewöhnlich zunächst losschickte, um solche Dinge zu untersuchen. Die Tatsache, dass sowohl zwei Dörfer zur gleichen Zeit abgeschnitten zu sein schienen, gab ebenso Anlass zur Besorgnis, wie das offensichtliche Verschwinden der ausgesandten Späher.

Baldrics erste Amtshandlung als Marschall würde die Klärung dieser Situation sein. Dafür standen ihm ab dem morgigen Tage zwei Lanzen Reiterei, eine Lanze Kundschafter sowie vier Trupps Infanterie zur Verfügung. Dazu ein Tross bestehend aus sechs großen Wagen nebst Proviant und Ausrüstung. Alles in allem mehr als achtzig Brüder und zwei Dutzend Gefolgsleute, die bis zum Ende der Mission unter seinem Befehl stehen würden.

Er sog die kühle, nachmittägliche Herbstluft ein und schaute himmelwärts. Das diesige Grau war eine makellose Fläche. Ein klarer Tag, vermutlich einer der wenigen dieses Herbstes. Es war bereits sehr kalt, roch aber noch nicht nach Frost, was mit etwas Glück eine recht ertragreiche Ernte bedeutete. Trotz des verhältnismäßig kühlen Sommers versprach das Wetter außerdem einen späten Wintereinbruch. Was das anging, war die Natur seit dem Grau allerdings tückisch.

Er freute sich auf die bevorstehenden Tage. Überhaupt verspürte er zurzeit eine tiefe Zufriedenheit, was nicht zuletzt mit dem Erreichen des neuen Ranges zu tun hatte. Weiter als bis zum Marschall würde er es als Ausländer in der Ostmark und mit dem dunklen Fleck auf seiner Vergangenheit nicht bringen können. Aber das war so in Ordnung. Man hatte ihm damals deutlich zu verstehen gegeben, dass er außerhalb der Ostmark nie wieder einen Ordensrang bekleiden würde. Vielleicht war das auch das Beste für ihn. Der betagte, fettleibige Landmeister, dem er nun direkt unterstand, war natürlich eine Sache für sich. Aber selbst wenn der Alte ihm nie Sympathie entgegengebracht hatte, achtete er seine Tapferkeit und Zuverlässigkeit.

Im Stillen war Baldric sicher, dass die Abneigung Zdravkos nur daher rührte, dass er über die Vorgänge vor all den Jahren in Stennward informiert war. Falls der Mann detaillierte Berichte darüber hatte, was damals vorgefallen war, konnte man ihm ein gewisses Misstrauen kaum verdenken.

Das Einzige, was den jungen Marschall an seinem Leben in der Ostmark betrübte, waren die langen Phasen der Untätigkeit. Das Training half, aber es reichte nicht, egal wie erbarmungslos er seinen Körper verausgabte. Er absolvierte nicht grundlos nach wie vor ein Trainingspensum, das einem ehrgeizigen Anwärter zur Ehre gereicht hätte, der halb so alt war wie er. Er musste sich physisch erschöpfen, um ein Mindestmaß an Ausgeglichenheit aufrecht zu halten. Nervosität und Unruhe fütterten seinen Dämon.

Der letzte richtige Kampf lag noch länger zurück als das letzte Mädchen, und so war er dankbar für die vor ihm liegende Aufgabe. Mit einer Truppe zu reisen war gut. Sich Gefahren und Unannehmlichkeiten auszusetzen, war sogar noch besser. Das höchstwahrscheinlich folgende Blutvergießen würde Balsam für seine Nerven sein. Was auch immer in den Dörfern geschehen war, irgendjemand würde bluten müssen. Dafür würde er notfalls sorgen. Der Orden hatte in diesem Teil des Reiches die Rechtsprechung inne, und nach dem Ordensrecht war jeder, der Kirche oder Orden schadete, als Ketzer zu behandeln. Ob es sich dabei um einen Gesetzlosen handelte, der eine Kapelle überfiel, oder um einen Bauern, der die Abgaben verweigerte, spielte keine Rolle.

Eine Schlacht oder ein Mädchen, für Baldric machte das vom Prinzip her kaum einen Unterschied. Beides bedeutete das ab und an so dringend benötigte Blutvergießen. Die Sonne war hinter dem allgegenwärtigen Grau des Himmels verborgen. Für die meisten Menschen nur noch ein halb vergessener Traum, so wanderte sie langsam dem Horizont entgegen. Es wurde bereits allmählich wieder dunkler. Der hünenhafte Ordensmarschall legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

Der Wind spielte in seinen langen, goldenen Haaren, die zu einem losen Zopf geflochten waren und bisher keine Spur von Grau zeigten. Er stand noch eine gute halbe Stunde so im schwindenden Tageslicht da und lächelte.

Kapitel 4

Dedra

»Das sieht genauso aus wie der Baumstumpf, an dem wir schon vorhin vorbeigekommen sind. Ich will endlich nach Hause.«

Die Stimme war leise und schien aus einiger Entfernung zu kommen. Sie war jedoch deutlich genug zu hören, dass sie den zugleich quengeligen und besorgten Unterton darin erkennen konnte.

Dedra, die sich soeben langsam und ächzend aufgerichtet hatte, stützte sich mit der Linken an einen Baum und drehte den Kopf. Ihr alter Körper ließ sie heute wieder für jedes Stück Kraut und jeden Pilz, den sie vom Waldboden klaubte, teuer bezahlen. Sie streckte vorsichtig den leise knackenden Rücken und lauschte dabei in den Wald hinein, der sie zu allen Seiten hin umgab. Ihre Kniegelenke und Hüften fühlten sich nach einigen Stunden der Kräutersuche an, als hätte jemand Nägel hineingeschlagen. Sorgfältig zog sie den Riemen der Kräutertasche fester um die Schulter. Es war bereits Nachmittag und sie war schon seit einer Weile wieder auf dem Heimweg zu ihrer Hütte. Noch aber befand sie sich in einem dichtbewachsenen Teil des Waldes, in dem sie seit Jahrzehnten keine Fremden mehr getroffen hatte.

Hier gab es nichts, das irgendjemanden interessieren mochte und es war leicht, sich zwischen den alten Bäumen zu verirren. Sie vermutete, dass der oder die Besitzer der Stimmen, die nun leise an ihre Ohren drangen, genau das getan hatten. Sie ging behutsam in die Richtung, in der sie die ungebetenen Gäste zur hören glaubte. Hohe, verwitterte Birken zogen sich hier in einem etwa hundert Metern breiten Streifen auf fast zwei Landmeilen entlang. Ansonsten bestand dieser Teil des Waldes aus Pinien, Buchen und einigen Ahornbäumen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Stimmen erneut hörte. Diesmal etwas lauter und eindeutig die von Kindern.

»Ich weiß genau, dass wir da schon waren, der Baumstumpf hatte zwei Äste«, beharrte Clara quengelnd. Ihr Bruder merkte, dass sie schon wieder den Tränen nahe war. Thomas hatte selbst Angst, große Angst sogar, vor allem seit er die verendeten Tiere gesehen hatte. Es gab viel zu viele tote Eichhörnchen in diesem Wald. Am meisten aber hatten ihn die beiden Rehe beunruhigt, an denen sie vor einiger Zeit vorbeigekommen waren. Er wusste, wie das in der Natur war, dass manche Tiere andere töteten, um zu essen. Aber die aßen dann eben auch. Dass die Tiere totgebissen herumlagen und verwesten, weil sie niemand fressen wollte, war ganz sicher nicht in Ordnung. Thomas war aber auch zwei älter als die kleine Schwester und damit fast erwachsen. Das hieß, dass er auf sie aufpassen musste. Schließlich war sie gerade erst sechs Jahre alt geworden.

»Ich glaube dir ja«, erwiderte er und versuchte seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Wir gehen jetzt weiter in diese Richtung, bis die Birken aufhören. Dann bleiben wir am Rand, bevor der Wald wieder dichter wird. Das hätten wir von Anfang an machen sollen, aber ich wusste doch auch nicht mehr, wo wir waren.«

»Du hast schon zweimal gesagt, dass wir bald wieder nach Hause finden. Ich habe Hunger und bin müde.«

»Ich habe auch Hunger, Clara, und ich möchte auch nach Hause. Komm jetzt, wenn wir uns streiten, machen wir alles nur noch schlimmer.«

Der Junge nahm die Hand seiner Schwester und nach einem kurzen Zögern folgte sie ihm und drückte seine Hand ganz fest.

»Das ist alles nur die Schuld vom dummen Boschi. Ich spiele nie wieder mit Boschi«, erklärte sie mit der inbrünstigen Entrüstung, zu der nur Kinder und religiöse Narren fähig waren.

Boschi war die Katze eines Nachbarn, die sie heute Morgen getroffen hatten. Nach dem Frühstück waren sie hinter dem am Rand des Dorfes stehenden Haus ihrer Familie zum Spielen gegangen. Ganz so, wie sie es an fast jedem Tag taten. Boschi war nicht jeden Tag da, sie war eine kleine Streunerseele, die dort herumlief, wo es ihr gefiel. Manchmal gefiel es ihr auch, wenn die Kinder mit ihr spielten. Wenn Käsestücke im Spiel waren, so wie heute Morgen, tat es das fast immer.

Thomas und Clara hatten mit Bändern und dem Käse, den der Junge beim Frühstück in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, mit dem Tier herumgetollt. Dabei waren sie immer weiter vom Haus weggelaufen. Sie spielten öfter am Waldrand, meist mit den anderen Kindern des Dorfes. In der Gegend um Flusswalde herum hatte man schon seit Jahrzehnten weder Wildschweine noch andere gefährliche Tiere gesehen. Der Wald galt weiter draußen als tückisch, war in Dorfnähe aber licht und harmlos.

Die Kinder bekamen eingeschärft, nie weiter wegzulaufen als bis dorthin, wo sie die letzten Häuser noch sehen konnten. Viele von ihnen hielten sich sogar meistens daran. Dieses Mal reichte das nicht.

Boschi hatte ziemlich genau zu der Zeit, als die letzten Käsekrumen gefressen waren, plötzlich keine Lust mehr zum Spielen gehabt. Da hatten die Kinder sich bereits zwischen den ersten Bäumen des Waldrandes am südlichen Ende von Flusswalde befunden. Die Katze, die sich selbstverständlich überall auskannte, war fortgesprungen und tiefer in den Wald gerannt. Beide waren ihr nachgelaufen, bis Thomas schließlich irgendwann stehengeblieben war und nach seiner Schwester gerufen hatte. Sie hatten eine Weile verschnauft, Boschi war natürlich längst weg gewesen, und sich dann auf den Heimweg gemacht. Zumindest hatten sie das versucht. Und sich wenig später verirrt.

Thomas hatte sein bestes getan, wieder aus dem immer dichter werdenden Wald herauszufinden. Aber auch wenn er ein aufgeweckter Junge war, blieb er nur ein Achtjähriger, der noch nie so weit von zu Hause entfernt gewesen war. Jedenfalls nicht ohne Begleitung und abseits der Straßen und Wege. In den Tagen des Grau konnte man sich nie sicher sein, wo genau sich die Sonne gerade befand. Das Tageslicht war eine tückische Angelegenheit geworden. Es war bei dem schummrigen Licht schon für Erwachsene schwer genug, sich in der Wildnis zu orientieren.

Die beiden Kinder waren Stunde und Stunde herumgeirrt und hatten sich dabei immer tiefer in den Wald hineinbewegt. Ohne es zu bemerkten, waren sie dabei weit nach Süden abgekommen. Das war einerseits schlecht gewesen, weil sich ihr Dorf im Norden befunden hatte. Es war aber auch ihr Glück gewesen, weil sie ebenso gut nach Westen oder Osten hätten laufen können. Und in diesen Himmelsrichtungen gab es auf Tage hin nur dichten und dunklen Wald.

Thomas warf seiner Schwester beim Gehen einen verstohlenen Blick zu. Sie hatte etwas Rotze unter der Nase, aber das sagte er ihr nicht. Wenn man seiner kleinen Schwester sagte, dass sie Rotze im Gesicht hatte, schämte sie sich oder wurde wütend. Oder beides. Dann würde sie wieder anfangen zu weinen, und das konnte er absolut nicht gebrauchen. Am liebsten hätte er sich selbst unter einen Baum gesetzt und geweint.

Es war kalt, ihre Stoffkleider waren inzwischen klamm und klebten an ihren Körpern. Er hatte schrecklichen Hunger und seine Beine schmerzten. Sie hatten aus ein paar Pfützen im Wald getrunken, aber irgendwelche Wurzeln, Beeren oder Blätter zu essen, hatte er sich nicht getraut. Er hatte auch darauf geachtet, dass Clara es nicht tat. Er war ein Kind, aber weder er noch seine Eltern waren dumm. So wusste er, dass man heutzutage nicht mehr sicher sein konnte, was man aus dem Wald essen konnte und was giftig war. Seine Eltern erklärten solche Sachen beiden Kindern, aber Thomas immer einmal mehr als seiner Schwester. Er war schließlich der Ältere. Sie wussten, dass er auf seine Schwester aufpasste. Sie wussten aber auch nur zu gut, was passierte, wenn man nachlässig wurde. Sie hatten es auf bittere Art und Weise lernen müssen.

Thomas und Clara stritten sich nicht oft für Kinder ihres Alters. Clara hörte öfter und besser auf ihren Bruder, als es kleine Mädchen für gewöhnlich taten. Das war ebenso ungewöhnlich wie die Sorgfalt des Jungen, mit der er auf die Kleine achtgab. Vor knapp zwei Jahren hatten sie noch eine Schwester gehabt. Sie hatte allein gespielt, hatte versucht auf einen Baum zu klettern und war gestürzt. Das passierte natürlich immer mal wieder und meist ging es glimpflich aus. Mit einem verstauchten Knöchel oder einem aufgeschürften Knie. An jenem vergangenen Tage hatte es das nicht getan.

Die Dörfler wurden von den gellenden Schreien des Mädchens alarmiert und erreichten sie kurze Zeit später. Sie hatte es im Fallen geschafft sich so zu drehen, dass sie auf den Füßen aufgekommen war. Aber sie war schon viel zu hoch in den Ästen gewesen, um sich dadurch retten zu können. Sie hatte vor dem Baum gelegen und geschrien wie eine Banshee, als die ersten Dorfbewohner sie fanden. Ihre Beinchen waren an den Knien abgeknickt und die Unterschenkel zertrümmert, Knochen staken aus blutigen Wunden. Als sie das Mädchen bewegten, war es zu Erleichterung aller bewusstlos geworden. Es ging danach sehr schnell. Als die alte Dedra einige Stunden später im Dorf eintraf, war die kleine bereits tot.

Von diesem schrecklichen Tag an ging man in der Familie sehr sorgsam miteinander um. Deswegen kämpfte Thomas seine eigene Angst nieder, so gut er konnte. Die Erwachsenen würden sicher versuchen sie zu finden, aber der Wald war groß und umgab das Dorf in drei Himmelsrichtungen.

»Na na, wohin seid ihr denn unterwegs«, ertönte plötzlich eine krächzende Stimme, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Clara und Thomas schrien vor Schreck zugleich auf und das kleine Mädchen umklammerte krampfhaft die Hüften ihres Bruders. Thomas sah die Greisin als Erster und ein Zittern lief durch seinen kleinen, erschöpften Körper.

»Dedra«, sagte er leise, »sie ist es wirklich. Alles ist gut, Clara, wir sind in Sicherheit, es ist die alte Dedra.«

Beide Kinder weinten jetzt ein bisschen. Thomas lautlos und Clara leise schluchzend, während die alte Frau auf sie zugehumpelt kam. Die krummgewachsene, magere Gestalt war an sich kein sonderlich vertrauenerweckender Anblick. Mit den graubraunen, geflickten Kleidern und dem zottigen eisgrauen Haar hätte sie ebenso gut eine Landstreicherin sein können. Aber wie alle Kinder im Dorf kannten die Geschwister sie natürlich von ihren zahllosen Besuchen. »Nun beruhigt euch erst einmal, ihr Lausekinder. Was macht ihr denn im Wald der alten Dedra? Seid beim Spielen zu weit rausgelaufen und habt euch verirrt, was?«

»Boschi war schuld«, rief das kleine Mädchen spontan und wieder klang dabei ihre Empörung ob der Gemeinheit des Tieres heraus.

»Ah, die Katze vom alten Cushing hat euch also in den Wald gelockt, ich verstehe«, meinte Dedra amüsiert und sah dem Jungen in die Augen.

»Ihr seid hier zu weit draußen, um es vor Einbruch der Nacht nach Hause zu schaffen. Das heißt, ihr würdet es schaffen, aber ich bin zu langsam und allein findet ihr den Weg nicht. Ihr werdet mit mir kommen und diese Nacht bei mir schlafen müssen. Morgen könnt ihr dann auf der Straße zurück ins Dorf gehen.«

Sie legte den Kopf schief, als sie die Reaktion in den Gesichtern der Kinder sah. »Schaut mich nicht so an, ich habe genauso wenig Lust auf die Gesellschaft von zwei kleinen Blagen, wie ihr darauf habt, bei einer verschrumpelten alten Frau zu übernachten. Aber ich schaffe den Weg zum Dorf im Dunkel nicht mehr. Außerdem bin ich müde und erschöpft, wenn ich den ganzen Tag im Wald war. Ich bin alt, falls es euch entgangen sein sollte. Also, was sagt ihr? Eine Nacht in der Hütte der alten Dedra, mit einem Teller Wurzelsuppe und einem warmen Feuer zum Schlafen oder im Wald verhungern. Ich bin nicht eure Eltern und hab euch nichts zu sagen, ist eure Entscheidung«, meinte sie lächelnd.

Clara nahm wieder die Hand ihres Bruders. Der Mund der Alten sah von so weit unten schrecklich aus, ein schiefes, dunkles Loch mit einigen wenigen Ruinen von Zähnen darin. Aber jedes Kind kannte die alte Dedra und wusste, dass sie den Leuten half. Andererseits war es eine Sache, sie zu Hause im Dorf zu sehen und eine ganz andere, stundenlang mir ihr durch den dunklen Wald zu laufen. Davon, in ihrer alten, unheimlichen Hütte zu schlafen ganz zu schweigen. Sie hatten noch nie wo anders geschlafen als bei ihren Eltern oder dem einen oder anderen Nachbarskind im Dorf. Im Wald zu bleiben und zu verhungern oder gefressen zu werden war allerdings eine noch schlimmere Vorstellung. »In Ordnung, wenn es nicht anders geht. Danke, dass du uns hilfst, Mama und Papa werden sie Suppe auch bestimmt bezahlen«, sagte das kleine Mädchen schließlich und machte einen Schritt auf die alte Frau zu. Die Greisin lachte, ein Geräusch, als zerfalle altes Laub.

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9783738030112
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