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Pawel rieb die kalten Hände aneinander und wärmte sie mit seinem Atem. Die Schlange elender Gestalten, in der er stand, kam nur langsam voran. Einsam, blind vor Zorn und von Rachefantasien getrieben, war er durch die Straßen Wiesbadens geirrt. Auf dem Weg zur Innenstadt war er schließlich auf eine Gruppe Flüchtlinge gestoßen und hatte sich ihnen angeschlossen. Ein amerikanischer Offizier hatte sie zu einer Notunterkunft am Stadtrand geschickt.

Wieder ging es zwei Schritte vorwärts. Sein Magen knurrte, er fühlte sich schwach und schwindelig. Wenn er sich wenigstens eine Nacht lang aufwärmen und ausruhen könnte, würde es ihm besser gehen. Morgen war ein neuer Tag, der neue Hoffnung bringen würde.

Eine Stunde später trug er einen Teller Suppe zu einem der Tische, dazu fünfhundert Gramm Brot – die Tagesration, mit der jeder auskommen musste. Er freute sich, dass in der dünnen Suppe sogar ein paar Fleischbrocken schwammen.

Das Notquartier war überfüllt, ständig trafen Neuankömmlinge ein. Pawel schlang ausgehungert das Essen herunter. Allmählich fühlte er sich besser und verfolgte aufmerksam, was um ihn herum geschah. Während sich ein Pole und zwei Deutsche um den letzten freien Schlafplatz stritten, schnappte sich Pawel eine stockfleckige Matratze und eine Pferdedecke. Kurz darauf rollte er sich auf dem Boden zusammen und schloss die Augen. Die Stimmen und Geräusche verschwammen zu einem plätschernden Gemurmel. Im Lager hatte er sich angewöhnt, überall und zu jeder Zeit einschlafen zu können. Man wusste nie, wann die nächste Gelegenheit kam, eine Stunde oder gar eine ganze Nacht Erholung zu finden. Kaum hatte sein Kopf die Matratze berührt, war er auch schon eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht weckten ihn leise Stimmen, denn ein Teil seines Unterbewusstseins befand sich in einem antrainierten Alarmzustand, um ihn jederzeit vor drohender Gefahr zu warnen.

»Ich sage dir, es ist der sicherste Weg, über die Grenze zu kommen.« Die raue Männerstimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Jemand kicherte unterdrückt. »Wenn mir damals jemand prophezeit hätte, ich würde mich mal als Jude ausgeben, hätte ich ihn über den Haufen geschossen.«

»Die Zeiten haben sich eben geändert. Ich habe Freunde in Bolivien. Doch zuerst müssen wir aus Deutschland raus.«

»Und wie willst du das anstellen?«

»In Zeilsheim haben die Amerikaner ein großes Lager eingerichtet. Dort warten Tausende auf ihre Ausreise. Die Drecksjuden erhalten jede Unterstützung, weil alle ein schlechtes Gewissen haben. Alles, was du brauchst, ist jemand, der bestätigt, dass du der bist, der du vorgibst zu sein. Dann bekommst du neue Ausweispapiere, Ausreisegenehmigungen und ein Einreisevisum nach Palästina.«

»Was soll ich in Palästina?«

»Es geht um eine neue Identität, du Hohlkopf. Wie willst du denn sonst über die Grenze kommen? Die Hacken zusammenknallen und dich als SS-Obersturmführer Mahlke vorstellen? Als Jude reist es sich entschieden besser. Wenn wir erst mal in Italien sind, besorgen wir uns in Genua eine Passage nach Südamerika.«

Schlaftrunken lauschte Pawel dem Gespräch. Traumbilder vermischten sich mit der Wirklichkeit. Er sah Milena, die der alten Frau von dem Karren half, und Theissen, der seine Pistole zog. Er hörte die Schreie der Eingeschlossenen in der Scheune und roch ihr verkohltes Fleisch.

Versprich mir, dass du uns rächen wirst.

Mitschkes Kasernenhofstimme drängte sich in die Erinnerungen: Wir beschäftigen kein Diebsgesindel.

Die Raubfische, die sich im großen Sammelbecken des Dritten Reichs vollgefressen hatten, schwammen wieder oben. Die Führungsriege, die in Nürnberg vor Gericht gestanden hatte, war lediglich die Spitze des Eisbergs gewesen. Viel zu viele der kleinen Fische dagegen gingen den Siegern durch die Netze. Typen wie Bolkow waren längst in der Menge untergetaucht und würden nie für ihre Taten bestraft werden. Es sei denn, Pawel nahm die Rache in die eigenen Hände und löste sein Versprechen ein.

Er wälzte sich auf den Rücken und dachte lange nach. An die Theissens und Kaindls dieser Welt kam er nicht so einfach heran, denn sie saßen wieder in Positionen, wo er ihnen nichts anhaben konnte. Aber auf Mitschke traf das nicht zu. Er sollte stellvertretend für die anderen Mörder bezahlen. Pawel schloss die Augen und döste eine Weile. Er musste nur ein bisschen ausruhen, dann würde ihm schon ein Plan einfallen. Bald darauf schlief er ein und träumte von Vergeltung.

Am Morgen schlang er seine karge Ration hinunter, dazu einen Viertelliter Ersatzkaffee. Er aß und schmiedete düstere Pläne. Danach verließ er die Notunterkunft. Er hatte nicht vor, hierher zurückzukehren, denn heute Nacht würde er sich von Mitschke holen, was er für ein menschenwürdiges Leben brauchte.

Den Nachmittag verbrachte er in der Nähe des Bahnhofs. Die Anschlagtafeln waren ein beliebter Treffpunkt, sie ersetzten außerdem eine Tageszeitung. Man tauschte Neuigkeiten aus, handelte und knüpfte Verbindungen. Es kostete Pawel die letzten beiden Zigaretten, um mehr über das sogenannte DP-Camp in Zeilsheim zu erfahren. Die Amerikaner brachten dort displaced persons unter. Das waren hauptsächlich Juden, die das Land verlassen wollten, aber auch ehemalige KZ-Häftlinge und Flüchtlinge aus allen Teilen Europas. Über Mitschke erfuhr er ebenfalls mehr. Er traf einen Landsmann, den der Schrotthändler um seinen Lohn betrogen hatte. Pawel spendierte ihm einen Muckefuck, woraufhin der Pole ihm bereitwillig Auskunft gab. Mitschke hieß eigentlich Fischer. Es war ihm gelungen, unter Angabe eines falschen Namens aus einem Kriegsgefangenenlager entlassen zu werden. Nun besaß er neue Papiere und war rasch auf die Füße gefallen. Mitschke kaufte von den Amerikanern ausrangierte Jeeps, Panzerwagen und unbrauchbare Geschütze. Das Altmetall verhökerte er für Höchstpreise an deutsche Stahlkocher im Ruhrgebiet, die unter britischer Kontrolle standen. Binnen eines Jahres hatte er ein kleines Vermögen gemacht.

Gegen Abend opferte Pawel einen Teil seiner schwindenden Barschaft, um sich eine Busfahrkarte zu kaufen. Es dämmerte bereits, als er in der Nähe des Schrottplatzes aus dem Bus stieg. Er besaß ein gutes Gedächtnis und prägte sich die Lage des weitläufigen Grundstücks ein. Eine mannshohe Mauer, unterbrochen von einem stabilen Stahltor, durch das er gestern den Hof betreten hatte, schützte das Gelände zur Straße hin vor Schrottdieben. Der hintere Teil grenzte an eine Bahntrasse und war von einem Maschendrahtzaun umgeben. Der Anblick des Stacheldrahts auf der Zaunkrone ließ Pawel unwillkürlich an Sachsenhausen denken.

Geduldig schritt er Zaun und Mauer ab und fand schließlich ein Schlupfloch, durch das er ins Innere gelangte. Er wartete, bis es dunkel geworden war. Mit der Nacht kehrte die beißende Kälte zurück. Diesmal machte sie Pawel nichts aus, denn er hatte ein Ziel vor Augen. Die erregende Aussicht, Mitschke für seine Verbrechen bezahlen zu lassen, die er unweigerlich als SS-Offizier begangen hatte, ließ ihn alles andere vergessen. Er wusste nicht genau, wie er das Versprechen einlösen sollte, das er seinem Vater gegeben hatte, aber das spielte in seinem Denken keine Rolle. Endlich tat er etwas, und das genügte.

Pawel verharrte in der Finsternis, bis im ersten Stock des schmucklosen Bürogebäudes neben der Werkshalle das Licht ausging. Er löste sich aus dem Schatten eines ausgebrannten Sherman-Panzers und verschmolz mit der Nacht. Als er sich dem Haus näherte, dachte er an das Hundegebell, das er am Tag zuvor gehört hatte. Er lauschte eine Weile, diesmal blieb alles ruhig.

Der Hof wurde von vier Bogenlampen schwach erhellt. Am Rande ihrer Lichtkegel schlich Pawel auf die Tür zu, durch die der Schrotthändler gestern herausgekommen war. Überall lagen ausrangierte Maschinenteile, Eisenbahnschienen und rostige Überbleibsel der Wehrmacht herum. Pawel zog ein stabiles Rohr aus einem Stapel Schrott, das an einem Ende wie ein Brecheisen geformt war, und hebelte das einfache Schloss der Blechtür auf. Dann schlüpfte er ins Haus und wartete, bis sich sein rasender Herzschlag beruhigt hatte.

Vor ihm lag ein Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Bereits das erste Zimmer entpuppte sich als Mitschkes Büro. Durch das Fenster fiel das fahle Licht der Bogenlampen und enthüllte Aktenschränke, einen wuchtigen Schreibtisch und zwei Stühle. Pawel begann, den Raum systematisch zu durchsuchen. Hinter einem hässlichen Ölgemälde stieß er auf einen Wandtresor, dem er jedoch mit dem improvisierten Brecheisen nicht zu Leibe rücken konnte.

In einer der Schreibtischschubladen fand er eine Geldkassette. Er stellte sie auf den Tisch und hebelte sie nach mehreren missglückten Versuchen auf. Darin befanden sich zweihundert Reichsmark und ein Bündel Dollarnoten.

Bevor er das Geld in die Manteltasche stopfen konnte, flammte das Deckenlicht auf. Erschrocken fuhr er herum. Mitschke stand in der Tür. Er trug einen gestreiften Schlafanzug und zielte mit einem Trommelrevolver auf ihn.

»Schau an, das Diebsgesindel ist zurück«, sagte er.

Pawel wich vor ihm zurück und stieß gegen die Schreibtischkante.

»Hast wohl vergessen, was wir im Lager mit dem Pack gemacht haben, was?« Mitschke spannte den Hahn des Revolvers. »Wir hätten euch alle erledigen sollen. Aber das kann ich ja zumindest bei dir nachholen. Weg mit dem Stemmeisen!«

Pawel wurde sich bewusst, dass er noch immer das Rohr umklammerte. Es war seine einzige Waffe, aber gegen Mitschkes Revolver konnte er damit nichts ausrichten. Vor wenigen Minuten hatte er sich großartig gefühlt, innerhalb eines Augenblicks verkehrte sich alles ins Gegenteil. Das Verlangen nach Vergeltung hatte seinen Verstand vernebelt. Er war völlig unüberlegt und ohne Plan vorgegangen und das rächte sich nun.

Mitschke grinste. »Na, behalt das Ding mal lieber. Vielleicht ist es besser, ich knall dich ab, solange du mich bedrohst.«

Pawel suchte panisch nach einem Ausweg. Mehr aus Angst und Verzweiflung als durch überlegtes Handeln schwang er das Eisenrohr und traf den Lampenschirm über seinem Kopf. Die Glühbirne zerplatzte, ein heißer Regen aus Glassplittern ergoss sich über ihn. Mitschke brüllte wütend auf und schoss. Pawel sah das Mündungsfeuer aufblitzen und spürte einen Luftzug. Klirrend zerbarst das Fenster zum Hof.

Der Schrotthändler gab einen weiteren Schuss ab, aber Pawel hatte sich bereits auf den Boden geworfen. Im Fallen holte er mit dem Stemmeisen aus und traf Mitschkes Schienbein. Der schrie auf und taumelte. Pawel erhob sich auf die Knie und schlug zu. Diesmal traf er den Unterarm seines Gegners. Er hörte das Knacken, mit dem der Knochen brach. Mitschke ließ den Revolver fallen und sank in die Knie. Das kalte Licht der Bogenlampen fiel auf sein Gesicht, in seinen überraschten Blick mischten sich plötzlich Unsicherheit und Angst.

Pawel kam taumelnd auf die Füße. Ein heißes Gefühl des Triumphes durchflutete ihn, gepaart mit einer Wut, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Er sah sich selbst im Schlamm des Appellplatzes liegen, wie er verzweifelt versuchte, sich vor den Tritten der Wachmannschaften zu schützen. Wieder erniedrigte er sich vor Theissen, pries die Vorzüge seiner Schwester an und flehte ihn an, Milena zu seiner Hure zu machen, damit sie leben durfte.

»Du hast jetzt eine Aufgabe, Pawel«, sagte sein Vater, bevor er für immer die Augen schloss.

Die Menschen, die er liebte, waren tot. Verhungert, an Entkräftung gestorben, ermordet oder elendig verreckt. Pawel hatte überlebt. In diesem Augenblick, in dem Mitschke winselnd vor ihm auf dem Boden lag, wusste er, dass der Schmerz und die Wut, die in ihm wühlten, nicht nur das Ergebnis seines Verlustes waren. Oh ja, er vermisste Milena, seinen Vater und seine Mutter, von der er nicht einmal wusste, wo und wann sie gestorben war. Doch da war noch etwas anderes. Es fraß an ihm wie ein Geier, der seinen Schnabel in ein Stück Aas hackt. Pawel fühlte sich schuldig. Warum hatte er als Einziger die Verfolgung und Deportation, das Grauen der Lager und den Todesmarsch überlebt? Was hatte er getan, dass der Gott, an den er nicht mehr glaubte, ihn so furchtbar bestrafte, indem er ihn weiterleben ließ?

Rasend vor Zorn begann er, auf den am Boden liegenden Schrotthändler einzuprügeln, der sich von einem atmenden Menschen in ein seelenloses Objekt verwandelte. Es tat so gut und gleichzeitig so weh. Hier war endlich jemand, der nicht mehr vor ihm davonlaufen konnte und der bezahlen musste für alles, was man ihm angetan hatte. Mit jedem Schlag, mit jedem Tritt spürte Pawel, wie das Schuldgefühl wich und einer tief empfundenen Erlösung Platz machte. Die Rache schmeckte bitter, aber sie war der einzige Weg, damit fertigzuwerden, dass er lebte, denn sie gab seinem armseligen Dasein einen Sinn.

Mitschke rollte sich wie ein Igel zusammen, barg den Kopf in den Händen und wimmerte. Pawel schlug auf ihn ein, immer wieder, bis ihn die Kraft verließ und er das Eisenrohr von sich warf.

Der Schrotthändler rührte sich nicht mehr. Pawel kniete neben ihm auf dem blutbesudelten Boden und lachte hysterisch, weil ihn der gestreifte Schlafanzug an die Häftlingskleidung in Sachsenhausen erinnerte. Noch immer war seine Wut nicht ganz verraucht und er riss den linken Ärmel des Schlafanzugs ab. An Mitschkes Oberarm, dicht unterhalb der Achsel, fand er, wonach er gesucht hatte: eine etwa acht Millimeter große Narbe. Mitschke hatte die Blutgruppentätowierung entfernen lassen, die ihn als Mitglied der SS verraten hätte.

Hundegebell zerriss die nächtliche Stille, Pawel erwachte schlagartig aus seinem Blutrausch. Zitternd vor Anstrengung starrte er auf den leblosen Körper. Mitschkes Blut glänzte im Lichtschein wie Öl.

Das Zimmer drehte sich um Pawel, die Schreie der Häftlinge in Sachsenhausen vermischten sich in seinem Kopf mit dem Kläffen der Hunde vor dem Fenster. Albtraum und Realität ließen sich nicht mehr voneinander trennen. Was, um Gottes willen, hatte er getan? Die Henker hatten ihn selbst zum Mörder gemacht.

Die Angst kehrte zurück und lähmte ihn. Pawel begann, unkontrolliert zu beben, und schluchzte wie ein Kind, das in einem Wutanfall sein Spielzeug zerbrochen hatte. Er hatte einen Menschen getötet und würde die Konsequenzen tragen müssen, wenn man ihn erwischte. Hastig stopfte er die Geldscheine in seine Manteltaschen und lief um den Schreibtisch herum zum Fenster. Zwischen den Schrottbergen tanzte das Licht einer Taschenlampe. Offenbar beschäftigte Mitschke einen Nachtwächter, der den Schrottplatz bewachte. Das erklärte, warum die Hunde vorhin nicht angeschlagen hatten. Wahrscheinlich hatte der Wächter seine Runde gedreht.

Pawel flüchtete aus dem Büro und lief durch den Flur zu der Tür zurück, durch die er gekommen war. Vorsichtig schob er sie auf und spähte durch den Spalt.

»Ist da wer?«, rief eine Männerstimme. Die Hunde antworteten mit aufgeregtem Gebell.

Der Lichtstrahl huschte über Autowracks und Altmetallstapel. Pawel hetzte über den dunklen Hof und nutzte die turmhohen Schrottberge als Deckung. Irgendwie musste es ihm gelingen, einen Weg durch dieses Labyrinth nach draußen zu finden.

Bevor er die Hälfte der Strecke zum Bahndamm hinter sich gebracht hatte, erfasste ihn das Licht der Taschenlampe. Unter einer Bogenlampe stand der Blonde mit der Zahnlücke, der sich Mitschke als Gomulka vorgestellt hatte.

»He! Stehen bleiben!«

Pawel rannte weiter und sah sich gehetzt um. Gomulka ließ die schwarz-braunen Rottweiler von der Leine. Pawel schlug Haken und lief in einem Bogen zum Haus zurück, er würde niemals rechtzeitig den Zaun erreichen, bevor die Hunde ihn stellten. Es kam zu einem Wettlauf, den er knapp verlor. Die Rottweiler schnitten ihm den Weg ab und kreisten ihn ein. Mit dem Rücken zur Wand der Werkshalle war er ihnen schutzlos ausgeliefert.

Die Hunde waren noch etwa zehn Meter von ihm entfernt, als sich neben ihm eine Tür öffnete. Jemand packte ihn an der Schulter und zog ihn grob in die Halle. Pawel spürte ein Messer an seiner Kehle.

»Keinen Mucks oder ich stech dich ab!«, zischte jemand.

Pawel nickte stumm und rührte sich nicht. Die Hunde kläfften und sprangen enttäuscht außen an der Tür empor. Schritte näherten sich.

»Lass uns abhauen«, flüsterte eine Frau. »Wir nehmen ihn mit.«

»Warum? Er hat uns die Tour vermasselt. Wegen diesem Dummkopf hab ich mir die Nacht umsonst um die Ohren geschlagen.«

»Gomulka hetzt die Hunde auf ihn, wenn er ihn findet.«

»Na und? Wer so blöd ist und sich erwischen lässt, ist selber schuld.«

»Er gehört nicht zu Mitschke, also ist er einer von uns, kapiert?«, beharrte die Frau.

Die Messerspitze entfernte sich von Pawels Kehle.

»Da… danke«, stotterte er.

»Freu dich nicht zu früh«, entgegnete der Mann.

Sie verließen die Lagerhalle durch ein Fenster auf der Rückseite und gelangten auf Umwegen zum Bahndamm. Jemand hatte ein Loch in den Maschendrahtzaun geschnitten, durch das sie ins Freie krochen. Auf dem Fahrweg neben den Gleisen wartete mit laufendem Motor ein Lastwagen. Im Licht der Scheinwerfer sah Pawel zum ersten Mal die Gesichter seiner Retter. Sie waren zu dritt, zwei Männer und eine Frau. Alle waren in seinem Alter und trugen schwarze Hosen und Jacken. Die Frau kletterte als Erste auf die Ladefläche. Nachdem alle Platz gefunden hatten, setzte sich der Laster schaukelnd in Bewegung. Die Männer bedachten Pawel mit finsteren Blicken. Die Frau nahm ihre schwarze Wollmütze ab und schüttelte das lange rotblonde Haar.

»Was hattest du dort zu suchen?«, fragte sie.

Pawel suchte nach einer Erklärung, die die drei zufriedenstellen würde. Wie würden sie reagieren, wenn er gestand, Mitschke erschlagen zu haben? Er entschloss sich, die Wahrheit zu sagen.

»Ich wollte eine alte Rechnung begleichen.«

»Du kennst Mitschke von früher?«, fragte einer der Männer.

Pawel nickte stumm. Wer waren diese Leute? Sie hatten ihn vor Gomulka beschützt, also standen sie auf seiner Seite, oder doch nicht?

»Du bist nicht von hier«, sagte die Frau. »Woher kommst du?«

»Geboren bin ich in Warschau, aber 1928 zog meine Familie nach Deutschland, da war ich fünf Jahre alt. Aufgewachsen bin ich in Waren an der Müritz. Mein Onkel führte dort einen Kurzwarenhandel, in den mein Vater einstieg«, erklärte Pawel. »Vor dem Krieg konnte man hier noch gut leben. Besser als in Polen jedenfalls.«

»Bist du Jude?«, fragte einer der Männer.

Pawel dachte an die Unterhaltung, die er in der Notunterkunft belauscht hatte. Vielleicht brachte es auch für ihn Vorteile mit sich, wenn er sich als Jude ausgab. Der Mann würde nicht danach fragen, wenn er nicht selbst einer wäre.

»Ja«, antwortete er schnell.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte der andere Mann.

»Wir verpassen ihm eine Abreibung und schmeißen ihn raus«, sagte der Erste.

»Ich habe euch nichts getan!«

»Nichts getan? Wegen dir sind wir fast aufgeflogen und die Sore können wir auch in den Wind schießen.«

»Durchsucht ihn!«, befahl die Frau.

Die beiden Männer gehorchten. Sie durchwühlten seine Taschen und fanden das Geld.

Die Frau pfiff durch die Zähne. »Woher hast du das?«

»Von Mitschke.«

»Das hat er dir wohl kaum freiwillig gegeben, oder?«

»Nein.«

»Du bist ein komischer Vogel. Wie heißt du?«, fragte die Rothaarige.

»Pawel.«

Der Laster rumpelte durch ein Schlagloch. Die Frau fluchte und schlug mit der flachen Hand gegen die Rückwand des Fahrerhauses.

»Soso, Pawel aus Warschau«, sagte sie dann. »Ein polnischer Jude, der eine Rechnung mit einem SS-Schwein offen hat.«

Die beiden Männer schienen sich zu entspannen. Hatten sie ihn als einen der Ihren akzeptiert?

»Ihr glaubt mir nicht.«

Sie sahen ihn schweigend an.

»Vielleicht überzeugt euch das hier.«

Er schob den Hemdärmel zurück und zeigte ihnen die eintätowierte Häftlingsnummer.

»In welchem Lager warst du?«, fragte der erste Mann.

»Sachsenhausen.«

»Was hast du mit Mitschke gemacht?«, fragte die Rothaarige.

Pawel schwieg und presste die Lippen aufeinander.

Einer der Männer stöhnte auf. »Sag bloß nicht, du hast ihn umgebracht.« An die Frau gewandt sagte er: »Ich hab doch geahnt, dass er Scherereien macht, aber du musstest ihn ja unbedingt mitschleppen.«

Pawel dachte an Gomulka. »Der Kerl mit den Hunden«, sagte er.

»Was ist mit dem?«, fragte die Frau.

»Er hat mich gesehen und er kennt meinen Namen.«

»Wir müssen ihn loswerden«, sagte einer der Männer.

Die Frau zählte das Geld und gab ihm die Hälfte. »Den Rest behalten wir als Entschädigung.« Sie klopfte gegen das kleine Fenster. »Halt an!«

Der Laster wurde langsamer und kam zum Stehen. Pawel steckte die Scheine ein und kletterte auf die Straße hinab.

Bevor der Wagen anrollte, erschien der rotblonde Haarschopf der Frau. »Komm morgen Abend nach Frankfurt in den Baumweg Nummer 5. Frag nach Esther.«

Sie zog die Plane zu, der Laster fuhr an. Pawel blieb allein zurück. Inzwischen musste Gomulka seinen toten Chef gefunden haben. Nun würde die Polizei nach Pawel suchen, nach Pawel Kowna, dem Mörder.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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523 стр. 6 иллюстраций
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9783839268742
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