Читать книгу: «Die Ungerächten», страница 7

Шрифт:

8

Auf der Suche nach einem Schlafplatz wanderte Pawel durch menschenleere Straßen. In einem ausgebombten Haus, das wegen Einsturzgefahr geräumt worden war, fand er Schutz vor der beißenden Kälte. Er ignorierte die Warnschilder, kletterte über verkohlte Balken und Trümmer und stieg in den unversehrten Keller hinab, den die Bewohner als Luftschutzraum genutzt hatten. Was wohl aus ihnen geworden war? Die Decke war mit kräftigen Holzstützen verstärkt worden, Wasser tropfte in hastig herbeigeschaffte Wannen, in denen man Löschwasser bereitgestellt hatte. Möbel und alltägliche Dinge standen herum, als würden ihre Besitzer jeden Moment wiederkommen. Pawel fand eine Wolldecke und schlang sie um seine Schultern, dann kauerte er sich auf ein rostiges Bettgestell und starrte in die Dunkelheit.

Als er aus dem Blutrausch erwacht war, hatte die Angst vor Entdeckung sein Denken bestimmt. Erst jetzt, in der Stille seines Verstecks, fing sein Verstand an, den Mord zu verarbeiten. Schwarz wie Ölfarbe schienen die Kellerwände Blut auszuschwitzen, Ströme von Blut. Er hörte Mitschkes Wimmern, den dumpfen Aufprall der Eisenstange und das Knacken zerbrechender Knochen. Pawel begann, unkontrolliert zu zittern. Er redete sich ein, dass es die nächtliche Kälte war, aber er wusste, dass das nicht stimmte.

Er barg den Kopf zwischen den Knien und weinte. Sie hatten ihn geschlagen, gequält und fast verhungern lassen, und nun hatten sie ihn zum Mörder gemacht. Mitschkes bis zur Unkenntlichkeit zerschundene Glieder beschworen die entsetzlichen Bilder der misshandelten Opfer von Sachsenhausen herauf. Zu Pawels Aufgaben im Lager hatte es gehört, Asche und Knochenreste der Ermordeten zu vergraben. Um nicht den Verstand zu verlieren, hatte er sich in Tagträumereien geflüchtet. Bald war er in der Lage gewesen, eine innere Welt entstehen zu lassen, die die Wirklichkeit zu überlagern begann. Manchmal hatte er nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden können. Heute wusste er, dass ihm das Verschwimmen beider Welten das Leben gerettet hatte. Wie damals im Lager zwang er sein Bewusstsein, auf eine Reise zu gehen, die ihn in eine Zukunft führte, in der Milena und Josef lebten und glücklich waren, in eine Welt ohne Nazis, Konzentrationslager, Rache und Mord.

Bald forderte die Erschöpfung ihren Tribut, Pawel fiel in einen unruhigen Schlummer. Als er erwachte, sickerte graues Morgenlicht durch ein Kellerfenster. Was in der Nacht geschehen war, kam ihm nun unwirklich vor, als hätte ein Fremder Mitschke ermordet – ein dunkles Wesen, von dem er nichts gewusst hatte und das dennoch die ganze Zeit in ihm gewesen und nun erwacht war.

Er saß still auf der Kante des schimmeligen Sofas, auf dem er die Nacht verbracht hatte, und lauschte den Geräuschen der erwachenden Stadt. Es kam ihm so vor, als ob etwas fehlte, das gestern noch da gewesen war. Etwas, das ihn mehr gequält hatte als die furchtbaren Erinnerungen an die Lagerhaft und die ungezählten Toten. Es dauerte eine Weile, bis ihm die Erkenntnis dämmerte. Das Gefühl lähmender Schuld, das er mit sich herumschleppte wie eine eiserne Kette, die ihn an die Vergangenheit fesselte, war nicht verschwunden, aber verblasst. Die flüsternden Stimmen, die unentwegt eine Erklärung von ihm forderten, warum ausgerechnet er überlebt hatte, während seine Familie hatte sterben müssen, waren deutlich leiser geworden.

Pawel straffte sich und stand auf. Er hatte getan, was er tun musste. Mitschke war ein Sühneopfer gewesen, das war ihm nun klar. Sein Vater hatte ihm den Weg aufgezeigt, den er gehen musste. Ein Weg, der viele Opfer verlangte und noch lange nicht zu Ende war. Doch am Ziel würde sich das Versprechen, das er gegeben hatte, auf eine Weise erfüllen, die der alte Mann in seiner Weisheit vorausgesehen hatte: Die Seele seines Sohnes würde Frieden finden. Es war eine bittere Medizin, aber die einzige, die Heilung versprach. Ja, er hatte versprochen, Rache zu nehmen, und Versprechen durfte man nicht brechen.

Schweigend sah er zu, wie die Nacht dem Morgen wich. Je heller es wurde, desto mehr verblassten die Bilder von Blut und Gewalt. Die Schatten wurden kürzer und Pawel gelang es, seine Tat zunehmend in einem anderen Licht zu bewerten. Er war kein Mörder. Nein, das Versprechen hatte ihn zum Richter und Henker in einer Person gemacht. Das Schicksal hatte ihm eine große Verantwortung aufgebürdet und er würde diese schwere Aufgabe erfüllen. Mitschke war erst der Anfang. Sein Vater konnte stolz auf ihn sein.

Als einer der Ersten reihte Pawel sich am frühen Morgen in die Schlange vor der Notunterkunft ein und versorgte sich mit der kargen Essensration. Bis zum Nachmittag drückte er sich vor dem Bahnhof herum, schlug die Zeit tot und kaufte eine Fahrkarte nach Frankfurt. Dort angekommen, fragte er sich zu der Adresse durch, die Esther ihm genannt hatte. Von den Passanten, die er nach dem Weg fragte, erfuhr er, dass sich im Baumweg Nummer 5 die Mitglieder der zu neuem Leben erwachten jüdischen Gemeinde in Frankfurt trafen.

Gegen 18 Uhr kam er im Baumweg an, verbarg sich in einer Ruine auf der anderen Straßenseite und beobachtete das Haus mit dem abgerundeten Dach und dem hellen Putz. In Sachsenhausen hatte er lernen müssen, sein Temperament zu zügeln und sich in Geduld zu üben. Er war sicher, dass er die Lagerhaft überlebt hatte, weil er die Menschen, mit denen er zu tun bekam, richtig einschätzen konnte.

Esther hatte ihn zwar aufgefordert hierherzukommen, aber noch wusste er nicht, was sie damit beabsichtigte. Wegen ihrer natürlichen Autorität hielt Pawel sie für eine Art Wortführerin. Bevor er die Hierarchie dieser Gruppe jedoch nicht durchschaut hatte, galt es, vorsichtig zu sein.

Leute kamen und gingen, von Esther entdeckte er keine Spur. Als die Dämmerung einsetzte und er sich entschloss, sein Glück zu versuchen, trat ein kräftig gebauter Mann in blau-grauer Arbeitskleidung aus einem Schuppen neben dem Haus. Er rückte seine Schiebermütze zurecht, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte pfeifend die Straße entlang, bis Pawel ihn aus den Augen verlor. Sein Magen krampfte sich vor Wut und Empörung zusammen. Der Mann war Bolkow! Gehörte er zu Esthers Freunden? Wenn es so war, dann wussten sie sicher nicht, dass sie einen ehemaligen KZ-Kapo unter ihrem Dach duldeten. Immerhin hatten sie ihn, Pawel, sofort als einen der ihren akzeptiert, nachdem er ihnen die eintätowierte Häftlingsnummer auf seinem Unterarm gezeigt hatte. Bolkow hatte es schon in Sachsenhausen verstanden, sich stets auf die Seite der Gewinner zu schlagen. Ob er die jüdische Gemeinde als Tarnung benutzte, um seine unrühmliche Rolle im Konzentrationslager zu vertuschen?

Rasch überquerte Pawel die Straße und betrat das Grundstück durch eine niedrige Pforte. Die Eingangstür stand offen. Über einen Korridor gelangte er in einen geräumigen Saal. Gerüste, aufgestapelte Ziegelsteine und Zementsäcke zeugten von reger Bautätigkeit. Ein schmächtiger alter Mann, der sich auf einen Gehstock stützte, studierte einen Bauplan. Er sah auf, als er Pawels Schritte hörte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er mit leiser Stimme.

»Ich bin ein Freund von Esther. Sie sagte, ich könne sie hier treffen.«

Der Alte nickte freundlich. »Kommen Sie bitte mit.«

Er führte Pawel in den ersten Stock des Hauses. Arbeiter waren damit beschäftigt, Wände zu verputzen und Decken zu streichen.

»Esther? Hier ist Besuch für dich!«, rief der Alte.

Pawel erkannte sie sofort wieder. Im hellen Licht einer nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte, sah sie sehr viel jünger aus, als er sie in Erinnerung hatte. Sie hatte das rotblonde Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug Arbeitskleidung.

»Danke, Isaak.«

Der alte Mann lächelte Pawel freundlich zu und ließ sie allein. Esther stellte den Besen an die Wand, mit dem sie den Boden gefegt hatte.

»Du bist also gekommen.«

Pawel nickte. »Ich habe lange gezögert. Deine Freunde sehen mich hier sicher nicht gern. Aber ich war neugierig und wollte dich wiedersehen.«

»Sie waren sauer, weil du uns die Tour vermasselt hast. So konnten sie dir wenigstens die Schuld am Scheitern unserer Aktion in die Schuhe schieben. Ari und Jaron haben das Herz am rechten Fleck, doch besonders mutig sind sie nicht gerade. Es fehlt ihnen an Entschlossenheit. Sie brauchen jemanden, der ihnen sagt, wo es langgeht.«

Pawel verarbeitete des Gehörte sofort, er hatte sich also in seiner schnellen Einschätzung nicht getäuscht.

»Aktion?«, fragte er neugierig.

»Eins nach dem anderen. Hast du heute schon etwas gegessen?«

»Nicht viel.«

»Dann komm mal mit.«

Sie führte ihn in einen Teil des Hauses, der bereits fertiggestellt war, einen Aufenthaltsraum mit Sofas, Sesseln und Tischen. Auf einer Kochplatte stand ein Topf, aus dem es herrlich duftete. Pawels Magen knurrte vernehmlich, seit der Notration am Morgen hatte er nichts mehr zu sich genommen. Esther füllte einen Teller, brach ein Stück Brot von einem Laib und reichte ihm beides. Er spürte, wie ausgehungert er war, und bemühte sich, nicht allzu gierig zu essen. Esther zündete sich eine Zigarette an und sah ihm zu.

»Du bist also Pawel Kowna aus Warschau«, sagte sie.

Er nickte mit vollem Mund. »Du hast mich gestern schon nach meinem Namen gefragt.«

»Wie ist es denn so in Warschau?«

Sie fragte ihn nach der Stadt aus, offenbar wollte sie herausfinden, ob er wirklich von dort stammte, oder ob er sie belog. Pawel bemühte sich, die wenigen Erinnerungen heraufzubeschwören, die er aus frühen Kindertagen bewahrt hatte. »Stimmt etwas nicht mit mir?«, fragte er.

Sie lachte. »Schon in Ordnung. Du musst wissen, dass wir sehr vorsichtig sind. Der Krieg ist vorbei, aber die Nazis sind noch da, auch wenn sie ihre Uniformen ausgezogen haben. Typen wie Mitschke sind wieder obenauf.«

»Was wolltet ihr denn vergangene Nacht dort?«, fragte er.

Esther bot ihm eine Zigarette an, die er dankbar annahm.

»Das Gleiche wie du, schätze ich. Ihm einen Denkzettel verpassen. Doch du bist uns zuvorgekommen und hast Gomulka aufgescheucht. Du hast großes Glück gehabt, dass wir dich in Sicherheit gebracht haben. Er hätte die Hunde auf dich gehetzt und sich daran erfreut, wie sie dich in Stücke reißen.«

»Ich glaube, der war bei der SS, genau wie Mitschke«, überlegte Pawel. »Seine Augen sind so kalt und glatt wie Flusskiesel.«

»Davon kannst du ausgehen. Sie sind unter uns, überall.«

»Man sagt, die Amerikaner wollen die Verfolgung von Kriegsverbrechern fortan den Deutschen überlassen«, sagte er.

Esther zog hastig an ihrer Zigarette. »Habe ich auch gehört. Dann wird überhaupt nichts mehr passieren. Das bedeutet, dass die Täter sich selbst bestrafen sollen. Ich hasse die Deutschen.« Sie zerdrückte die Kippe im Aschenbecher, als wolle sie sie stellvertretend für die Nazis zerquetschen. »Ich hatte recht, die ganze Zeit über.«

»Womit?«

Esther wich einer direkten Antwort aus und funkelte ihn aus ihren grau-grünen Augen an. Pawel erschrak, als ihn der unverhohlene Hass darin traf.

»Du hast Mitschke umgebracht«, sagte sie. »Es stand heute Morgen in der Zeitung. Sie schreiben, er habe keinen heilen Knochen mehr im Leib gehabt.«

Pawels Hände begannen zu zittern wie in der vergangenen Nacht. Die Bilder kehrten zurück, Mitschkes Wimmern, das Blut. Er forschte nach dem erlösenden Gefühl, mit dem er aufgewacht war, und spürte, dass er ruhiger wurde. Pawel, der Rächer – das war er nun. Diese Rolle hatte das Schicksal für ihn vorgesehen.

»Ich hatte nicht vor, ihn totzuschlagen«, antwortete er. »Es geschah einfach.«

Er erzählte ihr, was sich am Vortag seines Einbruchs bei Mitschke zugetragen hatte.

»Ja, ich wollte ihm einen Denkzettel verpassen, weil er mich gedemütigt hatte. Ich durchsuchte sein Büro und fand das Geld. Plötzlich stand er vor mir mit einer Pistole in der Hand. Da war ein Rohr, das ich als Brecheisen benutzt hatte, und … dann konnte ich nicht mehr aufhören.«

Sie schob seinen Ärmel hoch und betrachtete die Häftlingsnummer.

»In welchem Lager bist du gewesen?«

»In Sachsenhausen.«

Stockend berichtete er vom Massaker in der Scheune, dem Versprechen und der ohnmächtigen Wut, die er empfand. Esther unterbrach ihn kein einziges Mal und hörte mit versteinerter Miene zu.

»Es geht vielen von uns wie dir«, sagte sie, nachdem er seinen Bericht beendet hatte.

Esther erzählte vom Tod ihrer Familie, vom Warschauer Ghetto und ihrer Flucht nach Frankreich, wo sie sich zwei Jahre lang auf dem Dachboden eines Hauses versteckt hatte.

»Ich bin die Einzige meiner Familie, die überlebt hat«, sagte sie. »Kurz vor Kriegsende wurden wir verraten. Verwandte retteten mich in letzter Minute, aber meine Eltern brachten sie ins KZ Natzweiler-Struthof. Das ist bei Straßburg.«

»Ich weiß«, sagte Pawel. Er spürte, dass er eine Seelenverwandte getroffen hatte. »Fühlst du dich manchmal schuldig deswegen?«

»Ja«, antwortete Esther leise. »Warum gerade ich? Ich finde keine Antwort darauf.«

»Es gibt ein Heilmittel, Esther.«

»Wie sollen diese Wunden jemals heilen?«

»Mein Vater wusste, wovon er sprach«, sagte Pawel. »Gott hat uns überleben lassen, damit wir Vergeltung üben.«

Sie sprang auf und lief erregt im Aufenthaltsraum umher. »Genau das habe ich zu Jaron und Ari gesagt. Die Amerikaner und Briten konzentrieren sich auf die großen Namen, aber es gibt Tausende kleine Nazis, die zu Mördern wurden und vor Kriegsende untergetaucht sind. Wenn wir das Recht nicht in die eigenen Hände nehmen, kommen sie ungestraft davon.«

Sie blieb stehen und ballte die Fäuste. Pawel spürte die unterdrückte, unbändige Energie, die von ihr ausging, die gleiche unerträgliche Spannung, die auch er empfand.

»Du musst wissen, wir haben eine Art Bund geschlossen und eine Widerstandsgruppe nach dem Vorbild der Jüdischen Brigade gegründet«, sagte sie. »Es haben sich uns weitere Opfer des Nazi-Terrors angeschlossen, wir sind die Anführer hier in Frankfurt. Wir haben beschlossen, nicht länger abzuwarten, wir wollen endlich etwas unternehmen.«

»Die Jüdische Brigade?«, fragte Pawel neugierig.

Esther nickte heftig. »Hast du nie davon gehört? Die Briten stellten auf Drängen von Exiljuden während des Krieges eine Brigade auf, die fast nur aus Juden bestand. Sie wurde in Italien eingesetzt. Nach dem Krieg und der offiziellen Auflösung haben einige von ihnen im Untergrund SS-Offiziere gejagt. Sie stellten diese Schweine vor ein eigenes Gericht und vollstreckten die Urteile, die sie gefällt hatten, selbst und unmittelbar.«

»Ihr wolltet also vergangene Nacht Mitschke zur Rechenschaft ziehen?«, fragte Pawel erregt. Konnte es sein, dass er auf eine ganze Gruppe Gleichgesinnter gestoßen war?

Esther schnaufte enttäuscht. »Jaron und Ari haben zu lange gezögert. Ihre Wut auf dich war nur gespielt. Ich glaube, sie waren froh, dass du unsere Aktion vereitelt hast, weil sie die Hosen voll hatten.« Sie sah ihm in die Augen. »Ich war mir nicht sicher, ob ich dir trauen kann, darum wollte ich dich kennenlernen. Ich habe das Gefühl, dass du anders bist als Ari und Jaron … härter, stärker und mutiger.«

»Und nun bist du es?«

Sie holte eine Tonflasche aus einem Schrank und goss Schnaps in zwei Gläser. »Du hast die Tatkraft und Entschlossenheit, die ihnen fehlt. Ich sage, lass uns Mitschke und seine Nazibrut zur Hölle schicken. Lass uns mit dem Pack aufräumen.«

Pawel spürte, wie der Alkohol heiß seine Kehle hinabrann. Endlich war er nicht mehr allein in seinem Zorn. Esther erinnerte ihn an Milena. Auch seine Schwester hatte vor Energie und Lebenslust gesprüht und war stets voller hochfliegender Pläne gewesen. Esther schickte ihm der Himmel. Mit ihrer Hilfe würde er sein Versprechen einlösen können.

»Als ich heute ankam, habe ich einen Mann aus dem Haus gehen sehen«, sagte er. »Er trug Drillichkleidung und eine Schiebermütze. Er hat eine Glatze, eine Boxernase, buschige Brauen und dicht beieinanderstehende Augen.«

»Du meinst Günther Lüdge, unseren Hausmeister?«

»Ach, so nennt er sich jetzt?«

»Was meinst du damit?«

»Er heißt nicht Lüdge«, erklärte Pawel, »sondern Gustav Bolkow, und er war Kapo von Block 13 in Sachsenhausen.«

9

17. April 1947

Pawel lag auf Esthers Bett, rauchte und verlor sich in Tagträumen. Aus dem Bad drang das Plätschern der Dusche. Als er in den Baumweg gekommen war, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, sich zu verlieben. Viel zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, seinen leeren Magen zu füllen und den Rachedurst seines Herzens zu stillen. Esther las nicht nur in seiner geschundenen Seele wie in einem offenen Buch, sie zeigte ihm auch bereitwillig, dass das Leben mehr zu bieten hatte als den Wunsch nach Vergeltung. Pawel hatte völlig vergessen, wie es war, mit einer Frau zusammen zu sein.

Seit zwei Wochen teilte er Tisch und Bett mit ihr. Esther liebte das Leben und genoss jeden Tag, als wäre es der letzte. Sie weckte in ihm Gefühle, von denen er angenommen hatte, sie wären in den Krematorien der Lager längst zu Asche verbrannt. Bald stellte er verwundert fest, dass er Esthers Zuneigung aufrichtig erwiderte und sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte.

Dass er sich endlich satt essen konnte und ein Dach über dem Kopf hatte, war hingegen auch nicht zu verachten. Er rekelte sich wohlig unter der warmen Decke, blies genießerisch den Tabakrauch durch die Nasenlöcher und dachte an die rothaarige Wildkatze, die nebenan duschte. Wer hätte gedacht, dass sich sein Leben so plötzlich ändern würde? Esther war nicht nur die perfekte Partnerin, die er brauchte, um sein Versprechen einzulösen. Sie war zugleich die Frau, die alle seine Sehnsüchte erfüllte, ihn verstand, redete und zuhörte, mit ihm litt und liebte; und sie entfachte auch in ihm wieder das Feuer, lieben zu können.

In den ersten drei Nächten nach dem Mord hatte er von Mitschke geträumt, tagsüber hatte ihn die Angst geplagt. Die Polizei suchte intensiv nach dem Mörder. In einem Nachruf war der Schrotthändler als freigiebiger Gönner und angesehener Bürger von Wiesbaden beschrieben worden. Kein Wort verlor der Verfasser über Mitschkes SS-Vergangenheit und die Verbrechen, die er mit Sicherheit begangen hatte.

Das quälende Gefühl, einen Menschen getötet zu haben, wich allmählich der Befriedigung, die Welt von einem Scheusal befreit zu haben. Nicht zuletzt die langen Gespräche mit Esther trugen dazu bei, Pawels Gewissen zu beruhigen. Den Wachmannschaften in Sachsenhausen war das Töten leichtgefallen, als würden sie ein lästiges Insekt zertreten. Pawel fragte sich, ob es ihm irgendwann genauso gehen würde. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis man sich daran gewöhnte. Zögernd gestand er sich ein, dass er sich nach dem rauschartigen Zustand zu sehnen begann. Wie ein Opiumsüchtiger, der einmal die Wirkung der Droge gekostet hatte, wollte er mehr. Und schließlich führte er nur aus, was Esther ihm aus der Thora zitierte. Die unschuldigen Opfer des Massenmords schrien nach Rache und Pawel fühlte sich als Gottes Werkzeug; als ein Heilsbringer, der durch seine Vergeltung die Schuld des Überlebens von den Schultern der Opfer und seinen eigenen nahm.

Er sprach indessen mit niemandem darüber. Weder Esther noch Jaron oder Ari wussten, was in ihm vorging. Seine Geliebte bewunderte ihn dafür, dass er Mitschke kaltblütig erschlagen hatte, und er beließ sie in dem Glauben, dass ihm das Töten nichts ausmachte. Dass ihn sein Gewissen durchaus quälte, behielt er für sich.

Jaron und Ari waren nach wie vor nicht begeistert von ihm, taten jedoch, was Esther anordnete, und sie ließ sich von Pawel leiten.

Er drückte die Kippe im Aschenbecher aus und schaute blinzelnd in die Abendsonne, die rotgolden durch die Ritzen des Rollos schien. Welch seltsame Kapriolen das Schicksal manchmal schlug. Vor knapp zwei Wochen hatte er das Leben eines hungernden Streuners geführt. Nun hatte er eine starke Frau an seiner Seite und Einfluss auf eine gewaltbereite Truppe, dessen Kämpfer das Gleiche wollten wie er: Rache.

Esther kehrte mit einem Schwall feuchtwarmer Luft im Schlepptau ins Zimmer zurück und kroch nackt unter die Bettdecke. Sie kuschelte sich an ihn und seufzte zufrieden.

»Haben die beiden Hasenfüße alles organisiert?«, fragte er.

Esther boxte ihn gegen den Arm.

»Du sollst nicht so abfällig über sie reden. Sie sind nicht so wie du oder ich, trotzdem verfolgen sie dasselbe Ziel.«

Pawel brummte eine Antwort und fuhr spielerisch durch ihr herrliches, gelocktes Haar.

»Dann schlagen wir heute Nacht zu«, sagte er.

»Endlich«, bestätigte Esther. »Wenn du mich fragst, bist du übervorsichtig.«

»Besser, vorsichtig zu sein, als in einer Gefängniszelle zu landen«, antwortete er. »Wenn noch ein Mord bekannt wird, zählt die Polizei eins und eins zusammen.«

»Na und? Niemand kann dich mit Mitschkes Tod in Verbindung bringen.«

»Du vergisst, dass Gomulka mich erkannt hat. Sie suchen alle Männer, die sich auf die Stelle bei Mitschke beworben hatten.«

Sie küsste ihn auf die Brust. »Und wenn schon. Die Stadt ist groß.«

»Lass uns aufstehen. Wir müssen los«, drängte er.

Sie fuhr mit ihren schlanken Fingern an seinem Bauch entlang. »Eine halbe Stunde haben wir noch.«

Das sah Pawel ein.

Die Dämmerung war einer mondlosen Nacht gewichen, als sie sich mit vier anderen Mitgliedern der Gruppe trafen, die sich auf Esthers Vorschlag hin Sikarier nannten. Die Messermänner hatten während der römischen Besetzung Palästinas zum Terroristenkader der gewaltbereiten Zeloten gehört, die sich mit allen Mitteln gegen die verhassten Eroberer gewehrt hatten. Wie die zum Widerstand gegen die Römer bereiten Juden einten die Mitglieder der Gruppe zwei starke Gefühle: der Hass auf die Deutschen und das Verlangen nach Vergeltung.

Anfangs hatte sich Pawel unwohl unter all den Juden gefühlt. Er gab sich zwar als solcher aus, besaß aber überhaupt keine Kenntnisse über die jüdische Kultur. Als Esther ihm auf den Zahn gefühlt hatte und misstrauisch geworden war, gestand er kleinlaut, dass seine Eltern zwar polnische Juden gewesen seien, ihren Glauben jedoch nicht praktiziert hätten. Aus diesem Grund sei er auch nicht beschnitten. Er verstand es geschickt, in ihr Mitleid zu wecken über seine Unkenntnis, der er sich vorgab zu schämen. Noch am selben Abend begann sie, ihn zu unterrichten. Und zwar nicht nur in den religiösen Gepflogenheiten ihres Volkes, sondern auch in der Praxis der jüdischen Liebeskunst.

Nun saß er auf einem der Sofas im Gemeinschaftsraum, studierte die Gesichter der anderen und lauschte Esthers mitreißenden Worten. Ari war bleich wie ein Toter. Er hat Angst, dachte Pawel. Am liebsten würde er sich in ein Loch verkriechen, doch der Druck der Gruppe ist zu stark.

Dabei war der neue Plan geradezu narrensicher. Drei Tage lang hatte er Bolkow beschattet. Da Esther ein Zimmer unter dem Dach bewohnte und der frühere Kapo als Hausmeister im Gemeindezentrum ein und aus ging, musste Pawel höllisch aufpassen, ihm nicht über den Weg zu laufen. Eine Begegnung mit ihm hätte ihr Vorhaben zunichtegemacht.

»Hast du ihm aufgetragen, was ich gesagt habe?«, fragte er.

»Isaak wird Bolkow gleich bitten, wegen des anstehenden Gottesdienstes für heute Schluss zu machen«, antwortete Esther. »Wenn er sich auf den Weg gemacht hat, warten wir zehn Minuten, dann fahren wir ihm nach.«

Pawel nickte zufrieden.

»Wer verkündet das Urteil?«, fragte ein hagerer Mann mit abstehenden Ohren, dessen Namen Pawel vergessen hatte.

»Ich bin das Opfer und darum klage ich auch an«, antwortete Pawel. »Wen habt ihr zum Vollstrecker gewählt?«

»Das Los ist auf Ari gefallen«, sagte Jaron.

Darum ist er so blass, wurde Pawel klar.

»Weiß jeder, was er zu tun hat?«, rief Esther in die Runde.

Alle nickten, einige unmerklich, andere mit grimmiger Entschlossenheit.

»Gut. Ich sage Isaak Bescheid.«

Esther verließ den Raum. Niemand sprach ein Wort. Ari starrte auf einen Fleck auf dem Fußboden.

Der Feigling wird kneifen, dachte Pawel, und uns irgendwann alle auffliegen lassen.

Esther kam zurück und blickte die Männer der Reihe nach an. »Was macht ihr denn für Gesichter? Ihr seid ein Haufen Zauderer und Feiglinge.«

Jaron wollte widersprechen, doch Pawel schnitt ihm das Wort ab.

»Was wir vorhaben, fällt keinem von uns leicht. Aber wir tun, was wir tun müssen, weil uns sonst keine Gerechtigkeit widerfährt. Denkt an eure Familien, an eure Väter, Mütter und Kinder, die die Nazis ermordet haben. Ihre Seelen schreien nach Rache.«

Zunächst noch verhalten, stimmten sie ihm nach und nach lautstark zu.

»Es geht los«, sagte Esther.

Jaron fuhr den Laster, den sie bei dem Überfall auf Mitschke benutzt hatten. Pawel nahm auf dem Beifahrersitz Platz und drückte seine schwarze Mütze tief in die Stirn. Esther und die anderen hockten unter der Plane auf der Ladefläche.

Sie fuhren langsam durch die leeren Straßen, Regen fiel lautlos auf das nasse Kopfsteinpflaster. Die Scheinwerfer erfassten eine Gestalt, die über den Gehweg eilte und Schuttbergen auswich, die in die Fahrbahn ragten. Jaron fuhr langsam weiter, bis er Bolkow eingeholt hatte. Pawel kurbelte das Seitenfenster herunter und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.

»He, Kumpel. Haste mal Feuer?«

Bolkow blieb stehen, klopfte die Taschen seiner Jacke ab und zog ein Zündholzbriefchen hervor.

»Klar«, sagte er, »wart mal ’ne Sekunde.«

Er riss ein Streichholz an und schützte es mit den hohlen Händen. Pawel beugte sich aus dem Fenster, die winzige Flamme beleuchtete flackernd seine Züge.

»Kowna!«

Bolkow riss erschrocken die Augen auf und ließ das Streichholz fallen. Bevor er Fersengeld geben konnte, waren Esther und die anderen von der Ladefläche gesprungen, stülpten ihm einen Sack über den Kopf und fesselten ihn. Eine Minute später jagte der Lastwagen aus der Stadt hinaus.

»Glaubst du, dass es richtig ist, was wir tun?«, fragte Jaron.

Pawel warf die Kippe aus dem Fenster. »Du etwa nicht? Wie viele Mitglieder deiner Familie sind im KZ umgekommen?«

»Alle. Die Schweine müssen bestraft werden, trotzdem will ich kein Mörder sein.«

»Das sind wir nicht. Wir nehmen unser Recht in die eigenen Hände und setzen es durch, das ist kein Verbrechen.«

»Viele Wege führen nach Rom.«

»Den Nazis war jedes Mittel recht, um uns auszulöschen. Mir ist jedes Mittel recht, um Gerechtigkeit zu erlangen«, antwortete Pawel.

Jaron schwieg und steuerte den Lastwagen durch die Nacht.

Auf ihn muss ich aufpassen, ermahnte sich Pawel, er ist genauso weich wie Ari.

Nachdem sie die Randbezirke der Stadt hinter sich gelassen hatten, bogen sie in einem Waldstück auf einen Feldweg ab, der zu einem kleinen See führte. Pawel hatte sich die Gegend vor ein paar Tagen genau angesehen, sie war perfekt geeignet für ihr Vorhaben.

Der Wagen hielt auf einer Lichtung, Jaron stellte den Motor ab. Pawel hörte, wie Esther und die anderen von der Ladefläche kletterten. Das Licht einer Taschenlampe huschte über Baumstämme und dichtes Buschwerk. Das schwarze Wasser des Sees glitzerte wie flüssiges Pech.

Pawel nahm eine Lampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Ari und der Kerl mit den abstehenden Ohren hatten ihre Pistolen gezogen, Esther zog Bolkow den Sack vom Kopf und verpasste ihm einen Tritt. Er stolperte und landete in einer Schlammpfütze. Hastig drehte er sich auf den Rücken und unternahm einen hilflosen Versuch davonzukriechen. Sie hatten seine Beine zusammengebunden, darum konnte er nur unbeholfen strampeln.

Pawel schaltete die Lampe ein und richtete sie auf das kreideweiße Gesicht des ehemaligen Kapos. »Ich habe nicht vergessen, was du mir angetan hast, Bolkow.«

»Das waren andere Zeiten, Kowna. Jeder hat ums Überleben gekämpft.«

»Um dir Vorteile zu verschaffen, hast du gemeinsame Sache mit den Nazis gemacht. Ich habe gesehen, wie du Wozniak, Michalsky und den alten Dudek totgeschlagen hast. Gestehst du deine Verbrechen?«

»Hätte ich nicht gehorcht, hätten sie mich umgebracht. Du weißt doch, wie es in Sachsenhausen zuging, Kowna.« Gehetzt blickte er von einem zum anderen. »Was habt ihr mit mir vor?«

Esther drängte sich nach vorn. »Schluss mit dem Gequatsche. Die Sikarier verurteilen dich zum Tod. Hast du noch etwas zu sagen?«

»Das dürft ihr nicht! Das ist Mord!«

Bolkow kreischte und bemühte sich ungeschickt, auf die Füße zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Er rutschte aus und fiel in den Matsch. Jaron zerrte ihn hoch und zwang ihn, sich hinzuknien.

»Ari, komm her!«, rief Esther.

»Einen Augenblick«, sagte Pawel. Er ging vor Bolkow in die Hocke. »Wir können es schnell machen … oder es in die Länge ziehen. Das liegt ganz bei dir.«

»Scher dich zur Hölle, Kowna!«

»Du hast geglaubt, ich wäre in der Scheune verbrannt, so wie die anderen Zeugen, die ihr beseitigt habt, damit niemand gegen euch aussagen kann. Aber ich lebe, Bolkow. Und ich habe jeden Tag und jede Nacht an dich und Theissen gedacht. Ich habe gesehen, wie du mit ihm abgehauen bist. Ich will wissen, wo er ist.« Er drehte sich zu den anderen um, die stumm im Kreis um Bolkow herumstanden. »Vielleicht kann ich dann noch etwas für dich tun.«

»Ich weiß nicht, wo er ist. Wir haben uns gleich am nächsten Tag getrennt.«

»Du brauchst ihn nicht mehr zu schützen«, sagte Pawel.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Pech für dich.«

Esther gab Ari einen Wink, doch der näherte sich Bolkow nur zögernd. Er war genauso bleich wie der Mann, den er erschießen sollte.

»Mach schon, Ari!«, rief Esther.

»Knall ihn ab!«, forderte ein anderer. »Wir haben uns geschworen, Rache zu üben.«

Ari hob die Pistole, sein Finger krümmte sich um den Abzug. Er zitterte so stark, dass er die Waffe mit beiden Händen fassen musste.

Bolkow spuckte aus. »Es war richtig, euch ins KZ zu stecken, ihr Feiglinge seid nicht mal in der Lage, einen Wehrlosen zu töten.« Er hob den Kopf. »Was ist los? Wer von euch traut sich? Erbärmliches Judenpack!«

Бесплатный фрагмент закончился.

1 148,15 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
523 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839268742
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают