Читать книгу: «Die Suche nach Tony Veitch», страница 2

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DRAUSSEN WAR ES KALT. Laidlaw musste sich erst mal orientieren. Im mittleren, jetzt dunklen Teil des Hauptgebäudes war die Verwaltung untergebracht. Rechts, nicht weit vom Tor, die medizinische Abteilung. Er ging nach links.

Beim Überqueren des Hofs dachte er an den Arzt. Wahrscheinlich war es wirklich eine ruhige Nacht. Alles ist relativ. Laidlaw hatte einen einfachen Stoßdämpfer, der ihm half, fertig zu werden mit dem, was er zu Gesicht bekam. Er erinnerte sich an Glaister’s Medical Jurisprudence and Toxicology – ein unauffälliger Name für eines der grauenvollsten Bücher, in denen er je geblättert hatte. Darin wurden die entsetzlichsten ungewöhnlichen Todesarten sachlich beschrieben, dazu Abbildungen erstklassig fotografierter Enthauptungen, Strangulationen und Genitalverstümmelungen. Die Darstellung willkürlicher und vorsätzlicher Brutalität ließ den Marquis de Sade wie den Touristen erscheinen, der er war. Hat man erst einmal verstanden, in was für einer Welt wir leben, muss man sich auch den Dingen stellen, die man lieber nicht sehen möchte.

Laidlaw hatte das akzeptiert. Er stieg die gewundene Treppe hinauf in den ersten Stock. Auf einem blauen Schild mit weißen Buchstaben las er »Intensivstation«. Er trat durch die Schwingtüren und stand in einem kurzen, breiten Gang vor einer weiteren Schwingtür. Sofort schaute eine Frau aus einem Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck wurde zum Verbot, zeugte von der Verärgerung einer Fachkraft über das unbeholfene Eindringen eines Laien. Laidlaw kam sich vor, als hätte er eine Kamera um den Hals. Sie kam heraus und richtete sich wie eine Schusswaffe auf ihn.

»Ja?«

»Entschuldigung. Ich glaube, hier wurde gerade jemand herverlegt. Er hat darum gebeten, mich zu sprechen. Mein Name ist Laidlaw. Detective Inspector Laidlaw.« Er zeigte seinen Ausweis.

»Und?«

»Ob ich den Patienten wohl sehen kann?«

Sie stieß ein knappes, einsilbiges Lachen aus, es klang wie das weit entfernte Bellen eines Wachhunds und ebenso humorvoll. Anschließend schüttelte sie auf Beamtenart den Kopf und setzte den strengen, herablassenden Blick auf, der alle Uneingeweihten zu den Rettungsbooten fliehen lässt.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ich gebe mir Mühe«, sagte Laidlaw.

»Das hier ist eine Intensivstation.«

»Für ein Café habe ich es nicht gehalten. Und ich hab’s eilig.«

Sie starrte Laidlaw an, schätzte ihn vermutlich neu ein: kein Durchschnittsidiot – vielmehr ein Ärgernis ersten Grades. In solchen Fällen mag es notwendig sein, eine Fassade aus minimalen Fakten aufzubauen, vorzugsweise unverständlichen.

»Der Ventilator wird vorbereitet. Möglicherweise ist eine Dialyse unerlässlich.«

»Ist er bei Bewusstsein?«

»Er ist sehr durcheinander.«

»Aber bei Bewusstsein.«

»Im Augenblick, ja.«

»Na, dann«, sagte Laidlaw. »Wenn er mich sprechen will, muss es ihm wichtig sein. Ich gehe davon aus, dass er trotz allem gewisse Rechte hat. Wenn Sie nicht wollen, dass ich zu ihm reingehe, überlegen Sie sich lieber, wie Sie’s verhindern.«

Er ging an ihr vorbei. Sie holte ihn ein, bevor er die Schwingtür erreicht hatte.

»Warten Sie bitte hier«, sagte sie und ging weiter. Wenige Augenblicke später kam sie heraus und nahm einen frisch gewaschenen Krankenhauskittel von einem Stapel. Es machte ihr Spaß, Laidlaw zu beobachten, der dahinterzukommen versuchte, wie man den Kittel anzog. Da er die richtigen Filme gesehen hatte, zog er den Kittel falsch herum an. Sie bot ihm nicht an, ihm beim Zubinden zu helfen, weshalb er ihr mit den Händen auf dem Rücken folgte und dabei fürchtete, die Urheberrechte des Duke of Edinburgh zu verletzen.

Hinter der zweiten Schwingtür sagte sie: »Warten Sie hier, bitte.«

Das Licht im Raum war gedämpft. Rechts befanden sich mit Glasscheiben voneinander getrennte Kabinen. Aus manchen drangen leise Geräusche. Man hatte das Gefühl, hier auf Zehenspitzen zu leben. Zwei Schwestern bewegten sich beinahe geräuschlos hin und her, Vestalinnen dieses Allerheiligsten.

Die Geräte waren Gott. Auf einem Monitor zuckten drei gezackte Linien. In der Mitte lag der für Laidlaw einzig sichtbare Patient, wie auf einem Altar. Er war entsetzlich bewegungslos und an eine Beatmungsmaschine angeschlossen, ein belüfteter Leichnam. Als er ihn betrachtete, erinnerte sich Laidlaw, dass er irgendwo einmal gehört hatte, dass sich solche Patienten wund liegen, wenn sie nicht alle zwei Stunden eingeölt und umgebettet werden. Von seinem neuen Standpunkt aus, hielt er die Leute in der Notaufnahme für größenwahnsinnige Statisten. Ihre Einschätzungen wirkten jetzt unerhört grob. In ihrer Unerbittlichkeit waren sie Anfänger. Dieser Mann legte Zeugnis für uns alle ab, ohne Melodram. Er war auf das Atmen reduziert und stellte keine weiteren Ansprüche, seine Demut war absolut. Zog man den Stecker, starb er.

Aus der ersten Kabine ganz rechts drangen Geräusche. Laidlaw nahm an, dass dort sein Mann sein musste. Und tatsächlich, die Schwester, die ihn wie ein Bakterium behandelt hatte, winkte ihn nun heran.

Als er beklommen einen Bogen um die Trennwand machte und in die Nische trat, ereilte ihn derselbe Schrecken, wie wenn man einen Bekannten sterben sieht. Alle vorangegangenen Momente der Zuversicht zählen nicht mehr. Der Tod soll anonym bleiben, das wird jetzt klar. Sonst nimmt er einen ins Visier.

Er sah einen Verdacht bestätigt, den er längst geschöpft hatte. Es war Eck Adamson. Und wenn er nicht so gut wie tot war, dann war Laidlaw unsterblich.

Ein Arzt schob sich zwischen Laidlaw und das Bett. Er war Inder, jung, zart und hübsch. Seine Stimme bildete einen erstaunlich angenehmen Kontrast zu den Glasgower Kehllauten, seine Konsonanten waren weich und die Aussprache originell.

»Sie dürfen mit Ihrem Freund reden, wenn Sie wollen. Wir werden ihn gleich an ein Beatmungsgerät anschließen. Im Moment ist es vor allem wichtig, die Lungenfunktion zu stabilisieren. Wenn Sie zu ihm durchdringen, versuchen Sie herauszufinden, was passiert ist.«

Laidlaw nickte. Zuerst fiel ihm auf, dass er Eck nie zuvor so sauber gesehen hatte. Sie hatten ihn zum Sterben schön gemacht. Nur der mehrere Tage alte Bart ließ darauf schließen, aus welchem Winkel des Lebens Eck stammte; der Bart und sein Blick. Schreckhaft war er immer schon gewesen, aber jetzt spielte er komplett verrückt, sprang mal hierhin, mal dorthin, als wüsste Eck endlich mit Sicherheit, dass es die Welt auf ihn abgesehen hatte. Der Arzt und die Schwestern warteten darauf, ihn von sich selbst zu erlösen.

»Eck«, sagte Laidlaw. »Ich bin’s, Jack Laidlaw.«

Als er es noch mal wiederholte, streifte ihn Ecks Blick mehrmals, kehrte immer wieder zu ihm zurück, bis er auf ihm ruhte, noch unstet, aber immerhin auf derselben Umlaufbahn wie Laidlaw. Er blieb nicht auf seinem Gesicht haften, sondern schien unterschiedliche Körperteile abzusuchen, als wollte Eck Laidlaw wie ein Puzzle zusammensetzen. Eck wollte etwas sagen.

»Gut«, hörte Laidlaw.

»Gut«, erwiderte er.

»Gut.«

»Gut.«

Eck zuckte vor Anstrengung mit dem Kopf.

»Schreib auf«, glaubte Laidlaw verstanden zu haben. Er fand einen Umschlag in seiner Tasche und nahm einen Stift.

»Was ist passiert, Eck?«

Aber er hätte sich genauso gut mit einem Fernschreiber unterhalten können. Eck empfing keinerlei Nachrichten mehr. Mit dem letzten Rest, der von ihm übrig war, sandte er Informationen aus. Dass er Schmerzen hatte, war offensichtlich. So wie er die Worte daran vorbeipresste, mussten sie ihm sehr wichtig sein. Laidlaw hörte zu und fragte sich, warum.

Eck redete unzusammenhängend. Er sprach wie jemand, der einen Schlaganfall erlitten hatte, in Zeitlupe und unterbrochen von den Knacklauten des Betrunkenen, was das physische Trauma verschlimmert, weil es die Betroffenen zu Idioten macht. Laidlaw glaubte, aus den verzerrten Äußerungen, die einer zu langsam abgespielten Platte ähnelten, eine ständig wiederholte Aussage herauszuhören. Er schrieb mit, mehr aus Respekt vor der in Auflösung befindlichen Person denn aufgrund einer Bedeutsamkeit, die er den Worten beimaß: »Der Wein, den der mir gegeben hat, das war gar keiner.«

Das war alles, was er verstand. Als würde man einen Aufruhr belauschen. Eck wurde in seiner Not immer verzweifelter und der Arzt trat dazwischen.

»Der Herr kann in meinem Zimmer warten«, sagte er.

Die Schwester führte Laidlaw in einen kleinen abgetrennten Bereich am Ende der Station. Hier war gerade genug Platz, um sich hinzulegen. Laidlaw setzte sich auf das Einzelbett.

Er betrachtete die Rückseite des Umschlags, der Letzte Wille und das Testament von Eck Adamson. Er erinnerte sich an einen Artikel über eine Putzfrau in einer Anwaltskanzlei. Auf ihrem Totenbett hatte sie Juristenlatein vor sich hin genuschelt. Eck war nicht weit davon entfernt.

Vielleicht passte es, dass Ecks letzte Information wie Sanskrit rüberkam. Als Spitzel war er nie besonders wertvoll gewesen. Aber Laidlaw hatte ihn immer gemocht, und einmal, im Fall Bryson, hatte Eck ihm unwissentlich sehr geholfen.

Hinter der Trennwand war es still geworden und der Arzt tauchte wieder auf. Er schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid«, sagte er mit der förmlichen Getragenheit, die einem eine fremde Sprache zu schenken vermag.

Laidlaw steckte den Umschlag ein.

»War er ein Freund?«

Laidlaw dachte nach.

»Möglich, dass er keinen besseren hatte. Woran ist er gestorben?«

»Kann ich im Moment noch nicht sagen. Wer war er?«

»Alexander Adamson. Ein Penner. Im Winter hat er in billigen Absteigen gehaust. Im Sommer da, wo er konnte. Angehörige nicht bekannt. Tolle Grabinschrift.«

Laidlaw erinnerte sich, dass er Eck eines Nachts schlafend auf einem Belüftungsgitter draußen vor der Central Station gefunden hatte. Er hatte sich die Wärme zunutze gemacht, die aus der Küche des Central Hotel aufstieg. Jetzt fand hier die Totenfeier am Ende eines trostlosen Lebens statt, sie beschränkte sich auf wenige zwischen Fremden gewechselte Sätze.

»Zum Schluss war es nicht mehr schlimm für ihn«, sagte der Arzt. »Er ist friedlich gestorben.«

Laidlaw nickte. Wie ein Blatt.

»Ich will eine staatsanwaltliche Obduktion.«

»Natürlich. Das ist Vorschrift.«

»Heute noch? Ich hätte das Ergebnis gerne heute.«

»Wir werden sehen.«

»Ja, das werden wir.«

Auf dem Weg zum Wagen schaute Laidlaw noch einmal in der Notaufnahme vorbei. Der Junge mit der blutverschmierten Jacke war weg. Eine Schwester zeigte Laidlaw Ecks Habseligkeiten in einem braunen Umschlag; eine leere Dose mit krümeligen Tabakresten, eine stehen gebliebene Armbanduhr, sieben einzelne Pfund und ein schmutziger Zettel. Laidlaw strich den Zettel glatt und las die handschriftliche Botschaft.

Der puritanische Trugschluss besteht darin zu glauben, Tugendhaftigkeit würde von alleine erreicht. Man macht das Richtige, weil man es nicht anders kennt. Das ist die Woolworth-Moral der Gesellschaft, ein billiger Ersatz. Wahre Moral beginnt mit einer Entscheidung: je größer die Entscheidungsvielfalt, desto größer die Moralität. Nur diejenigen können wahrhaft gut sein, die ihre Fähigkeit, Böses zu tun, genau überprüft haben. Idealismus ist Zensur der Realität.

Fein säuberlich notiert, darunter eine Adresse in Pollokshields und die Namen Lynsey Farren und Paddy Collins in schwarzem Kugelschreiber, außerdem »The Crib« und die Nummer 9464 946.

Laidlaws erste Reaktion war eine praktische. Ihm fiel auf, dass die Handschrift dieselbe, der Text aber mit blauem Stift notiert worden war. Er vermutete, dass die hausgemachten philosophischen Überlegungen bereits auf dem Zettel gestanden hatten, als deren Verfasser weitere Informationen hinzugefügt hatte. Für wen aber? Für Eck?

Der erste Teil war sicher nicht für ihn bestimmt gewesen. Aber auch die Adresse schien nicht zu passen. Pollokshields, wo das Geld auf Bäumen wächst, war wohl kaum Ecks Gefilde. Die Nummer sagte Laidlaw nichts. Nur »The Crib« ergab Sinn.

Dann überkam Laidlaw ein leichter Schauder, als er den Zettel in Händen hielt und Menschlichkeit seine Professionalität zu verdrängen drohte. In dem Versuch, diesem Gefühl auf den Grund zu gehen, las er den Absatz noch einmal. Vielleicht lag es an der hier spürbaren, gefährlich verzerrten Form jener calvinistischen Selbstgerechtigkeit, die sich in den Herzen vieler Schotten wie Eiszapfen herausgebildet hatte. Er fragte sich, von wem Eck diese seltsame Botschaft bekommen hatte.

Als er aufblickte, löste sich seine Schwermut angesichts des freundlich runden Gesichts der Schwester, die sich praktischen Dingen widmete. Durch sie wurde ihm bewusst, dass er es am besten genauso machen sollte.

»Verzeihung«, sagte er. »Den Zettel brauche ich. Muss ich was dafür unterschreiben?«

5

SCHANKGESETZE KÖNNEN SPASS MACHEN. Ohne käme man nie in den Genuss der geheimnisvollen Freuden des verbotenen Trinkens nach Kneipenschluss – und des Gefühls der Dazugehörigkeit zu einem sehr kurzlebigen Klub. Romantisch wie eine Holzhütte in Yukon, doch die Zeit sabbert schon wie ein zahnloser Wolf vor verschlossener Tür.

Genau solch eine Atmosphäre herrschte im »Crib«, einem Pub, das trotz seines Namens für Kinder kaum geeignet war. Es war nach halb eins. Draußen auf den Straßen von Saracen, einem ruppigen Viertel nördlich des Zentrums, war es ruhig. Drinnen hatten fünf Menschen spontan ein Pentagramm gebildet und dazu aufgerufen, sich selbst zu feiern.

Einer von ihnen war der ständige Barkeeper Charlie, der von einem Pub in Calton hierhergekommen war. Er war Mitte fünfzig und seinem Alter an Klugheit weit voraus. Obwohl er den Großteil seines Lebens zwischen gewalttätigen Männern verbracht hatte, waren seine schlimmsten Auseinandersetzungen solche mit Bierfässern gewesen.

Das Geheimnis seines narbenfreien Gesichts war ein feines Gespür für Hierarchien. Wie ein Glasgower Knigge kannte er exakt die für jede beliebige Situation angemessene Form der Ansprache. Außerdem arbeitete er für einen Mann, dessen Namen andere sich überzogen wie eine Livree aus Panzerstahl. Hatte man Beziehungen zu John Rhodes, war das ein bisschen, als hätte man Securicor als Taxiunternehmen verpflichtet.

Ein Vorteil, den Charlie nie ausnutzte. Selbst jetzt, in der sicher abgesperrten Kneipe, zügelte er sich, weil er wusste, dass Ausgelassenheit angreifbar macht. Er hatte zwei nicht allzu große Whisky getrunken und leise in den Refrain eines Lieds eingestimmt.

Dass er genau wusste, wo er war, war weniger entscheidend als dass er wusste, wo er nicht war, nämlich im Krankenhaus. Dies hier war Dave McMasters Veranstaltung. Charlie begnügte sich damit, einer weiteren von Daves Geschichten zu lauschen.

»Die gehen also auf den Barras, den Markt, okay? Einer ist als Nikolaus verkleidet. Ein Zentner Baumwolle und Gummistiefel von der Armee. Der andere schleppt die Spielsachen, kleine Modellautos und angesabbertes Kaugummi. Nikolaus lockt sie an, und sein Helfer nimmt ihnen das Geld ab. So machen die das den ganzen Tag, verziehen sich nur ab und zu zum Aufwärmen ins Pub. Gut. Als dichtgemacht wird, sind sie auch wieder drin. Teilen die Beute. Nur dass der Helfer zwei Drittel haben will und der liebe Nikolaus nur eins bekommen soll. Nikolaus ist stinkig. Und zack! Könnt ihr euch das vorstellen? Er präsentiert ihm ein Geschenk. Dann tätowiert er ihm die Rippen mit den Stiefeln. Flucht so laut, dass sein Bart Feuer fängt. Am lustigsten war’s, als der Türsteher die beiden rausgeschmissen hat. Nikolaus liegt auf dem Gehweg und der Rausschmeißer schreit: Du hast Hausverbot, Nikolaus! Hausverbot. Nikolaus hat Hausverbot.«

Charlie lachte mit, aber nicht mit derselben Unbekümmertheit wie die anderen. Er hatte begriffen, worum es ging. Die anderen drei hofierten Dave.

Das Mädchen war seine Freundin. Jedes Mal, wenn er etwas sagte, fraß sie ihn mit Blicken auf. Lachte über seine Witze, als gelte es einen Wettstreit zu gewinnen.

Mit ihrem vornehmen Akzent, ihren schicken Klamotten und ihrer blonden Eleganz gehörte sie hierher wie eine Jungfrau ins Bordell. Aber wahrscheinlich steckte mehr dahinter, als der erste Eindruck vermuten ließ. Sie war jetzt schon seit einem Monat ständig in Daves Nähe. Was auch immer sie an ihm anziehend fand, seine zuvorkommenden Manieren konnten es nicht sein.

Dave McMaster war die neue Version eines alten Typs. Charlie hatte schon einige von seiner Sorte erlebt, Rabauken mit der Ambition, sich einen Ruf über den eigenen Freundeskreis hinaus aufzubauen und das eigene Hobby, Gewalt, zum Beruf zu machen.

Bei einer Schlägerei mit zwei jungen konkurrierenden Banden aus Possil war Dave ausgetickt, hatte ein Bajonett geschwungen und mehr als sechs Gegner in die Flucht geschlagen. Charlie konnte sich vorstellen, wie er am nächsten Morgen aufgewacht war und plötzlich einen Ruf zu verteidigen hatte, der ihm ebenso viel abverlangte wie eine Heroinsucht. Seither hatte er sich weiterentwickelt, aber Charlie zweifelte immer noch. Dave war sehr schnell aufgestiegen. Jetzt war er die rechte Hand von Hook Hawkins, der im Auftrag von John Rhodes vier Pubs in Saracen führte, darunter auch »The Crib«. Dave war ehrgeizig. Charlie fragte sich nur, ob er sich in seinem Ehrgeiz nicht übernahm.

Keiner der anderen schien Charlies Bedenken zu teilen. Sie waren so kritisch wie ein Fanklub. Außer dem Mädchen saßen dort Macey, ein kleinkrimineller Einbrecher, und ein Junge namens Sammy, den Charlie nicht kannte. Wahrscheinlich wollte sich Macey in Daves Fahrwasser hocharbeiten.

Sammy war Tourist, Macey hatte ihn hier eingeführt. Er sah aus wie ein Vetter vom Land. Seine Augen glänzten vor Bewunderung für Daves Unerbittlichkeit. Vermutlich gehörte er zu der Sorte von Schwachköpfen, die Eintrittskarten für Verkehrsunfälle kaufen. Er wollte unbedingt dazugehören, konnte sich aber selbst nicht helfen.

Er hatte eine lustige Geschichte zum Besten geben wollen, war damit aber rübergekommen wie einer, der eine Partie Golf Loch für Loch nacherzählt. Zum Glück konnte er singen, seine helle, schöne Stimme hatte ihn nicht verdient. Charlie ging durch den Kopf, dass Sammy besser zu Hause geblieben wäre und nur Kassetten von sich geschickt hätte.

»Das ist wahr«, sagte Dave. »Als die bei ihm waren, stand eine Drechselbank im Schlafzimmer. Und er wusste nicht mal, was man damit macht. Hat sie nur mitgehen lassen, falls sie was wert ist. Wofür das Ding gut sein kann, hat er erst aus der Anklageschrift erfahren.«

Das Gelächter entsprach nicht dem Witz des Gesagten, nur der Autorität, mit der Dave es vorgetragen hatte. Seine selbstbewusste Ausstrahlung ließ alles, was er sagte, lustig erscheinen, auch wenn es in der Nacherzählung auf ein Nichts zusammengeschrumpft wäre. Als es an der Tür zur Straße klopfte, lachten sie immer noch.

Dave zog eine Grimasse.

»Sieh nach, Charlie«, sagte er. »Wenn’s niemand Besonderes ist, wirf ihn raus.«

Charlie ging zur Tür und machte auf, ließ die Kette aber vorgelegt. Durch den Spalt sah er Cam Colvin. Hinter ihm standen zwei andere, die Charlie nicht erkennen konnte. Was auch nicht nötig war. Cam Colvin genügte. Charlie wünschte, John Rhodes wäre da.

»Mr Colvin. Kann ich helfen?«

»Du kannst dir selbst helfen, indem du die Tür aufmachst. Es sei denn, du willst einen zweiten Durchbruch zur Straße.«

Charlie kannte seine Aufgaben, und sich Cam Colvin zu widersetzen gehörte nicht dazu. Dave hatte nur gesagt, wenn’s jemand Besonderes ist, sollte er ihn reinlassen. Cam war jemand Besonderes. Charlie zog die Kette ab.

Hinter Cam traten Mickey Ballater und Panda Paterson ein. Mickey war eine Zeit lang aus Glasgow weg gewesen und nicht mehr so bekannt wie früher, aber Charlie hatte ein gutes Gedächtnis.

Panda hieß wegen seines trügerisch gemütlichen Aussehens so, er war groß und schwerfällig, hatte ein rundes unschuldiges Gesicht. Er hätte ein Teddybär sein können, wären seine Krallen nicht echt gewesen.

Charlie ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Keiner von ihnen gehörte zu Colvins Männern. Charlie, der wusste, dass Paddy Collins im Sterben lag, konnte nur vermuten, dass sie im Vicky aufmarschiert waren, um Cam gegenüber guten Willen zu zeigen, wie ein rückwirkendes Alibi. Aber bestimmt war Ballater nicht nur deshalb aus England hierhergekommen. Beide hatten Paddy Collins gekannt, was aber ihr Erscheinen nicht erklärte. Charlie gefiel das nicht. Er wusste ziemlich genau, wer zu wem gehörte, und seltsame Zusammenstellungen machten ihm stets Sorge. Meist bedeuteten sie Ärger. Er schloss die Tür ab und folgte ihnen, dann stellte er sich hinter die Bar.

Cam Colvin blieb in einigem Abstand zu den bereits dort Sitzenden stehen. Sie sahen einen mittelgroßen Mann in einem Crombie-Mantel. Seine Klamotten wirkten ausnahmslos teuer, aber ein kleines bisschen der Mode hinterher, als hätte er The Tailor and Cutter immer nur beim Zahnarzt im Wartezimmer gelesen. Die Haare waren zu lang, aber gut geschnitten. Charlie fragte sich, ob sie wussten, wen sie vor sich hatten.

Auf der Tabelle der Glasgower Profigangster, die inoffiziell in Pubs und auf Grundlage unglaublicher Anekdoten von denen erstellt wird, die sich auskennen, rangierte Cam Colvin derzeit an der Spitze. Die Eigenschaften, die wie Punkte bei einer Fußballliga angeführt wurden und seinen Platz rechtfertigten, waren seine extreme Bösartigkeit und seine absolute Vorsicht. Sein Name stand für brutale Präzision, darin ähnelte er einem paranoiden Computer.

Wenn er sich gewaltsam Zugang zu einem Pub verschaffte, das John Rhodes gehörte, war dies nicht auf Leichtsinn zurückzuführen. Es bedeutete, dass ihm etwas sehr Ernstes auf der Seele brannte.

»Cam«, sagte Dave. »Charlie, gib dem Mann was zu trinken. Was darf’s denn sein?«

Charlie rührte sich nicht. Er wusste, wer die Befehle gab.

»Ich suche Hook.«

»Ist heute Abend nicht da, Cam. Worum geht’s?«

»Ich hab nicht gesagt, dass ich dich suche. Ich erklär’s ihm selbst. Wo ist er?«

Die Stimme war hell und ausdruckslos und ließ die automatische Zeitansage der Telefongesellschaft exaltiert klingen.

»Keine Ahnung«, sagte Dave. »Ich glaub nicht, dass er heute Abend zu Hause ist. Soll ich ihm was ausrichten?«

Cam ging an Dave vorbei ins andere Zimmer, kam aber gleich wieder zur Tür zurück.

»Mach Licht«, sagte er zu Charlie.

Charlie machte Licht. Solange Cam weg war, musterte Panda Paterson das Mädchen, als stünde es auf der Speisekarte.

»Wie heißt du?«, fragte er sie.

»Geht dich nichts an«, erwiderte Sammy.

Der Klang seiner Stimme erschreckte ihn selbst. Als hätte sich etwas spontan entzündet, ein atmosphärischer Unfall. Er war so versunken in die Situation, in den Auftritt Daves und der anderen, dass er sprach wie sie, nicht wie er selbst. Betreten sah er sich um, als wollte er denjenigen ausfindig machen, dessen Stimme aus seinem Mund gekommen war. Panda begutachtete ihn wie eine Bakterienkultur.

»Ihr Name ist Lynsey«, sagte Dave. »Und sie gehört mir.«

Panda sah ihn an.

»Dann bist du mit einem Chauvinistenschwein zusammen«, sagte er. »Du bist Dave McMaster.«

»Ich weiß, wer ich bin. Wer bist du?«

Daves ahnungslose Dreistigkeit gehörte zu den Dingen, die Charlie an ihm Sorgen machten. Eines Tages würde er beim Wikingerspielen ersaufen.

»Ich nehm ein Pint Heavy«, sagte Panda.

Charlie zapfte, während Cam Colvin zurückkam. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Er sah Dave an.

»Sag Hook, ich will ihn sprechen«, meinte er. »Macey, du kannst mir Bescheid geben. Wo und wann. Aber schnell. Sag das Hook.«

Panda Paterson nahm sein Pint vom Tresen. Er ging zu den anderen, als wollte er sich dazusetzen, und kippte ganz langsam sein Bier über Sammys Kopf. Charlie vermutete, Panda wollte Cam zuliebe eine Vorstellung inszenieren. Mickey Ballaters Miene war undurchdringlich.

Es dauerte sehr, sehr lange und war ein Akt von ausgesprochener Grausamkeit, sadistischer als ein Faustschlag. Je langsamer er goss, desto umfassender schien Sammys Erbärmlichkeit. Die anderen sahen zu, wie er zunächst erschrak, seine Wut unterdrückte, aufstehen wollte, es sich dann aber doch anders überlegte und sich mit einem entsetzlichen Selbstverständnis begnügte. Er schloss die Augen und verhielt sich reglos wie eine Leiche. Als Panda Paterson beinahe schon gewissenhaft die letzten Tropfen aus dem Glas schüttelte, leuchtete Sammys Schmach grellbunt. Die anderen ertrugen den Anblick kaum. Panda stellte das Glas vorsichtig ab, es war so leer wie Sammys Ego.

Cam Colvin hatte desinteressiert zugesehen, anscheinend war er mit den Gedanken woanders.

»Sag Hook Bescheid«, sagte er und ging, gefolgt von den anderen beiden. Dave erlaubte dem Schweigen nicht, sich auszubreiten.

»Hol einen Lappen!«, sagte er verächtlich.

Es war nicht ganz klar, wem seine Verachtung galt. Während sich niemand sonst rührte, holte Charlie einen Lappen und wischte Sammy wie eine Mutter trocken.

»Zum Teufel, Kleiner«, sagte Charlie. »Stillhalten war genau richtig. Ich hätte es genauso gemacht. In dem Kampf gab’s nicht mal Gewichtsklassen. So ein großes Arschloch, wie der eins ist, kannst du gar nicht werden. Das ist ein richtiger Schweineficker. Als der klein war, hat er alten Frauen halb über die Straße geholfen. Überlass den John.«

Das Menschliche in Charlies Stimme ließ den Raum allmählich tauen. Das Mädchen sagte: »Puuuh.« Macey legte Sammy eine Hand auf die Schulter.

»Vergiss es, Junge«, sagte er, was ungefähr dasselbe war wie einem Napalmopfer Heftpflaster zuzuwerfen. »Worum ging’s eigentlich?«

»Ärger«, meinte Dave McMaster. »Jemand steckt in Schwierigkeiten.«

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