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William McIlvanney

Die Suche nach
Tony Veitch

Aus dem Englischenvon Conny Lösch

Verlag Antje Kunstmann

Für Hilda, sie weiß warum

1

FREITAGNACHT, GLASGOW. Die Stadt der starren Blicke. Mickey Ballater stieg an der Central Station aus dem Zug und hatte das Gefühl, nicht in den Norden, sondern in die eigene Vergangenheit gereist zu sein. Als er in die Bahnhofsvorhalle trat, hielt er kurz inne, wie ein Forscher, der sich auf die der Region eigentümliche Fauna besinnt.

Und doch war hier nichts, das einem nicht auch andernorts hätte begegnen können. Vorübergehend fiel es ihm schwer, die Atmosphäre zu fassen. Im Grunde sagen alle Städte dasselbe, nur der Tonfall ist anders. An den von Glasgow musste er sich erst wieder gewöhnen.

Menschen standen in Trauben herum und schauten auf die Tafeln mit den Abfahrtszeiten. Offenbar glaubten sie, ihre Reiseziele allein durch drohende Blicke erscheinen lassen zu können. Auf den Bänken ihm gegenüber fühlten sich zwei Frauen zwischen Einkaufstüten heimisch. Nicht weit davon entfernt führte ein Säufer mit grell orangefarbenem Bart, der so lang war, dass er auch als Bettdecke hätte dienen können, eine hitzige Diskussion mit einem Guinness-Plakat.

»Von denen bekommen Sie nichts, Sir.« Ein kleiner Mann, der stehen geblieben war, um den Säufer zu beobachten, hatte das gesagt. Er war Mitte sechzig, aber sein Gesicht wirkte so schelmisch wie das eines jungen Hundes. »Hab’s letzte Woche auch über eine Stunde lang versucht.« Bevor er weiterging, warf er Mickey noch einen Blick zu. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.«

In diesem Augenblick kam Mickey in Glasgow an. Keine anonyme Stadt, sondern eine der Nähe, die trotz der Weitläufigkeit ihrer Elendsviertel so geräumig erschien wie ein Bus in der Rushhour. Erneut verstand er, welche Erwartungen ihn jedes Mal bei seiner Ankunft hier überfielen. Man konnte nie wissen, woher der nächste Einbruch in die eigene Privatsphäre kam.

Er erinnerte sich auch, warum er Birmingham einfacher fand. In Glasgow wimmelte es vor enthusiastischen Amateuren und Sonntagsrowdys. Man bekam ebenso schnell vom Busschaffner eine gescheuert wie von einem stillen Mann in einer Schlange, vor allem nachts. Der Text eines Songs über Glasgow fiel ihm wieder ein:

Going to start a revolution with a powder-keg of booze,

The next or next one that I take is going to light the fuse –

Two drinks from jail, I’m two drinks from jail.

Trotzdem war es gut, wieder zu Hause zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Zumal er wusste, dass er mit sehr viel mehr Geld abreisen würde, als er mitgebracht hatte. Nur von Paddy Collins keine Spur.

Er ging zur »Royal Scot Bar« in der Bahnhofshalle und durch die Glastür. Auf den orangefarbenen Plastikschalen, die wohl das waren, was sich irgendein Designer mal unter einem Stuhl vorgestellt hatte, saßen drei oder vier Leute. Sie hatten nichts miteinander zu schaffen und wirkten dabei irgendwie abwesend, wie aus sich selbst vertrieben oder im Übergang zwischen zwei Inkarnationen. Hier herrschte die düstere Unaufgeräumtheit eines Ortes, der niemandem gehört, ein Abfalleimer verschwendeter Zeit.

Aber die Gespräche am Tresen – wo er nicht vergaß, ein Pint »Heavy« und kein »Bitter« zu verlangen – ließen vermuten, dass dies die Stammkneipe nicht weniger war. Die Barfrauen mochten die Erklärung dafür sein. Die eine war jung und hübsch und so bunt geschminkt wie ein Schmetterling. Die andere älter. Früher musste auch sie hübsch gewesen sein. Jetzt war sie besser als das. Dem Aussehen nach musste sie Mitte oder Ende dreißig sein, hatte anscheinend aber keine Zeit verschwendet. Ihre Augen suggerierten, Ali Babas Höhle könne sich dahinter verbergen, vorausgesetzt, man kannte das Passwort und kam den vierzig Dieben zuvor.

Mickey ließ sich sein Bier schmecken und dachte an Paddy. Er hätte hier sein müssen. Kein guter Anfang. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es zu Komplikationen gekommen war, denn die Sache schien so riskant wie ein Überfall auf ein Baby im Kinderwagen.

Ein Mann mit Brille am Tresen war betrunken genug, um sich einzubilden, er habe einen privaten Draht zu der Barfrau mit den Augen. Auf dem Grund seines Glases hatte er magische Kräfte entdeckt, und nun starrte er sie auf eine Weise an, der keine Frau widerstehen konnte. Jedenfalls glaubte er das. »Das ist die Wahrheit«, sagte er. »Wenn ich’s dir doch sag. Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen hab.« Sie blickte stumpf an ihm vorbei und stülpte ein Pintglas über die Spülbürsten. Er hätte genauso gut geniest haben können.

»Ich sag’s dir. Die schönsten Augen, die ich je gesehen hab.«

Sie schaute ihn an.

»Verrätst du mir den Namen deines Optikers? Dann schick ich meinen Mann hin.«

Mickey fand, es reichte. Er trank aus und nahm seine Reisetasche. Anschließend ging er runter zu den Toiletten und knurrte, weil er am Drehkreuz zahlen musste. Heutzutage kostet alles. In der Kabine machte er die Tasche auf, kramte darin nach dem lose verpackten Messer, dessen Klinge keinen Griff hatte, sondern nur mit schwarzem Klebeband umwickelt war. Er steckte es in die Innentasche seines Jacketts. Dann zog er die Spülung.

Als er herauskam, sah er einen Mann, der wie ein Ölarbeiter aussah und seinen heftigen Bartwuchs gerade mit einem kleinen elektrischen Rasierer bändigte. Wie Sandpapier auf Rauputz. Ballater gab seine Tasche an der Gepäckaufbewahrung ab und trat hinaus auf die Gordon Street.

Das Gewicht des Messers fühlte sich gut an, ohne dieses Argument begab er sich nicht gerne an unvertraute Orte. Aus seiner anderen Innentasche zog er einen Zettel und las die Adresse. Am besten ging er die West Nile Street rauf und dann immer weiter.

Der Abend war angenehm. Vorbei am Empire House, das ihm gut gefiel, und zwei Männern, die sich unterhielten. Der eine erzählte von den Trinkgewohnheiten seiner Frau. »Davon würden einer Natter Titten wachsen«, sagte er.

Der Eingang war schäbig. Den italienischen Namen, den er suchte, fand er im dritten Stock. Er drückte auf die Klingel. Der Elektrorasierer von vorhin hatte dagegen melodiös geklungen. Nichts passierte. Er drückte noch einmal, lange, und lauschte. Stöckelschuhe in einem teppichlosen Flur. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Die Frau wirkte unkonzentriert, als wäre sie noch nicht vollständig von dort wieder zurückgekehrt, woher sie kam.

»Kannst du später noch mal kommen?«

Tatsächlich ein italienischer Akzent.

»Nein«, sagte er und stieß die Tür auf.

»Warte.«

Aber er war schon drin. Erschrocken hatte sie die Tür zuhalten wollen, dabei war ihr rosa Morgenmantel kurz aufgegangen. Darunter trug sie nur einen schwarzen Strapsgürtel, Strümpfe und Schuhe mit Stilett-Absätzen. Wer auch immer im Schlafzimmer wartete, er stand auf Schuhe. Mickey schloss die Tür.

»Ich bin ein Freund von Paddy Collins«, sagte er. »Wenn du keine Zeit hast, nimm dir welche.«

Er ging den Flur entlang ins Wohn- und Esszimmer, das irgendwann einmal mit guten Absichten eingerichtet worden war. Hier gab es einen Korbstuhl mit roten Kissen, einen bunt gemusterten Sessel und ein dazu passendes Sofa. Außerdem einen weißen, runden Tisch mit passenden Stühlen. Es war unaufgeräumt und staubig. Auf dem Tisch standen schmutzige Tassen, eine Kante vertrocknetes Brot lag daneben.

Sie war ihm gefolgt, hatte den Gürtel ihres Morgenmantels fest zugezogen, sie wirkte beunruhigt.

»Ich kann nicht«, sagte sie und glaubte ihren eigenen Worten nicht.

»Oh doch, du kannst.«

Ein Mann erschien im Türrahmen. Er hatte sich die Hose hochgezogen und sein Bauch schwabbelte über dem Bund. Seine nackten Füsse wirkten verletzbar. In seinem Gesichtsausdruck lag die Gereiztheit eines Kunden, der guten Service gewohnt und jetzt enttäuscht worden war.

»Verdammt«, sagte er. »Was ist hier los?«

»Zieh dich an«, sagte Mickey.

»Ich hab aber bezahlt.«

»Du willst doch nicht ramponiert nach Hause. Deine Frau wird sich fragen, was passiert ist.«

»Hör zu …«

»Ich hab zugehört, jetzt reicht’s. Schwing dich aufs Fahrrad. Sofort. Es sei denn, du willst deine Fresse im Taschentuch nach Hause tragen.«

Mickey setzte sich in den Korbsessel. Der Mann verschwand im Schlafzimmer. Die Frau wollte ihm hinterher, sah aber Mickey an. Er nickte sie zu dem bunten Sessel. Sie setzte sich. Nicht schlecht für eine Nutte, dachte Mickey, allmählich wird sie fett, aber aus dem Leim ist sie noch nicht. Die Schuhe taten ihren Beinen gut, sonst wären sie zu schwer gewesen. Sie nahm ein Päckchen Zigaretten vom Wohnzimmertischchen neben ihrem Sessel und bot es Mickey an. Er schüttelte den Kopf. Sie nahm sich Feuer und beide hörten, wie sich der Mann im Schlafzimmer anzog.

Dann tauchte er wieder im Türrahmen auf. Mit Kleidern wirkte er beeindruckender. Anscheinend hatte er mit ihnen auch Empörung angelegt.

Er sagte: »Ich denke …«

»Schön für dich«, erwiderte Mickey. »Weiter so. Jetzt verpiss dich.«

Der Mann ging. Mickey wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann sprach er.

»Du bist also Gina.«

Sie nickte nervös.

»Ich bin Mickey Ballater.«

Sie riss die Augen auf und überschlug die Beine. Der Morgenmantel rutschte und Mickey ließ den Blick auf ihrem Schenkel ruhen.

»Wo ist Paddy Collins? Er wollte sich mit mir treffen.«

Sie zuckte mit den Schultern und blickte zur Decke. Mickey stand auf, ging zu ihr, beugte sich über sie und schlug ihr fest ins Gesicht. Sie fing an zu weinen. Dann ging er zurück und setzte sich wieder. Während sie sich langsam fing, sah er sich im Raum um.

»Wo ist Paddy Collins?«

»Im Krankenhaus.«

»Wieso?«

»Wurde niedergestochen.«

»Von wem? Weißt du das?«

»Sein Schwager war gestern da. Sehr wütend. Sagt, Paddy ist verletzt. Schlimm. Glaubt, Paddy wird sterben.«

Es dauerte nicht lange, bis der Gedanke an Paddy Collins Mickeys Bedauern in Energie verwandelte, wie wenn man alte Fotos ins Feuer wirft. Starb Paddy Collins, würde mehr für ihn abfallen, sobald er Tony Veitch gefunden hatte. Aber ganz unproblematisch war das nicht.

»Sein Schwager, Cam Colvin? Bist du sicher?«

»Mr Colvin.«

»Das hat uns noch gefehlt. Woher wusste der von dir?«

»Paddy hatte meine Adresse dabei.«

»Praktisch. Was hast du ihm gesagt?«

»Dass Paddy Tony Veitch sucht.«

»Sieht aus, als hätte er ihn gefunden. Was noch?«

»Sonst nichts. Ich weiß sonst nichts.«

Mickey fand die schottische Färbung ihres italienischen Akzents sexy. Allmählich nahm er sie wahr.

»Hast du ihm von mir erzählt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sicher?«

»Paddy hat gesagt, ich darf nichts sagen. Sonst.«

Sie machte eine halsabschneidende Geste. Beinahe hätte Mickey gelacht. Das klang auf jeden Fall nach Paddy, Frauen einschüchtern, das konnte er, und zwar immer noch genau auf dieselbe Tour wie im Drehbuch eines alten Films mit Edward G. Robinson.

»Was hat Paddy noch gesagt?«

»Wenn ich mache, was er will, wird alles gut.«

Klang überzeugend. Paddy hatte auch Mickey nicht viel erzählt. Er wusste nur, dass Veitch Hook Hawkins’ Bruder kannte. Und so wie es aussah, würde Paddy Geheimnisse künftig noch viel besser für sich behalten können.

»Wo ist Tony Veitch?«

»Niemand weiß das.«

»Komm schon. Cam Colvin war doch im Krankenhaus.«

»Er liegt im, wie sagt man? Im Com-Como?«

»Verfluchte Scheiße. Was soll das heißen?«

»Como? Komma?«

Mickey starrte sie an.

»Koma. Du meinst, Paddy liegt im Koma?«

»Kann nicht reden.«

»Aber du kennst Tony Veitch.«

»Nicht gesehen seit dem Ärger mit Paddy. Seit zwei Wochen hat ihn niemand gesehen.«

»Ach!« Ballaters Augen bohrten sich in die Decke. Er zeigte auf sie.

»Hör zu, ich bin nicht wegen der schönen Aussicht hier. Egal, was du weißt, erzähl’s mir lieber.«

»Für Tony bist du mein Mann.«

Er betrachtete sie ganz genau. Sie wirkte nicht abgebrüht, eher wie eine Amateurin, die immer noch staunte, dass sie Geld dafür bekam. Als sie Veitch geködert hatte, muss sie sich schön gewundert haben, dass Paddy ihr plötzlich auch noch einen vermeintlichen Ehemann verpasste, von dem Veitch sie freikaufen sollte. Wahrscheinlich hatte sie am Anfang gar nichts davon gewusst.

Aber viel Zeit blieb nicht. Wenn Veitch Paddy auf dem Gewissen hatte, konnte der Erwerb einer Schachtel Streichhölzer schon eine unverantwortlich langfristige Investition für ihn sein. Mickey würde schnell, aber vorsichtig handeln müssen. Er kannte sich in der Stadt gut genug aus, um zu kapieren, dass er sich nicht mehr auskannte. Zwei weitere Zeilen des Songs kamen ihm in den Sinn:

They’re nice until they think that god has gone a bit too far

And you’ve got the macho chorus swelling

Out of every bar.

Durch Minenfelder hüpft man nicht. Er brauchte einen Sprengstoffdetektor. Ihm ging auf, dass Cam Colvin dafür infrage kam.

»In welchem Krankenhaus liegt Paddy?«, wollte er wissen.

»Victoria Infirmary.«

Ein Baby fing an zu weinen. Gina drückte die Zigarette aus, achtete dabei auf ihre Nägel. Sie stand auf und er hörte ihre Schritte auf dem Boden im Flur draußen, dann die vertrauten Geräusche, mit der eine Mutter ihr Kind beruhigt, als könne sie ihm ein Geheimnis verraten, das es beschützen wird, auch wenn sich die ganze Welt gegen beide verschwört.

Er verließ den Raum und fand das Telefon im leeren Schlafzimmer, wo das Licht noch brannte und das Bett zerwühlt war. Die Stimme am Telefon im Victoria Infirmary erklärte ihm, Mr Collins’ Angehörige seien bei ihm. Er rechnete sich aus, dass er noch ein bisschen Zeit hatte.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand sie unsicher am Kamin. Als er auf sie zuging, drehte sie sich um und zuckte leicht zusammen, als habe er sie schlagen wollen. Dann öffnete er den Gürtel ihres Morgenmantels und ließ ihn zu Boden gleiten. Er zeigte Richtung Schlafzimmer. Als sie unbeholfen dorthin stakste, fiel ihm auf, dass sie zitterte.

»Wenn du schon angeblich meine Frau bist«, sagte er. »Können wir auch in die Flitterwochen fahren.«

2

DER ANRUF WAR KAUM MEHR als eine belanglose Störung, aber schon ein einziger Stein kann eine Lawine ins Rollen bringen.

»Und dann«, hatte Ena gesagt. »Was glaubt ihr wohl? Der Wagen hat den Geist aufgegeben. Hoffnungslos abgesoffen. Mitten im Clyde Tunnel. Und wo war Jack? Natürlich mal wieder bei einem Fall. In Morecambe!«

Laidlaw kannte die Geschichte. Er hatte Ena schon einmal schonend beizubringen versucht, dass es vielleicht mit Ausnahme der Nordvietnamesen auf der ganzen Welt niemanden mehr gab, der sie nicht kannte. Seine Gereiztheit rührte daher, dass er inzwischen begriffen hatte, welche Bedeutung sie für Ena besaß: das Versagen des Verbrennungsmotors stand für seine Vernachlässigung ihrer Ehe.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte nebenherrennen sollen.«

Die anderen nahmen die Bemerkung amüsiert hin, wie einen anzüglichen Witz auf einer Beerdigung. Laidlaw spürte, dass sein Gefühl von Isoliertheit in Aggression umschlug. Das Telefon rettete ihn.

»Ich geh dran«, sagte er.

Er achtete darauf, sein Schritttempo zu zügeln, damit der Teppich nicht Feuer fing. Das Telefon stand im Flur.

»Hallo?«

»Ist da Detective Inspector Jack Laidlaw?«

»Genau.«

»Der Detective Inspector Jack Laidlaw? Leiter des Crime Squad? Beschützer der Armen? Anwalt der kleinen Leute?«

Zuerst erkannte Laidlaw den Stil, dann die Stimme. Es war Eddie Devlin vom Glasgow Herald.

»Du liebe Zeit, Eddie«, sagte er. »Deine Witze werden immer schlechter. Hättest du nicht deinen Korrektor mit ans Telefon holen können?«

»Das kommt davon, dass man der Öffentlichkeit ständig geben muss, was sie von einem erwartet. Hör zu, Jack. Im Royal liegt jemand in der Notaufnahme, der dich dringend sprechen will.«

»Heute noch? Hat er auch gesagt, ob ich Maltesers oder dunkle Trauben mitbringen soll? Was willst du, Eddie?«

»Nein. Im Ernst, Jack. Ich hab den Tipp von einem Pförtner bekommen. Ein alter Säufer, mit einem Kratzschwamm am Kinn. Stinkt wie ein Fass nach der Weinernte. Er ist gerade so noch bei Bewusstsein. Aber er hat immer wieder nach Jack Laidlaw gefragt. Will unbedingt Jack Laidlaw sprechen. Der Pförtner gehört zu meinen Informanten, weißt du? Na ja, er hat schon mal mitbekommen, dass ich von dir gesprochen habe. Deshalb dachte er, er sagt’s mir lieber. Für mich springt dabei nichts raus. Wahrscheinlich deliriert der Alte im Suff. Nichts für ungut, Jack, aber Errol Flynn bist du nicht gerade. Vermutlich trotzdem noch besser als Spinnen und rosa Elefanten.«

»Ist er verletzt?«, fragte Laidlaw.

»Anscheinend nicht. Aber ich hab nicht viel rausbekommen. Er gibt sich Mühe, aber mit dem Reden hat er’s nicht so.«

»Wann hast du den Anruf bekommen, Eddie?«

»Hier im Pub. Vor fünf Minuten. Dachte, ich sag dir lieber Bescheid, bevor ich gehe. Will noch mal im Vicky vorbei. Wegen Paddy Collins. Vielleicht bekomme ich ja ein paar berühmte letzte Worte. Egal, mach was du willst, Jack.«

»Danke, Eddie. Bin dir was schuldig.«

»Schon gut. Wenn die Revolution kommt, hätte ich gerne einen Presseausweis. Bis bald, Jack.«

»Bis bald.«

Laidlaw legte auf. Eddies Stimme hatte ihm das Trommelfell durchbohrt. In der Stadt war einiges los. Aber er hatte Gäste. Oder besser, Ena hatte Gäste. Er wollte fair sein, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie ihn nicht vermissen würden. Wahrscheinlich würden sie seine Abwesenheit sogar als Erleichterung empfinden.

Jedes arbeitsfreie Wochenende war verplant. Ena hatte sich an die sozialunverträglichen Dienstzeiten bei der Polizei gewöhnt und gelernt, fehlende gemeinsame Stunden wieder wettzumachen. Wenn Laidlaw darauf bestand, mit dem Kalender umzugehen wie ein Alkoholiker mit Schnaps – lange Abwesenheiten, kurze Stippvisiten zur Ausnüchterung zu Hause –, so hatte sie beschlossen, seine Freizeit grundsätzlich gemeinsam mit ihm zu verbringen. Sie setzte Babysitter ein wie Schachfiguren – matt. Seinen Durst nach den Straßen Glasgows bekämpfte sie mit Ereignissen, so sorgfältig abgefüllt wie selbst gekelterter Wein, jede Flasche längst im Voraus etikettiert. »Freitag – Frank und Sally.« »Samstag – Party bei Mike und Aileen.« »Samstag – Film mit Al Pacino im La Scala. Babysitter schon bestellt.«

Heute war »Freitag – Donald und Ria«. Nicht ihr bester Jahrgang und mit einer starken Kohlsuppennote im Abgang, auf keinen Fall berauschend, aber vielleicht, hoffte Laidlaw, würden die zwischenmenschlichen Geschmacksknopsen langfristig so abstumpfen, dass er eine Binsenweisheit nicht mehr von einem Lebenselixier unterscheiden konnte. Er bemühte sich, nichts gegen Donald und Ria zu haben. Trotzdem hatte er, wenn sie zu viert zusammensaßen, das Gefühl, an einer Feldstudie über Gruppensedierung teilzunehmen.

Außerdem ging es vielleicht um jemanden, der ihm einen Gefallen getan hatte. Jemanden, der im Sterben lag. In dem Raum, den er gerade verlassen hatte, lag niemand im Sterben. Wahrscheinlich waren die dort Anwesenden längst tot. Im Sterben lagen sie jedenfalls nicht.

Er trug ein rotes Polohemd und eine schwarze Hose, holte seine Jeansjacke aus dem Schrank im Flur und zog sie über. Gerne hätte er das Komitee von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt, aber dann hätten die Anwesenden Veto eingelegt. Seine Entscheidung stand fest. Er hatte ein schlechtes Gewissen, aber das Gefühl war ihm vertraut.

3

ES WAR NUR EINE KURZE FAHRT von Cathcart, wo Laidlaw lebte, bis zum Royal Infirmary in der Cathedral Street, aber ein Riesenunterschied. Zum Glück wandelte sich die Architektur stufenweise, wie in Druckkammern, sodass man keine Kopfschmerzen davon bekam.

Das erste Tor stand halb offen und er fuhr durch. Viele Autos parkten hier, aber es war noch genug Platz. Er schloss den Wagen ab, und wieder wurde ihm bewusst, wie groß das Gebäude war, drei riesige miteinander verbundene Einheiten, jede mit einem imposanten Kuppeldach, wie eine Burg aus schwarzem Stein. Krankheit erschien ihm hier weniger als ein Gleichmacher denn als Ritterschlag, die Voraussetzung für den Zugang zur gothischen Aristokratie.

Auf der anderen Seite des Hofs befand sich die Unfallstation, wie ein Torhaus, in dem zunächst die Referenzen geprüft werden. Er ging hinein, es war nach elf.

Im Flur parkten blaue Rollstühle, ungefähr dreißig. Auf einem saß ein Junge von vielleicht zwanzig Jahren. Aber er war nicht gelähmt. Er wirkte so krank, als könne er Gleise durchbeißen. Die kleinen Kratzer auf seiner rechten Wange unterstrichen nur die Härte seiner Erscheinung. Er hatte eine dünne Jacke umgelegt, deren Schultern schwarz waren vor Blut. Er wartete auf jemanden.

»Hey, du«, sagte er, als Laidlaw eintrat. »Hast du mal ne Kippe?«

Laidlaw sah neugierig zu ihm rüber. Er erkannte Alkohol, aber keine Betrunkenheit, dafür die Reste einer Aggression aus einem gewonnenen Kampf. Sein Adrenalinausstoß stand unter der Überschrift: »Wer ist als Nächstes dran?«

Laidlaw wandte sich zur Tür Richtung Notaufnahme.

»Hey, du! Großer. Ich rede mit dir. Rück mal ne Kippe raus!«

Laidlaw ging zu ihm.

»Schau mal, Kleiner«, sagte er. »Bis jetzt hast du nur ein paar Blessuren. Willst du unbedingt auf die Intensivstation?«

Der Junge guckte ratlos angesichts des fremden Wortes, aber der Tonfall war so universal wie Esperanto.

Er sagte: »Komm schon. Hab dich bloß um einen kleinen Gefallen gebeten.«

»Dann pass auf, dass deine Bitte nicht nach einer Drohung klingt.«

Laidlaw gab ihm eine Zigarette.

»Das Ende mit dem Filter steckt man in den Mund, das andere zündet man an.«

Der Junge grinste. Laidlaw wandte sich wieder Richtung Notaufnahme. Der Raum war lang, die Decke gewölbt, gleichzeitig schlicht und überladen, wie eine viktorianische Wellblechbaracke. Laidlaw begab sich hinein, als wär’s eine Zeitschleife.

Zuerst fielen ihm zwei Geister seiner Jugend auf, zwei Constables, deren Gesichter an frisch gelegte Eier erinnerten. Nicht weit von ihnen entfernt stand eine Gruppe in weißen Arztkitteln. Laidlaw hoffte, dass es Studenten waren. Die Polizisten und die Ärzte wirkten so jung, als hätten sie ihre Uniformen zu Weihnachten geschenkt bekommen. Plötzlich war Laidlaw Rip Van Winkle.

Er warf einen Blick in das Behandlungszimmer rechts. Unter der Aufsicht zweier Schwestern machte ein Arzt einem Jungen Vorhaltungen, der dort mit freiem Oberkörper saß. Er war von den Haarspitzen bis zum Gürtel blutüberströmt. Durch das Rot wirkte der Raum wie die Garderobe einer grotesken elisabethanischen Tragödie, Titus Andronicus vielleicht.

»Kein Problem!«, sagte der Junge.

Körperlich schien er recht zu haben. Laidlaw entdeckte eine längliche Platzwunde an seinem Nacken, aber sonst nichts. Ganz offensichtlich genoss er den Geschmack des Heroischen, den das eigene vergossene Blut vermitteln kann. Das wahrscheinlich Schlimmste, was man ihm antun konnte, war ihn sauber zu waschen. Danach würde er sich wieder mit sich selbst begnügen müssen. Laidlaw kannte ihn nicht, glaubte aber, dass er ihn vielleicht noch kennenlernen würde.

Gegenüber dem Behandlungszimmer befand sich eine Reihe mit Betten, durch Vorhänge voneinander getrennt. Hier bot sich Laidlaw eine Abfolge von Anblicken, die aus einem zeitgenössischen Mysterienspiel hätten stammen können. Ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen umklammerte ein blutbeflecktes Bettlaken und wartete auf jemanden oder etwas. Ein junger Mann mit einem linken Auge, das verfaultem Obst glich, beschwerte sich hysterisch über irgendeine Ungerechtigkeit, während der Arzt ihn versorgte. Eine Frau weinte, der Arm wurde ihr verbunden. »Schlimme Prügel bezieh ich von dem«, sagte sie. Ein Mann mittleren Alters erklärte einer Schwester im Beisein zweier Polizisten: »Das ist so ein wandernder Schmerz.« Laidlaw erkannte die ihm vertraute Kunstfertigkeit der Festnahmeverzögerung durch plötzliches Erkranken an geheimnisvollen Leiden.

Kabine E, von der Laidlaw wusste, dass sie früher zur Entlausung genutzt wurde, war allem Anschein nach eben noch in Benutzung gewesen, jetzt aber leer. Abgesehen vielleicht von den beiden zivil gekleideten Männern, die gerade hereinkamen, erkannte er niemanden hier. Begegnet war er ihnen noch nicht, aber ihre konzentrierte Art, sich in professionellen Bahnen zu bewegen, war ihm vertraut. Sie verschmolzen ebenso unauffällig mit ihrer Umgebung wie Mormonen.

Als Laidlaw zum Schluss noch einen Blick zurück warf, fiel ihm nichts Besonderes auf. Die Stadt durchlitt dieselben Schmerzen wie jede Freitagnacht. Hier war ihr Beichtstuhl. Man kam her, um zu gestehen, um sich zu Gebrechlichkeit, Dünnhäutigkeit oder organischer Anfälligkeit zu bekennen – der jämmerlich unzureichenden Maschinerie, der wir die Last unserer Ansprüche aufbürden.

Vor allem aber kam man her, um sich dem Blut zu ergeben. Überall war es hier, an Verletzten, Tupfern, dem Boden und den Kitteln der Ärzte. Verräterisch tropfte es aus unserem unhaltbar sicheren Selbstverständnis. Wie der Anblick von Ehrlichkeit ließ sich auch der von Blut nur schwer ertragen.

Laidlaw empfand hier noch stärker, was ihn so aufgebracht hatte gegen den Raum, aus dem er gerade kam und in dem Ena, Donald und Ria noch saßen. Er erzählte Lügen. Dieser dagegen versuchte es auch, aber er kam um das Eingeständnis seiner allgemeinen Menschlichkeit nicht herum. Der andere war exklusiv. Er fußte auf unzutreffenden Einschätzungen. Laidlaw fiel ein, dass elitäres Denken zu den Dingen gehörte, die er am allermeisten hasste. Entweder wir teilen mit allen oder wir verlieren uns.

»Hallo, Captain.«

Der Mann war schon älter, hatte eine kleine Platzwunde am Auge und mehr als nur ein bisschen was getrunken. Laidlaw hatte gesehen, wie er umhergewandert und hier und da Leute angesprochen hatte, wie Tennysons alter Seefahrer auf der Suche nach einem Hochzeitsgast.

»Sind Sie der Arzt, Sir? Geht um mein Auge hier. Hab Kopfball mit dem Gehweg gespielt. Und eins zu null verloren. Wäre ich nicht blau gewesen, hätte ich gewonnen.«

Laidlaw grinste und zuckte mit den Schultern.

»Tut mir leid«, sagte er. »Bin selbst fremd hier.«

Der Mann ging an der Trennwand vorbei. Dahinter lag das sagenumwobene Zimmer neun, der Reanimationsraum des Royal, in dem sich so ziemlich alles abgespielt hatte, was auf dem Gebiet der körperlichen Katastrophen möglich ist. Der Mann wurde sofort wieder von einem Arzt herausgeführt und Richtung Notaufnahme zurückgeschickt.

»Verzeihung«, sagte Laidlaw. »Ich suche jemanden.«

Laidlaw zeigte seinen Dienstausweis. Der Arzt warf einen Blick darauf, seine Zunge lag auf den Schneidezähnen, dann nickte er, ohne diese zu entblößen. Er konnte nicht älter als Ende zwanzig sein, mit der Brille und den strubbeligen Haaren sah er aber jetzt schon aus wie einer, der bei einem Erdbeben lediglich die Augenbrauen hochzieht. Sein Kittel war braun gesprenkelt, darauf die standesgemäßen Blutflecken.

»Harte Nacht?«, meinte Laidlaw.

»Nein. Heute ist es ruhig. Obwohl wir zwei VUPs und einen AMI hier hatten.« Er nickte Richtung Zimmer neun. »Wen suchen Sie?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Laidlaw.

Der Arzt verriet weder Erstaunen noch Belustigung oder Interesse. Er wartete einfach ab. Dann folgte er dem älteren Mann mit Blicken. Laidlaw wusste, dass ein VUP ein Verkehrsunfall mit Personenschaden war. Nach dem AMI wollte er sich lieber nicht erkundigen. Der Arzt schien nicht in Stimmung, ein medizinisches Wörterbuch zu ersetzen.

»Ich hab gehört, hier wurde jemand eingeliefert, der nach mir gefragt hat. Jack Laidlaw. Ein Mann. Unrasiert. Wahrscheinlich betrunken.«

Der Alte hatte Zuflucht bei einer Schwester gefunden. Der Blick des Arztes ruhte jetzt auf dem Boden. Er sah zu Laidlaw auf, als wollte er ihn auf eine unwahrscheinliche Verbindung prüfen.

»Sie meinen den alten Säufer?«

»Kann sein.«

»Ja. Ich glaube, das war tatsächlich der Name, den er erwähnt hat. Hat ihn ständig wiederholt. Ich dachte, dass er vielleicht selbst so heißt. Hab sonst nichts aus ihm rausbekommen. Er hat Probleme mit den Atemwegen. Gott war der dreckig. Wusste nicht, ob ich ihn erst an die Dialyse hängen oder kauterisieren soll. Eine wandelnde Beulenpest.«

»Was ist passiert?«

»Es ging ihm immer schlechter. Anscheinend hat er sich mit letzter Kraft hergeschleppt. Wir haben ihn erst mal gewaschen.«

»Und was fehlt ihm?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Alles?« Sein Blick wanderte erneut im Raum umher. »Eine bessere Diagnose, als dass er sterben wird, haben die Kollegen nicht hinbekommen. Seine Atmung verschlechtert sich rapide. Anstatt ihn hier zu intubieren, haben wir ihn auf die Intensivstation verlegt. Ist gerade eben weg.«

»Wo ist die Intensivstation?«

»Neben der chirurgischen Abteilung, das ist …«

»Ich weiß.«

»Wahrscheinlich sind Sie dort nicht erwünscht.«

»Macht nichts«, sagte Laidlaw.

Auf dem Weg nach draußen warf er dem jungen Mann im Rollstuhl noch eine Zigarette zu. Um die Götter zu besänftigen.

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