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Der Mann schluckte erneut, verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und ließ sich dann ebenfalls neben dem verwachsenen Tier in die Knie sinken. »Wenn ihr erlaubt, mein Lord.« Er legte der Hirschkuh den linken Arm um den Kopf und drehte ihn so, dass beide Jarle die Schnauze sehen konnten. Dann griff er dem Tier mit seiner behandschuhten Rechten in das Maul und drückte es auf.

»Blødy Føke, wie mein Großvater gesagt hätte«, hauchte der alte Jarl av Falksten in nachdenklichem Tonfall, »was ist das für eine widernatürliche Scheiße, die sich da in deinen Wäldern herumtreibt?«

»Ich nehme an«, sagte Varg mit belegter Stimme, »die Größe vom Gebiss passt mit den Wunden bei dem anderen Tier?«

Der Forstmeister nickte. »Die Männer haben die eine Kuh geschossen, als sie über der anderen gestanden hat und an ihr fraß. Oder es versucht hat.«

Im ersten Moment hatte der Jarl geglaubt, ein blutverschmiertes Raubtiergebiss im Maul der Kuh zu sehen. Die Zähne waren allerdings so flach und stumpf, wie es bei einem Pflanzenfresser zu erwarten war. Dennoch war das Gebiss mit getrocknetem Blut verschmiert. Zwischen den breiten, plumpen Mahlzähnen hingen vereinzelte Fetzen Gewebe, bei denen es sich um Fleischreste aus dem Körper des zweiten Tieres handeln musste.

»Dann hat die Hirschkuh mit den verrutschten Augen sich wohl gedacht, dass immer nur Grünzeug auf Dauer langweilig ist«, meinte der ältere Jarl, »Die Artgenossen sehen doch auch ganz lecker aus. Was genau machst du noch mal in deinen Wäldern, Varg? Irgendetwas, dass du mir erzählen möchtest?«

Der besorgte Klang seiner Stimme strafte die Unbefangenheit der Worte Lügen. Was auch immer mit diesen Tieren geschah, mochte eine Gefahr für eine der wenigen Nahrungsquellen bedeuten, die Norselund nach dem Grau verblieben waren. Wild spielte kaum mehr eine Rolle bei der Ernährung. Aber Krankheiten konnten ansteckend sein und auf die wertvollen Nutztiere übergreifen.

»Lass uns das später bei einem Stück Hirschbraten besprechen«, gab Varg trocken zurück. Er wandte sich erneut dem Forstmeister zu. »Bringt den Kadaver von der Kuh mit den Missbildungen zum Eingang vom Turm und packt ihn wieder ein. Damit wird sich Meister Leoric noch eingehender beschäftigen. Verbrennt der Rest und vergrabt die Asche.«

Er stand auf und ging einige Schritte zu den beiden Waldhütern und dem Wachmann hinüber.

»Ihr drei, und das gilt auch für dich und jeden anderen, der bislang damit zu tun hatte, Jorge. Ihr werdet über diese Sache Stillschweigen bewahren. Es mag Gerüchte über merkwürdige Tiere im Wald geben, die gibt es vermutlich ohnehin schon länger. Wenn mir aber in den nächsten Wochen zu Ohren kommt, dass sich Raubhirsche in unseren Wäldern herumtreiben, werde ich wissen, wer nicht das Maul halten konnte. Haben das alle verstanden?«

Die Männer murmelten zustimmend, und es hörte sich durchaus aufrichtig an. Die Stimme des Jarls hatte einen metallischen Klang angenommen, der ihnen nur zu vertraut war. »Wenn ihr wieder auf solche Tiere stoßt, seien es missgebildete oder welche mit derartigen Wunden, dann lasst sie im Wald. Verbrennt sie wenn möglich und vergrabt die Asche. Wenn Feuer keine Option ist, dann vergrabt die Kadaver, aber macht es tief und ordentlich. Ich will von diesem Zeug nichts mehr hier haben, aber meldet sie Jorge, und nur ihm. Jeden einzelnen Fall. Es ist wichtig, dass ich mir ein Bild davon machen kann, wie oft das passiert. Und nach Möglichkeit auch wo. Jorge, du sammelst diese Meldungen und erstattest mir einmal die Woche Bericht, verstanden?«

Der Forstmeister nickte stumm.

»Gut, dann räumt hier auf. Stian kommst du mit zu Leoric? Die Treppe ist ein wenig steil, du weißt schon«, er deutete vage in Richtung des Beines seines Freundes.

Der nickte nur und machte eine wegwerfende Geste. Sie gingen gemeinsam zum Eingang des Turmes, in dem der alte Haushofmeister lebte. Die Männer begannen stumm damit, die Kadaver der Tiere wegzuschaffen.

»Bald kannst du dir statt Hunden Wachhirsche halten, das hat sicher kein anderes Haus im Königreich zu bieten. Wird vielleicht endlich mal ein neuer Exportartikel. Eine Alternative zu den langweiligen Eisenbarren«, bemerkte Stian, während er auf den Stock gestützt neben dem Burgherrn zum Eingang des Turmes ging. Dieser warf einen kurzen Seitenblick auf den Freund und sah, dass er trotz seiner Worte blasser war als sonst. Die zahllosen Falten in dem alten, harten Gesicht schienen noch einen Millimeter tiefer geworden zu sein.

»Wenn uns das Wild verreckt«, meinte Varg leise, »oder sich gegenseitig auffrisst, wird die Nahrungsversorgung mancherorts vielleicht ein bisschen dünner. Das würde kein großes Problem darstellen. Darüber, dass dieses Zeug für die Nutztiere ansteckend sein könnte, möchte ich allerdings lieber nicht weiter nachdenken.«

»In der Tat«, stimmte Stian abwesendem Ton zu, »ich weiß noch, wie es sich anfühlt, wenn der Hungertod mehr ist, als nur ein Schreckgespenst. In meiner Kindheit war der Hunger der Schnitter, der fleißig sein Tageswerk um uns herum verrichtet hat. Ich war natürlich als Familienmitglied des Jarls besser versorgt als die armen Schweine da draußen, aber auch ich weiß noch recht gut, wie lecker wässriger Getreidebrei im Gegensatz zu Luft sein kann. Ich war heilfroh, als sich die Lage damals langsam normalisiert hat. In meinen späten Jugendjahren hatte ich jedenfalls wieder jeden Tag etwas zu essen und es ist nicht jede Woche jemand verreckt, den ich kannte.«

Als sie die schwere Eisenholztür des Turmes erreichten, ergriff Varg mit der behandschuhten Rechten den mit Holz verkleideten eisernen Bügel und drückte dagegen. Fast geräuschlos schwang der beschlagene Türflügel auf und gab den Blick in einen kleinen, dunklen Vorraum frei. Eine schmal gewundene Treppe führte steil nach oben.

Stian seufzte beim Anblick der zahlreichen, flachen Stufen.

»Ein alter Krüppel hinauf oder ein steinalter Tattergreis hinab, einen muss es treffen. Diesmal ist die Reihe wohl an dem alten Krüppel.«

»Wenn du das nächste Mal da bist, habe ich sicher schon ein paar von den Wachhirschen darauf abgerichtet, meine ältlichen Freunde durch die Gegend zu tragen«, meinte Varg. »Komm schon, jeder Heiler hat dir bis jetzt gesagt, dass Bewegung deine Beschwerden lindern wird. Wir gehen ja langsam.«

Der andere seufzte erneut und sie begannen den Aufstieg.

Leoric Holstodden war einer der letzten noch lebenden Magier, die den Krieg zwischen Norselund und dem Königreich vor achtzig Jahren miterlebt hatten. Die Hochzeit der Magie war schon seit Jahrhunderten vorbei. In den alten Tagen hatte jede Mark des Reiches über ihre eigene Magiergilde verfügt.

Schon bei der Reichsgründung vor über achthundert Jahren hatten die Verheerungen, welche die Kampfmagier anrichteten, die Saat der Angst und des Misstrauens in den Herzen der Menschen gesät. Nach der Zerschlagung der Gilden und der Verfolgung durch Kirche und Inquisition unter der Herrschaft von Gregor dem Erleuchteten war die Insel schließlich zur letzten Zuflucht für magisch Begabte geworden. Bei dem Krieg vor achtzig Jahren standen sie dann auch fast ausnahmslos hinter den Jarlen. Als die norselunder Armee die Invasionsstreitkräfte des Königs an der Küste aufzuhalten versuchte, fanden sie bis auf wenige Ausnahmen den Tod.

Leoric war bei dieser mehrere Tage dauernden Schlacht dabei gewesen. Ein junger Bursche noch, doch nach nur wenigen Jahren der Ausbildung wusste er schon damals, dass es um sein magisches Talent nicht sonderlich gut bestellt war. Als sich der Schlachtenlärm gelegt hatte, hatte er zu einer Handvoll überlebender Magier gehört. Ein Stümper wie er war in schweren Kampfhandlungen nutzlos. So war er im Chaos der Schlacht am Leben geblieben, ohne wirklich zu wissen, wie ihm geschah. Jeder Nachteil vermochte einem unter den richtigen Umständen zum Vorteil gereichen. Er stand seit fast sechzig Jahren im Dienste derer av Ulfrskógr und hatte das letzte halbe Jahrhundert zurückgezogen auf Snaergarde verbracht.

Er hatte immer Freude an der Alchemie gefunden, und hierauf beschränkte sich auch seine magische Tätigkeit. Jetzt siebenundneunzig Jahre alt, kümmerte er sich schon eine ganze Weile kaum noch um die Belange, die einem Haushofmeister eigentlich zukamen. Er pflegte die nach all der Zeit gar nicht mehr so kleine Bibliothek, braute die eine oder andere magisch verstärkte Medizin, und erfreute sich ansonsten, so gut es eben ging, seines hohen Alters.

Der Greis saß an dem Esstisch der Wohnstube, die zugleich den Flur zu den anderen Gemächern bildete. Von hier aus führten Türen zum Schlafgemach, dem Labor und zu einem Raum ein Stockwerk höher, seiner Bibliothek. Er hörte die Schritte auf der Treppe vor der Eingangstür und erhob sich langsam. Sein Gehör war der Sinn, der ihm am besten erhalten geblieben war.

Es war ihm weniger gut gelungen das Alter aufzuhalten, als es ein fähigerer Magier vermocht hätte, aber er war recht zufrieden. Ein paar Jahre würden ihm noch in einem lebenswerten Zustand bleiben, und er hatte die Schmerzen der alten Gelenke mit Hilfe der Tränke gut im Griff. Er erreichte die Eingangstür beinahe in dem Moment, als sie sich nach einem kurzen Klopfen langsam öffnete.

»Ah, mein Lord, ihr habt euch die Tiere angesehen, nehme ich an. Kommt doch herein, wenn ich auch fürchte, wenig Wissenswertes beisteuern zu können«, sagte er, wahrend die beiden Besucher eintraten, und fügte mit einem respektvollen Kopfnicken in Richtung des älteren Jarls hinzu: »Lord av Falksten.«

Sie gingen hinüber zu dem Esstisch, wo sich der Greis erst an den Tisch lehnte, dann aber auf einen Wink von Varg behutsam wieder setzte. Stian, der nach dem Aufstieg der vielen Stufen kaum schneller ging als der Haushofmeister, ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken. Varg blieb vor den beiden älteren Männern stehen und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

»Was kannst du mir dazu sagen?«, wollte er von Leoric wissen, »wie weit hast du die Tiere bislang untersucht? Ich habe dir die missgebildete Kuh aufgehoben, die anderen werden entsorgt.«

»Ich habe sie mir nur oberflächlich angeschaut«, gab der Greis zurück, »als ich sah, was offenbar passiert ist, habe ich angewiesen, dass ihr die Sache persönlich in Augenschein nehmt, bevor ich etwas daran verändere. Es ist, wie ich finde, ein wenig schwer zu glauben, wenn es man es nicht selbst gesehen hat. Ganz gleich, von wem es einem berichtet wird.

Leider kann ich dazu nur sagen, dass ich so etwas noch nie beobachtet oder davon gehört habe. Die Natur hat sich nach dem Grau verändert, und sie tut es noch, aber das dort draußen macht einfach keinen Sinn. Dass ein Tier vom Pflanzenfresser zum Fleischfresser wird, dazu noch zum Kannibalen, ist einfach widernatürlich.«

»Zumal dafür keine Notwendigkeit besteht«, stimmte der Jarl zu, »die Tiere haben in den Wäldern so viel Platz und Futter, das es keinen Bedarf für eine neue Nahrungsquelle gibt. Geschweige denn dafür, die eigene Art anzugreifen. Aber wie dem auch sei, dein Tier liegt vor der Tür, Leoric. Ich will, dass du es auseinandernimmst und alles in Erfahrung bringst, was du kannst. Schneid es auseinander, koch es aus, löse es in deiner Giftküche auf und verfüttere es an Ratten und schau, was passiert. Aber finde heraus, was mit dem Wild nicht stimmt. Wie die Missbildungen zustande kommen, und wie einige von ihnen so aggressiv werden konnten. Ich muss dir wohl nicht sagen, wie sehr wir auf jede unserer bescheidenen Nahrungsquellen angewiesen sind.«

»Ich bin mir des Ernstes dieser Angelegenheit durchaus bewusst, mein Lord. Ich werde natürlich mein Möglichstes tun. Was habt ihr den Männern gesagt? Es wäre vielleicht besser, wenn sie die Sache vorerst nicht hinausposaunen würden. Der Winter wird bald über uns kommen«, er verstummte, als der Jarl die Hand hob.

»So lange wie irgend möglich wird niemand etwas davon erfahren. Wenn dich jemand fragt, was du mit dem Kadaver machst, sag ihm einen Gruß von seinem Jarl und er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Tu, was in deiner Macht steht und fang heute damit an. Jede Kleinigkeit an Information ist willkommen, im Moment habe ich nichts und kann dementsprechend auch nichts unternehmen. Wenn die Waldhüter weitere Fälle wie diesen zu Gesicht bekommen, werde ich davon erfahren.«

Leoric senkte den Kopf, »natürlich, mein Lord. Ich werde dafür sorgen, dass ihr umgehend benachrichtigt werdet, wenn ich etwas finde, das von Interesse sein könnte.«

»Das heißt dann wohl«, brummte Stian, »das ich nach den paar Minuten diese beschissene Treppe wieder herunter humpeln kann.«

»Dein Scharfsinn wird nur von deiner Leidensfähigkeit übertroffen«, gab Varg zurück. »Wenn wir unten sind, bekommst du einen Bierschlauch ganz für dich allein. Und ein warmes Feuer wartet auf deine alten verdrehten Knochen.«

»Na, wenn das keine lohnende Aussicht ist. Eine Einladung zum Bier ist ja bei dir gleichbedeutend mit Speise und Trank in einem. Aber immer noch besser als dein Wildbret dieser Tage.«

Auf dem Weg nach unten fluchte Stian vor Schmerzen leise in sich hinein. Sein Knie fühlte sich an, als hätte man ihm zerstoßenes Glas zwischen das Gelenk geschüttet. »In drei Tagen reise ich ab«, sagte er keuchend, als sie das Ende der Treppe erreicht hatten und den Turm verließen. »Wenn ich dein schönes Jarltum vor dem Wintereinbruch hinter mich bringe, kann ich im Oktober mal schauen, was mein Schwiegersohn und meine Tochter für die kalten Monate vorhaben. Außerdem werde ich mir ein Bild machen, wie Tiere im Süden so aussehen, besonders das Wild.«

Der jüngere Jarl nickte.

»Ich glaube ja, dass du nur Angst vor meinen Wachhirschen bekommen hast. Aber es kann sicher nicht schaden, wenn wir in allen Jarltümern die Augen offen halten. Was immer hier passiert, mag ebenso gut anderswo im Gange sein. Dann lass uns Essen und Trinken und die nächsten Tage genießen. Wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen.«

»Aye. Hoffen wir, dass dich dein Wild nicht gefressen hat, wenn ich im Frühjahr wiederkomme. Wie ich dich kenne, wirst du dich ja wie üblich nicht dazu bewegen lassen, deine Höhle hier mal für eine Weile zu verlassen und die Südländer besuchen zu kommen.«

»Du weißt doch, wie das ist«, meinte Varg, »Die Minen, die Schmieden, das Eisen. Jemand muss alles am Laufen halten. Außerdem muss ich mich um die Ausbildung meiner Rabengarde kümmern.«

Er lächelte, als der andere grunzend abwinkte. Was er gesagt hatte, entsprach den Tatsachen, aber beide wussten, dass er einfach gerne hier war und kein Verlangen verspürte, seine Heimstatt zu verlassen. Er hätte sicher für eine gewisse Zeit weg gekonnt, gerade im Winter. Für eine Weile war Sigvar Rothborg, einer seiner engsten Vertrauten, durchaus in der Lage, ihn zu vertreten. Der zweitälteste Sohn eines Thane aus dem Westen des Jarltums war vor fünfzehn Jahren als Anwärter für die Rabengarde nach Snaergarde gekommen. Inzwischen war er deren Hauptmann. Darüber hinaus hatte der Jarl den ebenso stillen wie intelligenten und kompromisslosen Mann zu einer Art Stellvertreter aufgebaut. Heute war der Dreißigjährige einer seiner wertvollsten Gefolgsmänner. Er kannte jeden Winkel des Jarltums und wusste über alle Abläufe Bescheid, die für die Minen, die Eisenverarbeitung und die Festung selbst von Bedeutung waren.

Doch der Jarl hatte den Winter in der Heimat immer geliebt. Diese langen, eisigen und dunklen Tage, die vielen anderen so sehr auf das Gemüt schlugen. Er war ein Sohn Norselunds durch und durch, ein Angehöriger einer Generation, die in das ewige Grau hineingeboren worden war. Darüber hinaus floss in seinen Adern das Blut von Hathagat Ohngesicht, dem Gründer der Dynastie aus den kalten, dunklen Wäldern des höchsten Nordens. Die beiden Jarle gingen einträchtig und so langsam, wie das Bein des älteren Mannes es nötig machte, zu dem Aufgang des Bergfriedes zurück.

Während sie wenig später gemeinsam vor dem Feuer eines großen, gemauerten Kamins saßen und tranken, schleppte Leoric sich die Stufen seines Turmes hinab. Als er schließlich aus der Tür in den feinen Schnee hinaus trat, hatte man das Tier bereits gebracht und lose wieder zugedeckt. Jemand war so vorausschauend gewesen, und hatte einen hölzernen Schemel neben den Eingang des Turmes gestellt. Daneben stand ein kleines Tischchen, kaum mehr als ein niedriger Hocker.

Der Greis ließ sich ächzend auf der Sitzgelegenheit nieder und legte die Umhängetasche, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch. Er kramte eine Weile darin herum und lauschte dabei der allgegenwärtigen, leisen Musik der Hämmer der Ausschmieder, die rund um die Uhr arbeiteten. Es waren durch die dicken Mauern der Burg gedämpfte, vertraute und beruhigende Geräusche. Ein angenehmer Gegensatz zu dem missgebildeten Etwas, das so beunruhigend real vor ihm lag. Mit den Resten seines toten Artgenossen zwischen den Zähnen.

Seufzend beugte sich der Greis über den Kadaver und zog das Tuch beiseite. Dann nahm er ein gebogenes Messer mit einer kurzen aber scharfen Klinge in seine skelettartige Rechte. Langsam begann er, Teile von Horn, Fell und Fleisch herauszuschneiden. Irgendwo weiter im Norden schrie ein Tier im Wald.

Vielleicht, dachte Leoric, als er die ersten Gewebestücke in einem kleinen Tonschälchen verstaute, war es auch ein Waldhüter.

Kapitel 2

Dedra

In den Tagen des frühen Septembers des Jahres 826 wurde der Greisin bewusst, dass sie in wenigen Jahren zu alt sein würde, um so weiterzuleben, wie sie es bisher getan hatte.

Die alte Dedra lebte seit Jahrzehnten in diesem abgelegenen Landstrich der Ostmark. Ihre rustikale Hütte war inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt. Sie stand versteckt am Rande der Wälder, welche die östlichen Grenzlande markierten. Es war damals eine gute Entscheidung gewesen, sich hier niederzulassen. Eine, die ihr mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet und die sie nie bereut hatte.

Seit einigen Jahren schon mied sie die unzugänglicheren Gebiete der Wälder, die sie im Stillen als die ihren betrachtete. Das dichte, wurzelige Unterholz war ihr im gleichen Maße zur Qual geworden, in dem die Arthritis in ihren Fußgelenken und Knien voranschritt. Sie bestritt ihren Lebensunterhalt als Kräuterfrau, und ihre Künste dienten in erster Linie den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes Flusswalde. Doch auch aus weiter entfernt gelegenen Ortschaften wie Grenzfelde oder Waldesrast kamen ab und an Menschen zu ihr. Es gab nicht mehr viele Frauen wie sie, und sie verstand ihr Handwerk trefflich. Die Knappheit an fähigen Heilerinnen lag in dem Erstarken der Kirche in den letzten zweihundert Jahren begründet.

In der heutigen Zeit führte man als weise Frau, wie man ihresgleichen in den alten Tagen genannt hatte, mit Glück und Geschick ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Und selbst das nur, wenn man so vorausschauend war, sich einen Platz zum Leben in ausreichender Entfernung zu größeren Ortschaften oder gar Städten zu suchen. Achtete man nicht auf diese Dinge, war es oft ein kurzes Leben. Eines mit einem frühen und höchst unerfreulichen Ende dazu.

In den ländlichen Gebieten waren die alten Traditionen oft noch ebenso gegenwärtig wie der Aberglaube. Die Lichtbringer waren weit genug weg, um keine unmittelbare Bedrohung darzustellen. Auch die Erinnerungen an den Segen, den eine Kräuterfrau für ein kleines Dorf darstellen konnte, war vielerorts bewahrt geblieben. Und doch bewegte man sich immer im trügerischen Schutz einer Grauzone zwischen dem Gesetz der Religion und dem Nutzen, den man für die Menschen darstellte. In den Ortschaften und Städten hatte die Kirche sich ebenso schnell und nachhaltig etabliert, wie sie den alten Glauben vernichtet hatte. Dort, wo Macht und Reichtum erwuchsen, waren Priester und andere Schmarotzer naturgemäß nicht weit.

Unter George II, dem Erleuchteten, hatte sich die Welt geändert. Den von der Kirche verliehenen Beinamen hatte er sich ebenso blutig wie eifrig verdient. Bis zu seinem Amtsantritt war der Glaube an den Lichtbringer vielerorts nur die Religion der Herren gewesen, kaum mehr als eine elitäre Sekte. Während seiner Regentschaft und mit seinem Segen aber begann eine Missionierung von nie dagewesener Kompromisslosigkeit. George ließ die von ihm auserkorene Glaubenslehre zur einzig wahren erklären, und er beließ es nicht bei einem Lippenbekenntnis. Er trieb die Verbreitung der kirchlichen Lehre mindestens ebenso eifrig voran, wie die Priester selbst. Dabei stand er ihnen weder in Ungeduld noch in Rücksichtslosigkeit nach. Die Lehren der alten Glaubensrichtungen erklärte man kurzerhand zur Ketzerei. Gleiches galt für die Anwendung von Magie, deren Ausübung in allen Reichsstädten verboten wurde. Der erste Schritt zu Ausrottung jeder Form von Magie im Königreich, die sich nicht der Kirche unterwarf.

Die Vernichtung der Magiergilden war nur eine von vielen berüchtigten Taten des Königs, der als der Erleuchtete in die Geschichte eingehen sollte. In den blutigsten Kämpfen seit den Gründerkriegen des Reiches zerschlugen die Truppen von König und Kirche schließlich die Gilden und schliffen ihre Türme. Alsbald galt jede Form nichtkirchlichen Wunderwirkens als Blasphemie. War der vor den Magierkriegen gegründete Templerorden Schwert und Schild der Kirche, so war die später ins Leben gerufene Inquisition ihr Dolch.

Diese Entwicklung, die mit einem enormen Machtgewinn für die Kirche einherging, sollte sich als unumkehrbar erweisen. Derartig tiefgreifende Veränderungen mussten über viele Jahre hinweg in einer Gesellschaft Wurzeln schlagen, um von Dauer zu sein. Ein baldiger Machtwechsel, ein neuer und weniger frommer König, hätte die Lage im Reich unter Umständen wieder verändern können. Die Zeit war jedoch auf der Seite der Kirche. George bekleidete mit knapp einem halben Jahrhundert die längste Regierungszeit in der Reichsgeschichte. Als er schließlich hochbetagt starb, war die Macht der Geistlichen unumkehrbar konsolidiert gewesen.

Heute, etliche Generationen später, gab es in jeder größeren Ortschaft zumindest eine Kapelle. Dort konnte man für die Gesundung von Krankheit und Verletzungen beten und spenden. Immerhin den Jüngern des Lichtbringers war damit geholfen, und mit ein wenig Glück fand man sogar einen Priester, der ein wenig von Heilkunde verstand oder gar dazu fähig war, echte Heilmagie anzuwenden. Es gab durchaus noch Geistliche, die über die Gabe der alten Magie verfügten. Diese gesegneten Brüder fand man allerdings eher in den Städten und Burgen der Reichen und Mächtigen.

In den ländlichen Gebieten war eine Präsenz der Kirche weniger gewinnbringend. Hier war das Leben als Kräuterfrau dieser Tage relativ sicher. Ohne Frage musste man trotzdem eine gewisse Vorsicht walten lassen. Sonst konnte es einem auch in dünn besiedelten Landstrichen passieren, dass man als Hexe auf dem Scheiterhaufen oder an einen Baum genagelt endete. Die Gefahr hierfür war natürlich viel geringer geworden, nachdem vor einigen Jahrzehnten das Grau über die Welt gekommen war.

Wenn man damit beschäftigt war, um das nackte Überleben zu kämpfen, gab es für gewöhnlich wichtigere Dinge zu tun, als alte Frauen an Bäume zu nageln.

Dedra war nicht alt genug, um sich an die Zeiten des religiösen Umbruchs vor zwei Jahrhunderten zu erinnern. Sie gehörte jedoch zu den wenigen Menschen, die noch wussten, wie direkter Sonnenschein aussah und sich anfühlte. Sie hatte eine ganze Weile vor dem Grau gelebt, das vor sechzig Jahren über die Welt gekommen war. Auch wenn diese Erinnerungen zunehmend verschwommen und unzuverlässig wurden. Das Phänomen, das alten Menschen ihre Jugenderinnerungen lebhaft erhalten blieben, während ihr Kurzzeitgedächtnis immer schlechter wurde, traf auf sie nicht zu. Die Vergangenheit schien für sie mit jedem weiteren Winter tiefer in einem Nebel zu verschwinden. Im Gegenzug wurde sie von der Vergesslichkeit verschont, die so viele Alte in den letzten Jahren befiel. Ihr Geist war klar und ihr Gedächtnis so gut wie eh und je. Eine kleine Entschädigung der Götter, die es nicht gab, dafür, dass die Arthritis langsam aber sicher ihre Gelenke auffraß, vermutete Dedra. Sie hatte vor dem Grau lange Zeit als Kräuterfrau gearbeitet, ohne als Hexe behelligt zu werden. Durchaus auch in größeren Städten. Das gelang, damals wie heute, vielen echten Hexen. Verbrannt wurden für gewöhnlich Frauen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Bevor sich der Himmel und damit die Welt verändert hatte, war Dedra bereits recht alt gewesen. Selbst in ihrer Jugend hätte sie wohl kaum ein Mann als hübsch bezeichnet. Aber sie war eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Als offensichtlich wurde, dass das Grau nicht auf ebenso plötzliche und mysteriöse Weise verschwinden würde, wie es gekommen war, begannen die Unruhen. Dedra beschloss damals, dass es an der Zeit war, sich einen ruhigen Platz zu suchen, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie reiste eine Weile durch die dunkel gewordene Welt, wobei sie mit Glück, Erfahrung und Glamour die Wirren der ersten Jahre des Hungers und Blutvergießens überlebte.

Schließlich führte sie ihr Weg nach Flusswalde. Die vorherige Kräuterfrau, im Gegensatz zu ihr in der Tat nur eine einfache Kräuterkundige, war kurz zuvor gestorben. Sie war eine gute Heilerin gewesen, was es Dedra erleichtert hatte, das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen. Der meisten jedenfalls. Es waren einfache, aber für ihren Stand beinahe wohlhabende Leute, die hier lebten. Das Land war trotz des Grau noch fruchtbar, wenn auch der Überfluss alter Tage der Vergangenheit angehörte. Die Nähe zum Grenzland sowie der Fluss, an dessen Ufern das Dorf lag und dem es seinen Namen verdankte, trugen ihr Übriges zu dem hier herrschenden Wohlstand bei. Der Handel, der früher mit einigen Siedlungen aus dem Umland betrieben wurde, war freilich längst versiegt. Inzwischen wurde entweder nicht mehr genug Überschuss produziert um ihn als Handelsware anzubieten, oder es gab anderswo keine lohnende Bezahlung.

Dedra lies ihre Gedanken in die hinter ihr liegenden Jahrzehnte schweifen, während sie sich durch den Wald arbeitete. Ihr Stock, seit vielen Jahren ihr ständiger Begleiter, war hier kaum eine Hilfe. Sie merkte, dass sie sich dieser Tage immer öfter mit der stetig nebulöser werdenden Vergangenheit beschäftige. Aber was, zum Teufel, sollte es schon. Das war schließlich ein Anrecht der Alten.

Nach ihrer Ankunft in Flusswalde hatte Dedra geholfen, wo immer sie es vermocht hatte. Außerdem hatte sie nur das Nötigste für ihre Dienste verlangt und stets ein freundliches Wort für die gehabt, die zu ihr kamen. Natürlich gab es auch Menschen, die der alten Frau skeptisch gegenübergestanden. Sie hatte etwas Merkwürdiges, nicht Greifbares in Benehmen und Aussehen, das auf einige Leute abstoßend wirkte. Was die einen als die exzentrische Schrulligkeit einer ansonsten umgänglichen Greisin betrachteten, erschien anderen als unheimlich und befremdlich.

Diese misstrauischen Menschen gab es allerorts und sie stellten stets ein Problem dar, dessen man sich sorgfältig annehmen musste. Kirche und Inquisition mochten auf dem Land weit weg sein, doch eine Hexe war auch in den traditionellen Mythen durchweg als gefährliche und düstere Kreatur dargestellt worden. Im Grunde lief es immer wieder darauf hinaus, dass ein Verdacht gegen eine Frau schnell ausgesprochen war. Dass letztendlich niemand einen Furz um eine tote alte Vettel mehr oder weniger gab, war ebenfalls eine Tatsache.

Dedra war beständig in ihrer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, und da außer ihr kein Heiler verfügbar war, kamen auch die Misstrauischen und Feindseeligen schließlich zu ihr. Früher oder später wurde jeder krank, und wenn nicht, hatte man als Hexe Möglichkeiten, dafür zu sorgen. Auf diese Weise konnte sie das Problem langsam aber nachhaltig lösen.

Dedra wusste genau, welche der Dorfbewohner ihr misstrauten. Sie kannte bald jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Sie wusste, wer sich vor ihr ängstige, ebenso wie sie einzuschätzen vermochte, wer ihr regelrecht feindselig gegenüberstand. Die Ängstlichen ließen sich meist mit behutsamer Freundlichkeit, Können oder Glamour überzeugen. Bei einigen aber war jede Liebesmüh vergebens. Es gab immer ein paar dieser Sorte, wohin man auch kam. Deshalb wurden manche Menschen nach ihrer Behandlung gesund und andere starben kurz darauf. So war das nun einmal in der Welt. Krankheiten waren tückisch und oft unberechenbar, Kinder ertranken beim Spielen am Fluss oder brachen sich die Knochen, wenn sie von einem erkletterten Baum fielen. Es gab so vieles, was im dörflichen Alltag passieren mochte, und auch die beste Kräuterfrau konnte nicht überall sein und jedes Leben retten. Auf einen der starb kamen neun oder mehr, die durch Dedras Hilfe wieder gesund wurden. Die Dörfler schätzten sich glücklich, eine so fähige Heilerin zur Verfügung zu haben.

Etwa zwanzig Jahre nach ihrer Ankunft, sie lebte längst in der Hütte am Waldrand, gab es keine Menschen mehr in Flusswalde, die ihr feindselig gegenüberstanden. Diese Sorte war meist jung, zumindest aber am Ende kinderlos, verstorben. Ein Lächeln, das die uralte Ruine ihres Gesichtes in tausend Falten legte, zog sich über die Züge der Greisin. Es hielt sich jedoch nur kurz, bis eine frische, siedende Welle Schmerz von ihrem linken Knöchel aus ihr Bein hinauf floss, nachdem sie auf eine Wurzel getreten war.

Inzwischen behandelte sie die dritte Generation von Dorfbewohnern und war längst ein fester Bestandteil des Lebens in Flusswalde geworden. Schon die Großeltern waren zu ihr gegangen. Dass bereits diese die weise Frau vor fünfzig Jahren als die alte Dedra bezeichnet hatten, mochte vielleicht manch einem befremdlich erscheinen. Aber so war eben der Lauf der Dinge, einige Menschen starben jung, andere hielten sich länger. Davon abgesehen wollte sich niemand ausmalen, wie es sein würde, wenn die erfahrene Kräuterfrau nicht mehr da war. Schließlich kannte sie Medizin gegen unzählige Leiden und Gebrechen. Ob Magenverstimmung, gebrochene Knochen oder Fieber. Ob eine schwere Geburt anstand, oder Kinderkrankheiten umgingen, die alte Dedra wusste Rat. Und sie nahm noch immer kaum mehr als das Nötigste für ihre Dienste. Nicht wenige Menschen sahen in ihr den guten Geist des Dorfes. Sie mochte mit den Jahren etwas wunderlich werden, aber so waren alte Leute nun einmal.

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