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2. April 1947

Pawel Kownas Hände steckten in löchrigen Wollhandschuhen, die kaum vor der beißenden Kälte schützten. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen von Wiesbaden. Pawel suchte in den Manteltaschen nach dem Zettel, den er am Morgen von einer der großen Holztafeln abgerissen hatte. Überall in der Stadt hatte man sie aufgestellt. Sie dienten als Nachrichtenzentralen, Treffpunkte und zum Informationsaustausch. Frauen suchten nach ihren verschollenen Ehemännern, Ausgebombte nach Unterkünften. Man tauschte Dinge, für die man keine Verwendung hatte, gegen solche, die man dringend brauchte – Brot, Kaffee oder warme Stiefel. Zigaretten und Alkohol waren die heiß begehrte neue Währung, in der gehandelt wurde. Pawel hatte drei junge Kerle beobachtet, die sich um ein Stellenangebot balgten, und ihnen die Adresse vor der Nase weggeschnappt. In diesen Tagen war sich jeder selbst am nächsten.

Seit seiner Flucht hatte er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten und während der Sommermonate für einen Hungerlohn als Erntehelfer geschuftet. Im ungewöhnlich kalten, nicht enden wollenden Winter hatte er von seinen kargen Ersparnissen gelebt, auf dem schwarzen Markt mit allem gehandelt, was einen Gewinn versprach, und sogar gestohlen, um nicht zu verhungern.

Sein Plan, nach Warschau zurückzukehren, hatte er aufgegeben, weil er keine gültigen Ausweispapiere besaß. Die Behörden verweigerten ihm einen neuen Pass, weil er keine Zeugen benennen konnte, die seine Identität bestätigten. Zwar sprach er fließend Deutsch, doch sein Akzent verriet sofort seine Herkunft. Die Suche nach Überlebenden seiner Familie war zum Scheitern verurteilt, denn ohne gültigen polnischen Pass konnte er nicht in sein Heimatland einreisen. Er war ein namenloser Flüchtling, gestrandet im Niemandsland.

So war er gezwungen gewesen, in Deutschland zu bleiben, dem Land, das er hasste und das ihm alles genommen hatte. Ohne Papiere bekam er keine Arbeit und keine finanzielle Unterstützung. Er befand sich in einer Abwärtsspirale, die unweigerlich tiefer ins Elend führte.

Pawel teilte sein bitteres Los mit Abertausenden, die der Krieg entwurzelt hatte, doch das machte es nicht leichter. Sie waren auf der Flucht oder suchten ein neues Zuhause, weil sie nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Polen, Ungarn und Tschechen zogen die ungewisse Zukunft in Westeuropa einem Leben unter Stalins Einflussbereich im Osten vor.

Nachdem die Ernte eingefahren worden war, hatte Pawel den Hof verlassen müssen. Der kümmerliche Lohn hatte gerade gereicht, um ihn bis in die Gegend um Frankfurt zu bringen. Der Bauer hatte ihm geraten, es in einer der großen Städte zu versuchen, es hieß, dort suche man dringend Arbeitskräfte. Der Tipp hatte sich als Fehlschlag erwiesen, denn viel zu viele Vertriebene drängten in die Metropolen. Unterkünfte und Lebensmittel wurden knapp, gegen Ende des Winters hungerte auch die einheimische Bevölkerung. Ganz gleich, wohin er sich wendete, man stieß ihn herum, schickte ihn weiter oder jagte ihn ganz einfach davon. Die Hoffnung, die mit dem Ende der Naziherrschaft aufgekeimt war, verwandelte sich nach und nach in verzweifelte Wut. Niemand und nichts schien für all die furchtbaren Verbrechen verantwortlich zu sein oder sich um die Opfer zu kümmern. Zwar hatte er erlebt, dass die Gemeinschaften kleinerer Dörfer zusammenhielten und sich die Leute gegenseitig unterstützten, aber nach außen schotteten sie sich ab. Als umherziehender Flüchtling überlebte man nur, wenn man ohne Rücksicht auf andere für sich selbst sorgte. Dies war die bittere Lektion, die Pawel hatte lernen müssen.

Nach einer Odyssee, die ihn quer durch das zerstörte Land geführt hatte, war er nun in der amerikanischen Besatzungszone angekommen. Gerüchten zufolge war es hier einfacher, an eine neue Identität zu gelangen, was sich bisher allerdings nicht bewahrheitet hatte. Der Schlüssel zu allem, was man brauchte oder begehrte, war Geld.

Das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, trieb ihn vorwärts. Ohne den Hass, der ihn wärmte, und den alles verzehrenden Wunsch nach Vergeltung hätte er bereits mehr als einmal aufgegeben und den Tod gesucht. Pawel war ein Schiffbrüchiger. Ausgesetzt auf einer Insel, sah er am Horizont ferne Gestade, auf denen Einsame und Vergessene wie er selbst lebten und doch unerreichbar für ihn blieben.

Die Adresse auf dem Zettel gehörte zu einem Eisenwarenhandel. Eine Zeit lang überlegte Pawel, ob er einen Bus oder die Straßenbahn nehmen sollte, aber er besaß nur noch zehn Reichsmark und ein paar Pfennig. Also stapfte er mit gesenktem Kopf weiter und erreichte eine Stunde später mit knurrendem Magen sein Ziel.

Auf einem asphaltierten Hof standen verbeulte Kübelwagen, ausrangierte Laster und Fuhrwerke. Berge von Altmetall säumten den Weg zu einer Werkshalle mit angeschlossenem Büro. Pawel nahm den Zettel aus der Manteltasche und strich ihn glatt. Der Inhaber des Schrottplatzes, ein Mann namens Hartmut Mitschke, suchte einen Lageristen. Pawel wusste nicht, was von ihm verlangt werden würde, doch die Arbeit war so gut wie jede andere. Seit Ende des Krieges hatte er sich in einem Dutzend Berufen versucht. Hauptsache, er hatte ein Dach über dem Kopf, einen Platz zum Schlafen und einen vollen Magen.

Ein struppiger Hund zerrte an seiner kurzen Kette und kläffte mehrere Männer an, die vor dem Gebäude warteten und rauchten. Pawel gesellte sich zu ihnen. Er war es gewohnt, sich mit einem Rudel ausgehungerter Bewerber um eine Stelle streiten zu müssen. Zwar gab es Arbeit genug, aber kaum jemanden, der bereit war, sie anständig zu entlohnen.

Er steckte sich eine der letzten drei Zigaretten an, die er besaß. Die Konkurrenten beäugten ihn misstrauisch, keiner sprach mit ihm.

Eine halbe Stunde nachdem er den Schrottplatz betreten hatte, öffnete sich eine Blechtür in dem Lagergebäude. Ein vierschrötiger Mann mit pockennarbigen Wangen trat an das Geländer. Sein Kopf ruhte auf einem feisten Stiernacken. Eine fleischige Nase und winzige Augen, deren Pupillen schnell und listig hin und her huschten, beherrschten sein Gesicht. Er paffte eine Zigarre und betrachtete prüfend die Schar der Arbeitswilligen. Mitschke – so nahm Pawel an – wedelte mit dem Arm.

»Stellt euch in einer Reihe auf. Hopphopp!«

In die Schar kam Bewegung. Pawel reihte sich ein, Angst und Zorn stiegen in ihm auf. Mitschkes Tonfall und die herrische Art, in der er sich vor den Bewerbern aufbaute, erinnerten ihn an Theissen, Kaindls Folterknecht in Sachsenhausen. Er hätte schwören können, dass der Schrotthändler vor nicht allzu langer Zeit eine Uniform getragen hatte und es gewohnt war, Befehle zu erteilen.

»Na, wird’s bald?«, schnarrte er. »Hat wohl keiner gedient von euch, was?«

Volltreffer, dachte Pawel. Er kämpfte die lähmende Furcht nieder, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er es mit Typen wie Mitschke zu tun bekam – ein Andenken an die Lagerhaft, das ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten würde. Zu der Angst gesellte sich sofort die Wut über das, was sie ihm angetan hatten. Und das erinnerte ihn an das Versprechen … das verdammte Versprechen, von dem er nicht wusste, wie er es jemals einlösen sollte.

Der Schrotthändler verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann mit seiner Musterung, denn nichts anderes war dieses Schauspiel. Nachdem er die Reihe einmal abgeschritten hatte, kehrte er zum Anfang zurück und blieb vor Pawel stehen. Im KZ hatte er gelernt, unterwürfig den Kopf zu senken, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch er war nun ein freier Mann und zwang sich, Mitschke geradewegs in die Augen zu blicken.

»Name?«, fragte der Schrotthändler.

»Pawel Kowna. Ich habe Berufserfahrung, weiß, wie man ein Lager führt.«

»Habe ich das gefragt?«, blaffte Mitschke.

Eine Weile verkniff sich Pawel die überflüssige Antwort, dann sagte er: »Nein.«

»Woher kommst du?«

Pawel zögerte. Er sollte sich umdrehen und gehen, die Anstellung bekam er sowieso nicht. Mitschke war Wehrmachtsoffizier gewesen, wahrscheinlich sogar bei der SS. Er verströmte die braune Pest aus jeder Pore.

»Aus Warschau«, antwortete er trotzig. Er fühlte sich herausgefordert und brauchte sich seiner Herkunft nicht zu schämen.

»Aha«, stellte Mitschke fest. »Mantel ausziehen!«

»Wie bitte?«

»Ausziehen! Ich will deine Muskeln sehen. Die Arbeit ist nichts für Schwächlinge. Ihr Slawen seid doch kräftige Burschen, oder nicht?«

Die anderen lachten, einer zog bereitwillig die Jacke aus und präsentierte seinen Bizeps. Drei weitere junge Männer folgten eifrig seinem Beispiel und wetteiferten miteinander.

Langsam zog Pawel den Mantel aus. Darunter trug er ein kariertes Baumwollhemd.

Mitschke blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht, packte blitzschnell seinen linken Unterarm und schob den zerschlissenen Hemdärmel zurück. Ohne aufzusehen, wusste Pawel, dass alle auf die eintätowierte Häftlingsnummer glotzten. So wie er Mitschke als ehemaligen SS-Mann erkannt hatte, spürte der Schrotthändler instinktiv, dass Pawel im KZ gewesen war.

Mitschkes Mundwinkel zuckte. »Wir beschäftigen kein Diebsgesindel.« Er ließ Pawels Arm los und wandte sich an den nächsten Bewerber, einen jungen Mann mit struppigem blondem Haar. »Name?«

»Gomulka, Klaus«, lärmte der Angesprochene.

Mitschke musterte ihn zufrieden. »Mitkommen. Sie sind eingestellt. Wir müssen schließlich zusammenhalten, was?«

Pawel streifte den Mantel über und ballte die Fäuste. Er hatte nie verstehen können, warum sich die Deutschen daran berauschten, andere Menschen zu quälen und wie Dreck zu behandeln. Für Mistkerle wie Mitschke empfand er nichts als Verachtung. Sie verstanden nur eine einzige Sprache, die der Gewalt.

Unschlüssig stand er auf der Stelle und sah die anderen Bewerber mit unterdrückter Wut an. Gomulka grinste ihm schadenfroh ins Gesicht und entblößte dabei eine Lücke zwischen den Schneidezähnen.

»Hau besser ab nach Polen«, sagte er. »Hier kriegst du sowieso keinen Fuß auf die Erde. Bald sind wir wieder obenauf.« Er deutete den Hitlergruß an. »Sieg Heil!«

Die anderen grölten vor Lachen.

Ich werd’s euch schon noch zeigen, dachte Pawel. Ihr werdet eure Überheblichkeit bereuen. Und ich werde genauso wenig Pardon gewähren wie Theissen oder Kaindl.

Er verließ den Schrottplatz wie ein Hund, den man vom Hof gejagt hatte, und schwor sich, dass er wiederkommen würde. Noch in dieser Nacht.

5

Hannah blickte auf das Rollfeld des Frankfurter Flughafens hinab und wärmte ihre Hände an einer Tasse mit heißer Schokolade. Sie trank einen Schluck und genoss die klebrige Süße in ihrem Mund.

Es gab Zeiten in meinem Leben, da hätte ich für ein Stück Schokolade einen Mord begehen können, überlegte sie. Wie es dem Betreiber des Flughafencafés wohl gelungen war, seine Vorräte aufzufüllen? Es kam einem kleinen Wunder gleich, dass er in diesen Zeiten der Not eine solche Köstlichkeit anbieten konnte. Offenbar unterhielt er beste Kontakte zu den Amerikanern.

Der Winter schien in diesem Jahr ewig zu dauern und verlor nur zögernd seine eisige Kraft, selbst im milden Klima des Maintals war es jetzt, Anfang April, ungewöhnlich kalt. Ein stürmischer Wind trieb schiefergraue Wolken über den Himmel, aus denen vereinzelt winzige Schneeflocken rieselten.

Seit drei Wochen streifte Hannah auf der Suche nach Arbeit durch die Stadt. Sie war entschlossen gewesen, Scott zu beweisen, dass sie sich als Pilotin durchsetzen konnte. Inzwischen musste sie sich eingestehen, dass ihr Vorhaben zu scheitern drohte. Keine der ausländischen Fluggesellschaften und Frachtfluglinien stellte eine Frau ein. Dieser Beruf war eine Männerdomäne, in der sie keine Chance hatte. Die Verantwortlichen, zu denen sie sich hartnäckig durchfragte, warfen sie entweder kopfschüttelnd hinaus oder konnten sich ein Grinsen kaum verkneifen. Wahrscheinlich hielten die meisten sie für größenwahnsinnig. Hannahs Hinweis, dass in den angloamerikanischen Ländern Pilotinnen durchaus zum Alltag gehörten, quittierten die Dummköpfe mit einem spöttischen Lachen.

Ihr Streit mit Scott lag gut vier Wochen zurück. Seitdem hatte er sich nicht wieder bei ihr gemeldet. Er hätte sie mit Empfehlungsschreiben unterstützen können, aber sie war zu starrköpfig, um die Reumütige zu spielen und ihn um Hilfe zu bitten. Vielleicht war er aber auch schon in die USA zurückgekehrt, ohne sich zu verabschieden.

Selbst schuld, dachte sie, schließlich hast du ihm in aller Deutlichkeit einen Korb gegeben. Umso besser, wenn er unerreichbar für sie war, so würde sie ihn schneller vergessen. Jedenfalls steckte sie nicht den Kopf in den Sand und sah tatenlos zu, wie die Nazis überall wieder an Einfluss gewannen.

Gedankenverloren spielte sie mit der erkaltenden Tasse. Sie war nie zuvor völlig allein gewesen, selbst in ihren dunkelsten Stunden in den Anstalten in Herborn und Hadamar nicht. Sie hatte Leid und Verlust erfahren und Verbrechen erlebt, die sie niemals würde vergessen können. Doch stets waren Freunde an ihrer Seite gewesen: Ruth und Thea, der stumme Joschi, Lissy und natürlich Scott.

Hans Simonek kam ihr in den Sinn und die Nacht, in der sie ihn davor bewahrt hatte, in den Tod zu springen. Er blieb ihre erste und größte Liebe, aber eine gemeinsame Zukunft war ihnen nicht vergönnt gewesen.

»Wenn es keinen Ausweg gibt, werde ich mit dir gehen«, hatte sie gesagt. »Aber noch gebe ich nicht auf. Das Leben wartet auf uns dort draußen. Bald ist der Krieg vorbei und die Nazis sind am Ende. Etwas Neues wird beginnen, an dem ich teilhaben will.«

»Glaubst du das wirklich?«, hatte Hans gefragt.

»Ja. Ganz fest«, hatte sie geantwortet.

»Dann will ich noch warten. Wirst du mich wärmen? Es ist so kalt.«

Das hatte sie getan. Einander in den Armen haltend, in der ständigen Angst vor Entdeckung, hatten sie die Nacht zusammen verbracht. Nun war Hans tot, erschossen von SS-Oberscharführer Rolf Heyrich, der irgendwo in Deutschland unter falschem Namen lebte und seine Freiheit genoss. Sicher, es gab Hinweise darauf, dass er tot war. Doch solange sie seine Leiche nicht gesehen hatte oder einen anderen Beweis für seinen Tod in den Händen hielt, ging sie davon aus, dass er lebte. Heyrich hatte schon einmal alle zum Narren gehalten.

Hannah hatte darüber nachgedacht, sich bei einer Fluggesellschaft in Hamburg oder Berlin zu bewerben, doch nach den Abfuhren, die sie in Frankfurt hatte einstecken müssen, verließ sie der Mut. Am Morgen hatte sie sich bei der neugegründeten VAG – der Verkehrsaktiengesellschaft Rhein-Main – vorgestellt. Immerhin war sie dort nicht rundweg abgelehnt worden. Man hatte sie allerdings auf das kommende Jahr vertröstet, in dem sich vieles ändern sollte.

In gedrückter Stimmung bezahlte sie die Schokolade und schlenderte an den Fenstern der Aussichtsplattform entlang. Auf den Landebahnen standen Passagierflugzeuge ausländischer Fluggesellschaften, Frachtflugzeuge und Militärmaschinen der Amerikaner. Hannah drückte sich die Nase an der Scheibe platt und wünschte sich nichts mehr, als eine dieser Maschinen steuern zu dürfen. Verhungern würde sie nicht, in der Stadt gab es Arbeit genug – als Kellnerin oder Küchenhilfe. Aber sie wollte nicht nur Geld verdienen, sie wollte mehr. War sie deshalb eine eigensinnige, verwöhnte Göre?

Seufzend wandte sie den Blick von den Rollfeldern ab. Nein, das war sie nicht. Sie musste ihren eigenen Weg gehen. Das hatte sie immer getan, auch wenn es ihren Mitmenschen nicht passte. In der Schule hatte man sie die verrückte Hannah genannt, und den Spitznamen verdankte sie nicht nur den epileptischen Anfällen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gequält hatten. Stets saß sie zwischen allen Stühlen und es machte ihr nichts aus.

»Wenn Sie auf die Ankunft eines Passagiers warten, sollten Sie in die Wartehalle gehen, sonst werden Sie ihn verpassen.«

Hannah drehte sich um. Im Café saßen nur wenige Gäste, ein Kellner lehnte am Tresen und blickte gelangweilt herüber.

»Danke für den Hinweis, ich warte auf niemanden.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es sah so aus.«

»Ich suche Arbeit«, entgegnete sie.

»Haben Sie es mal im Gastgewerbe versucht?«

Hannah dachte an die riesige Küche in Fritz Brunners Haus, in dem sie mehrere Jahre verbracht hatte.

»Ich suche etwas anderes.«

Der Kellner wrang einen Lappen aus und polierte den Tresen. »Hier herrscht jeden Tag ein reges Kommen und Gehen, ich höre so allerlei. Vielleicht kann ich Ihnen einen Tipp geben. Was darf’s denn sein?«

Hannah musterte ihn abschätzend. Wie eine Anmache klang sein Angebot nicht. Wahrscheinlich war ihm langweilig, und geschwätzig schien er obendrein zu sein. Was er sagte, war allerdings nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur Fluggäste, sondern auch das Personal der Fluglinien besuchte das Café. Dabei schnappte er ganz sicher jeden Tag Neuigkeiten auf.

»Ich bin Pilotin«, sagte sie.

Er bedachte sie mit einem Blick, in dem eine Mischung aus ungläubigem Erstaunen und Belustigung lag. Sein Mundwinkel zuckte amüsiert.

»Im Ernst?«, fragte er.

»Ja, im Ernst«, antwortete Hannah. »Was ist daran so komisch?« Sie ballte die Fäuste und funkelte ihn wütend an.

Der Kellner legte den Lappen hin und stützte sich auf den Tresen. »Nichts. Ich frage mich, was ein so hübsches Mädchen dazu bringt, einen Beruf zu ergreifen, in dem es nicht die geringste Chance auf eine Anstellung hat.«

»Die Amerikaner sind nicht so engstirnig wie die Deutschen«, gab sie bissig zurück.

»Kann sein. Vor allem dürfen ausschließlich sie und sieben weitere ausländische Gesellschaften Inlandsflughäfen ansteuern.«

»Das wird sich ändern.«

Er betrachtete sie mit unverhohlener Neugier. »Sie sind von der hartnäckigen Sorte, was? Das gefällt mir, vielleicht hab ich was für Sie. Können Sie ein Flugzeug auch warten oder reparieren? Verstehen Sie etwas von Motoren?«

Hannah dachte an die vielen Stunden, die sie mit Scott auf dem Flugfeld oder im Hangar verbracht hatte. Sie konnte den Motor einer Tiger Moth mit geschlossenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen.

»Ja, das kann ich. Jedenfalls besser als Teller waschen oder Getränke servieren.«

Er verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Warum so feindselig? Ich will Ihnen doch nur helfen. Fragen Sie mal im Fracht-Terminal nach Max Pohl. Der kann einen Mechaniker gebrauchen.«

»Danke, ich werde mir den Namen merken.«

Hatte sie den Kellner falsch eingeschätzt? Sie befolgte seinen Rat, suchte sich den Weg durch das weitläufige Flughafenareal und gelangte schließlich in den Abfertigungsbereich der Frachtmaschinen. Dort fragte sie nach Pohl, was ihr Kopfschütteln oder ein anzügliches Grinsen einbrachte. Fast war sie bereit zu glauben, dass der Kellner sich einen Spaß mit ihr erlaubt hatte, doch dann beschrieb ein Zollbeamter ihr den Weg zu einem Hangar, der etwas abseits lag.

Die rostige Nissenhütte mit dem abgerundeten Dach stand in der Nähe der neuen Startbahn, die deutsche Kriegsgefangene 1945 für die Amerikaner gebaut hatten. Unweit des Hangars konnte Hannah die Reste des ehemaligen KZ-Außenlagers Walldorf erkennen, in dem sich ungarische Jüdinnen für die erste betonierte Startbahn zu Tode geschuftet hatten.

Das breite Rolltor war herabgelassen. Nachdem auf ihr Klopfen niemand geantwortet hatte, drückte sie probeweise die Klinke einer Nebentür. Sie war unverschlossen.

Hannah betrat den Hangar und wartete, bis sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten. Ein Fieseler Storch mit demontiertem Fahrwerk ruhte auf Holzböcken, daneben stand der Rumpf eines Lastenseglers, den man seiner Bespannung beraubt hatte. In einem Winkel der Halle brannte Licht, ein schwerer Schraubenschlüssel fiel klappernd auf den Betonboden, ein derber Fluch erschallte.

Hannah umrundete die Flugzeugwracks. Das Licht eines starken Scheinwerfers erhellte eine silbern glänzende Junkers 52. Vor dem rechten Tragflächenmotor balancierte ein untersetzter Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren auf einer Stehleiter. Er trug derbe Schuhe, ein verwaschener blauer Overall spannte über dem fassförmigen Bauch. Auf seinem Kopf thronte eine zerknautschte Fliegermütze. Die Ohrenwärmer hatte er zum Schutz gegen die Kälte heruntergeklappt. Er lutschte an seinem Daumen, schüttelte die Hand und fluchte erneut.

Hannah hob den Schraubenschlüssel auf.

»Hier, den haben Sie verloren.«

Aufgeschreckt sah er nach unten, die Leiter wackelte bedrohlich. Im letzten Augenblick hielt er sich an dem freigelegten Motor fest. Hannah sah, dass sein linker Arm in einer Prothese endete. Ungelenk stieg er auf den Boden herab, stakste steifbeinig auf sie zu und entriss ihr den Schraubenschlüssel.

»Was zum Teufel hast du hier zu suchen, Mädchen?«, fragte er drohend.

»Ich will zu Max Pohl.«

Er blickte sie übellaunig an. Sein Gesicht ähnelte dem eines Seemanns, der jahrzehntelang Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Pohl – wenn er es denn war – besaß die hellsten Augen, die Hannah je gesehen hatte. Sie schimmerten in einem wässrigen Blau, das beinahe durchsichtig war.

»Und was willst du von ihm?«, fragte er.

Sie presste die Lippen zusammen und schwieg trotzig. Sollte sie diesem ungehobelten Kerl wirklich verraten, warum sie gekommen war? Sie würde nur einen weiteren Lachanfall provozieren. Das alles erschien ihr sinnlos. Andererseits hatte sie nichts zu verlieren. Pohl war ihre letzte Chance, schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

»Sind Sie nun Max Pohl oder nicht?«

»Der bin ich.«

»Ich suche Arbeit. Sie wurden mir empfohlen.«

»Empfohlen?« Er kicherte und steckte sich umständlich mit der verbliebenen Hand eine Zigarette an. »Glaub ich nicht. Ich brauche keine Putzfrau und erst recht keine Köchin. Tut mir leid, Mädchen.«

»Ich bin Pilotin.«

Pohl starrte sie mit offenem Mund an. Die Zigarette klebte an seiner Unterlippe und versengte ihm beinahe das Kinn. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, dass es von den Blechwänden des Hangars widerhallte. Hannah verspürte Lust, ihm den Schraubenschlüssel über den Schädel zu ziehen. Stattdessen kletterte sie trotzig die Leiter empor und untersuchte den Tragflächenmotor.

»Was stimmt denn nicht mit ihm?«, fragte sie.

Pohl lachte blubbernd und wischte sich Tränen aus den Augen. »Sag bloß, du verstehst was von Mechanik?«

»Das ist ein BMW-Hornet-132-Sternmotor. Wie beim R-1690 besteht das Gehäuse aus fünf Teilen – dem geteilten Kurbelgehäuse, dessen Hälften durch neun Schrauben miteinander verbunden sind, dem Gemischladergehäuse und dem Geräteträger«, erklärte sie. »Im Gehäusevorderteil sieht man die Befestigungszapfen für den Nockentrommelantrieb, der die Nocken und das mit der Kurbelwelle verbundene Vorgelege enthält. Die Übersetzung beträgt eins zu acht. Die 801-Triebwerke drehen höher und kraftvoller, haben aber Probleme mit der Kühlung.« Hannah schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge. »Sieht ziemlich trocken aus, das Goldstück.« Sie untersuchte den Sternmotor genauer. »Ah, hier leckt es raus. Ich tippe auf die Dichtungen der Ölförderpumpe. Die machen häufig Ärger.«

Sie wischte sich die Hände ab und stieg die Leiter hinunter. »Wie sieht’s aus? Haben Sie nun Arbeit für mich?«

Pohls mächtiger Brustkorb begann zu zittern. Er gluckste und fiel in ein dröhnendes Lachen. Diesmal klang es nicht mehr spöttisch.

»Da hol mich doch der Teufel.« Er packte ihre Hand und schüttelte ihren Arm wie einen Pumpenschwengel. »Ich bin Max Pohl«, sagte er lachend. »Kannst Max zu mir sagen.«

»Hannah Bloch.«

Er rieb sich den Nacken. »Sag mal, wo hast du denn gelernt, wie ein Sternmotor funktioniert?«

»Bei den Amerikanern.« Sie berichtete von ihrer Ausbildung bei der US-Army und von Scott, verschwieg jedoch, in welcher Beziehung sie zueinander gestanden hatten.

Pohl ließ sich ihre Fluglizenz zeigen, wiegte verwundert den Kopf und seufzte.

»Vor dem Krieg liefen die Geschäfte gut. Ich hatte drei Ju 52 und ein paar kleinere Flugzeuge. Fünf Mann arbeiteten für mich. Wir flogen Frachtgut nach Frankreich, Belgien und England, bis der Krieg ausbrach. Die Maschinen wurden konfisziert, meine Leute zur Wehrmacht eingezogen.« Er hob steif den linken Arm und präsentierte die Handprothese. »Keinen von den Jungs habe ich je wiedergesehen, sind alle in Stalingrad geblieben. Hab selber ein Andenken an den verdammten Krieg behalten.«

Er deutete auf die Junkers. »Den fliegenden Koffer konnte ich retten, aber er nützt mir nichts. Außer den Alliierten darf ja keiner starten.« Er zuckte mit den Schultern. »Mit einer Hand kann man sowieso kein Flugzeug steuern. Trotzdem will ich die Tante wenigstens in Schuss halten.«

»Kommen Sie denn an Aufträge?«, fragte Hannah.

»Schlag dir das aus dem Kopf, Mädchen. Klar, ich habe gute Kontakte, weiß, was gerade läuft. Die Amerikaner sind völlig überlastet, aber sie lassen uns Deutsche nicht hinter den Steuerknüppel.«

Hannah strich sehnsuchtsvoll über den glänzenden Rumpf der Ju 52. »Ich könnte da vielleicht etwas arrangieren.«

»Du?«

»Ich kann nichts versprechen, aber ich werd’s versuchen. Wie wär’s damit? Wenn ich uns eine Lizenz besorge, machen wir halbe-halbe. Ich steige ins Geschäft ein und fliege die Kiste. Sie kümmern sich um den Rest. Wenn ich einen Co-Piloten brauche, können Sie einspringen. Das schaffen Sie auch mit einer Hand.«

Pohl atmete rasselnd und blickte sie nachdenklich an. »Bist nicht gerade bescheiden, was, Kleine?«

Hannah schüttelte lachend den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass sie mit dem alten Brummbär gut auskommen würde.

»Also gut. Ich bin einverstanden. Wenn du die Erlaubnis der Amerikaner bekommst, besorge ich uns Arbeit.«

»Abgemacht … Max.«

Sie schüttelten sich die Hände und grinsten um die Wette. Hannah hatte den Mund ziemlich vollgenommen, aber das war die Sache wert. Sie war ihrem Traum näher als je zuvor, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie Scott dazu bewegen sollte, ihr zu helfen … und ob er es konnte. Alles hing davon ab, ob er überhaupt noch in Deutschland war.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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523 стр. 6 иллюстраций
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9783839268742
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