Читать книгу: «Die Ungerächten», страница 2

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»Warum der Aufwand?«, fragte Bolkow.

»Glaubst du wirklich, die SS ist scharf darauf, dass die Russen herausfinden, was wir hier mit den KZ-Häftlingen machen? Das darf niemand jemals erfahren. Morgen Mittag, wenn die Scheune brennt, ist das Problem beseitigt. Wir müssen uns vorher passende Sachen raussuchen. Lade jetzt die Benzinkanister auf. Pass auf, wir …«

Ein Windstoß drückte den Fensterrahmen in die Zarge, nur abgehackte Wortfetzen drangen noch herein. Pawel blickte sich um. Keiner der Schlafenden ahnte etwas. Nicht wenige glaubten, dass die Terrorherrschaft der Nazis in ein paar Tagen oder Stunden vorbei sein würde.

Warum hatte ihn das Schicksal dazu ausersehen, als Einziger die Wahrheit zu erfahren? Was er zufällig mit angehört hatte, ließ keinen anderen Schluss zu: Die Nazis ließen niemanden am Leben, weil sie es sich gar nicht leisten konnten. Sie würden jeden Beweis ihrer abscheulichen Verbrechen beseitigen.

Schwankend richtete Pawel sich auf. Er war so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte, dabei war er zu Beginn der Lagerhaft einer der Kräftigsten gewesen. Nun schlotterte der Drillich um seinen ausgezehrten Körper. Auch wenn er die etwa achtzig Gefangenen warnen würde, die in der Baracke zusammengepfercht waren, was sollten sie unternehmen, unbewaffnet und all ihrer Energie beraubt? Nur ein Wunder konnte sie retten, und seinen Glauben an das Eingreifen Gottes hatte Pawel längst verloren.

Er rutschte kraftlos an der Bretterwand herab und verharrte in der Dunkelheit. Als der neue Morgen graute, kauerte er noch immer unter dem Fenster, gelähmt von der Hilflosigkeit und dem schrecklichen Konflikt, der in ihm tobte. Sollte er den anderen mitteilen, was er wusste? Oder war es besser, sie ahnten nichts, weil sie ohnehin sterben würden?

Motorenlärm riss ihn bald darauf aus seiner Starre. Bolkow stieß die Tür auf und betrat in Begleitung mehrerer Männer in Wehrmachtsuniformen die Baracke.

»Alle Mann raus und antreten!«, brüllte er.

Etwa ein Drittel der Häftlinge war zu schwach, um aufzustehen. Die SS prügelte sie aus den improvisierten Schlafstellen und trieb sie nach draußen. Auf dem Appellplatz standen mehrere Laster und Fuhrwerke. Die Wachmannschaften aus Sachsenhausen hatten Verstärkung durch Wehrmacht und Volkssturm bekommen, überall patrouillierten SS-Männer mit Schäferhunden.

Wer nicht mehr laufen konnte, wurde von den Soldaten wie Vieh auf die Fahrzeuge verladen. Türen wurden zugeworfen, Motoren dröhnten auf. Pawel bewegte sich mechanisch wie eine Maschine.

Während des etwa einstündigen Marsches versuchten erneut mehrere Häftlinge zu fliehen. Zwei Männern gelang die Flucht in den nahen Wald. Die, die es nicht schafften und von den Kugeln der SS durchsiebt wurden, zählte er nicht. Bolkow wich nicht von seiner Seite, aber Pawel wäre ohnehin nicht geflohen. Lieber ging er mit seiner Schwester und seinem Vater in den Tod, als sie im Stich zu lassen.

Der Wald lichtete sich und machte einer weiten Ebene Platz. Inmitten brachliegender Felder erhob sich eine große Scheune aus roh behauenen Brettern mit einem Wellblechdach. Männer des Volkssturms klappten die Seitenteile der offenen Laster herunter und trieben die Menschen mit Knüppeln von den Ladeflächen.

Endlich entdeckte Pawel seine Schwester. »Milena!«, rief er, »Milena! Ich bin hier!«

Sie stand neben einem Pferdefuhrwerk und half einer alten Frau herunter, hörte ihn aber nicht. Theissen beobachtete die Szene und schnalzte ungeduldig mit der Zunge.

Pawel löste sich aus der Menge und hinkte auf Milena zu. Bolkow fluchte und riss ihn zurück. Pawel versetzte dem Kapo einen kraftlosen Schlag, den dieser gar nicht zu bemerken schien.

»Milena!«

Ihre Blicke trafen sich in dem Augenblick, als Theissen seine Waffe zog und ihr in den Kopf schoss. Die zweite Kugel traf die am Boden liegende alte Frau. Pawel schrie schmerzerfüllt auf. Er wollte zu seiner Schwester, doch Bolkow hielt ihn fest, zerrte ihn herum und schlug ihm ins Gesicht. Theissen sah kurz auf und wandte sich gleichgültig ab.

Die Wachen trieben etwa zweihundert Menschen in die Scheune; Männer und Frauen, Junge und Alte. Pawel bewegte sich betäubt und willenlos inmitten der Menge. Ohne Unterlass sah er Theissen, der Milena die Pistole an den Kopf hielt und abdrückte.

»Pawel!«

Jemand rief seinen Namen.

»Pawel, du bist es!«

Ein dürrer alter Mann schob sich zwischen den dicht gedrängt stehenden Menschen hindurch und kam auf ihn zu. Entsetzt erkannte Pawel in der gealterten Gestalt seinen Vater. Die bartstoppeligen Wangen waren eingefallen, die einstmals wachen, regen Augen stumpf und trüb.

Er breitete die Arme aus und drückte den Alten an sich. Eine Weile standen sie eng aneinandergepresst stumm im Halbdunkel der Scheune.

»Milena ist tot!«, sagte Pawel mit erstickter Stimme.

Josef nickte. Er weinte.

Unvermittelt kam Bewegung in die Menge. Eine Frau kreischte entsetzt auf. Vor dem hellen Rechteck des Himmels zeichneten sich scharf wie Scherenschnitte die Silhouetten von vier mit Maschinenpistolen bewaffneten Gestalten ab. Männer des Volkssturms schleppten Kanister herbei und bespritzten die vorne Stehenden mit Benzin. Die Menge wich panisch zurück. Pawel verlor durch seinen Vater, der sich an ihn klammerte, das Gleichgewicht und stolperte. Der Sturz rettete ihm das Leben, denn in diesem Moment eröffnete die SS das Feuer. Ein lebloser Körper begrub Pawel unter sich, dann noch einer. Das Knattern der automatischen Waffen hielt etwa dreißig Sekunden an, danach herrschte Totenstille. Sein Vater grub die Finger in Pawels Ärmel und drückte so fest zu, dass Pawel einen Schrei unterdrücken musste. Er konnte nicht sehen, was nun geschah, begriff aber, dass das Wunder, an das er nicht geglaubt hatte, eingetreten war. Sie lebten.

Jemand stöhnte, worauf ein kurzer Feuerstoß folgte, dann war es still. Pawel hörte ein leises Plätschern. Panik ergriff ihn. Ihm wurde klar, dass er nur überlebt hatte, um qualvoll bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Ein machtvolles Fauchen fuhr über die Leichen hinweg, gefolgt von einer Hitzewelle, die Pawel den Atem raubte. Die SS-Mannschaften schlossen die Scheunentore und sperrten das Tageslicht aus, blutrote Höllenglut loderte auf.

Pawel tätschelte die Wangen seines Vaters. Der schlug die Augen auf und verzog vor Schmerz das Gesicht.

»Mein Bein«, krächzte er, »mein Bein.«

Pawel zwängte sich zwischen den Toten hindurch. Er selbst war unverletzt, aber das linke Hosenbein seines Vaters war vom Knie abwärts voller Blut.

Die Feuerwalze raste unerbittlich auf ihn zu, der dichte Qualm nahm ihm die Sicht. Es stank bestialisch nach verbranntem Fleisch. Er hustete und würgte und suchte die Umgebung nach einem Fluchtweg ab.

Die Scheune bestand aus einer hölzernen Fachwerkkonstruktion mit senkrechten Schalungsbrettern, Wellblechplatten bildeten das Dach. Das Gebäude würde binnen Minuten lichterloh brennen. Pawel tastete die Rückwand ab und schob mehrere Strohballen zur Seite, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Er bemerkte, dass auch andere das Massaker überlebt hatten. Verzweifelt versuchten sie, mit Kleidungsstücken das Feuer auszuschlagen.

In der Rückwand entdeckte er zwei Bretter, deren untere Enden abgefault waren. Tageslicht schimmerte durch die Ritzen. Pawel legte sich auf den Rücken und begann, mit den Füßen auf das morsche Holz einzutreten. Die Flammen leckten bereits an den Holzstützen empor, das Atmen fiel ihm mit jedem Zug schwerer. Er hoffte, dass die Mörder sich aus Angst vor dem Feuer von der Scheune fernhielten. Wenn sie die Rückseite bewachten, waren er und sein Vater verloren.

Allmählich gaben die Bretter nach, Stücke verfaulten Holzes flogen davon. Endlich war das Loch groß genug, um ins Freie kriechen zu können.

Der Waldrand lag etwa hundert Schritte entfernt, weder SS noch die Männer des Volkssturms waren zu sehen. Er fragte sich, warum sie bei der Mordaktion mitmachten. Entweder hatte man sie dazu gezwungen oder sie waren genauso fanatisch wie die Teufel in den schwarzen Uniformen.

Sein Vater war kaum bei Bewusstsein. Pawel schob seine Arme unter die Achseln des alten Mannes und zog ihn an die Scheunenwand. Er kroch ins Freie, drehte sich um und zerrte ihn nach draußen.

Die Scheune brannte inzwischen wie eine riesige Fackel, im Inneren konnte niemand mehr am Leben sein. Beißender schwarzer Qualm drang durch die Ritzen und Spalten, selbst in einiger Entfernung war die Hitze unerträglich. Pawel rüttelte seinen Vater an der Schulter. Der Alte hustete und schlug die Augen auf.

»Komm!«

Pawel half ihm auf und stützte ihn. Er machte sich Sorgen wegen der Schusswunde und des Blutverlusts. »Wenn wir den Wald erreichen, sind wir in Sicherheit«, keuchte er.

Der alte Mann schüttelte müde den Kopf. »Ich schaffe es nicht. Du musst allein gehen.«

»Ich lasse dich nicht zurück. Niemals.«

Ohne auf seinen Protest zu achten, betrat Pawel die Wiese und sah sich wachsam um. Die brennende Scheune gab ihnen Deckung, ein stürmischer Wind fachte die Flammen an, die turmhoch in den Himmel loderten. Ein Teil des Daches stürzte ein, Funken stoben auf.

Nach wenigen Schritten spürte Pawel, wie erschöpft er war. Das Gewicht des apathischen alten Mannes zog ihn unerbittlich zu Boden. Sein Vater stöhnte vor Schmerz, er stolperte und stützte sich unwillkürlich auf sein verwundetes Bein.

Der Waldrand, der ihm vorhin so nah vorgekommen war, schien jetzt mit jedem Schritt wie ein Trugbild weiter vor ihm zurückzuweichen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sie entdeckt wurden. Ein überraschter Ausruf, ein Schuss, dann wäre es vorbei. Aber nichts geschah.

Sie schafften es bis zu einer Gruppe Kiefern mit tief herabhängenden Zweigen. Pawel brach in die Knie, sein Vater fiel zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Pawel sah zur Scheune zurück. Die Lastwagen fuhren ab, ein Soldat auf einem der Fuhrwerke kämpfte mit den Zugpferden, die von den Flammen in Panik versetzt wurden. Niemand schien auf den Gedanken zu kommen, dass jemand der Feuerhölle entkommen sein könnte. Pawel konnte selbst kaum glauben, dass sie lebten.

Da er kein Messer hatte, versuchte er, mit den Zähnen vom zähen Drillichstoff seiner Hose einen Streifen abzureißen, um die Schusswunde zu verbinden. Der Ausdruck in den Augen seines Vaters erschreckte ihn – so still, so friedlich und demütig.

»Wir müssen weiter«, sagte er.

Unmerklich schüttelte der Alte den Kopf. »Ich würde dich nur aufhalten. Meine Reise endet hier.«

Wütend zerrte Pawel an dem Stoff. »Sag so etwas nicht. Du wirst sehen, wir schaffen es. Wir werden Hilfe finden, irgendwo. Die Nazis sind am Ende.«

»Es ist zu spät.«

Tränen schossen ihm in die Augen. »Nein, das ist es nicht. Glaubst du wirklich, das Schicksal hat uns das Lager, den Marsch und das Feuer überstehen lassen, damit wir hier sterben?«

Sein Vater tastete nach Pawels Hand. »Du musst leben, denn du hast eine Aufgabe.«

Pawel sah ihn verständnislos an. »Was meinst du?«

»Milena … und all die anderen. Sie dürfen nicht umsonst gestorben sein. Jemand muss sie rächen. Versprich mir, dass du die Deutschen für ihre Verbrechen bestrafen wirst. Du wirst nicht allein sein. Der Schrei nach Vergeltung wird sich überall erheben. Und du … musst dir Freunde suchen, Gleichgesinnte, musst …« Sein Brustkorb hob sich stockend, das fahle Gesicht glänzte wächsern. »Versprich es mir.«

Pawel zögerte. Ein Versprechen, das er einem Sterbenden gab, würde er einhalten müssen, auch wenn es seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollte.

»Versprich es mir.«

Pawel nickte. »Ich verspreche es.«

»Gut.«

Der Alte schloss die Augen. Nach einer Weile hörte er auf zu atmen. Pawel blieb neben dem Toten sitzen, hielt seine Hand und weinte die Tränen, die er sich all die Monate versagt hatte.

Er wusste nicht, wie lange er neben seinem toten Vater ausgeharrt hatte, als er Stimmen hörte, die ihn aus seiner Starre rissen. Er kroch ins Unterholz und verbarg sich in einer von Haselnusssträuchern überwucherten Senke. Durch die Zweige sah er zwei Männer, die so dicht vor ihm standen, dass er sie beinahe mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können. Einer der beiden rollte ein Bündel zusammen und warf es ins Unterholz. Es war eine SS-Uniform. Der zweite Mann trug einen dunklen Wollmantel und eine olivgrüne Feldmütze der Wehrmacht. Es war Bolkow. In dem anderen Mann erkannte Pawel SS-Hauptscharführer Gerhard Theissen.

»Machen wir, dass wir fortkommen«, sagte Theissen.

Bolkow nickte. »Meine Freunde warten bereits auf uns. Wir müssen uns beeilen.«

Sie entfernten sich rasch nach Westen, Pawel blieb allein zurück. Die Mörder würden nun in der Menge der Flüchtenden untertauchen, sich neue Papiere besorgen und niemals für ihre Untaten bestraft werden. Pawel ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in die Handflächen, bis der Schmerz unerträglich wurde. In diesem Augenblick schwor er beim Tod seiner Schwester, das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, unter allen Umständen einzulösen. Er würde Theissen suchen und ihn eines Tages finden, auch wenn er der Jagd nach ihm sein Leben opfern musste. Und der Tod des verfluchten Mörders sollte erst der Beginn seiner schrecklichen Vergeltung sein.

2

Zwei Jahre später, 8. März 1947

Hannah Bloch schlug den Kragen ihrer pelzgefütterten Fliegerjacke hoch, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen. Trotz der warmen Armeestiefel, der olivgrünen Hose und dem Wollschal fror sie. Ihr Atem kondensierte auf der Fensterscheibe der Straßenbahn, die sich ihren Weg durch die Trümmerwüste Frankfurts bahnte. Hannah wusste, dass sie großes Glück gehabt hatte, weil Scott Young, Lieutenant der US-Army und Agent des CIC, einen Narren an ihr gefressen hatte. Er versorgte sie mit allem, was nötig war, um in der zerstörten Stadt zu überleben. So war auch die schicke Jacke ein Geschenk von ihm.

Sie lehnte die Stirn gegen die kalte Glasscheibe und dachte an die vergangene Nacht. Scott besaß alles, was sich eine Frau wünschen konnte. Er war klug, aufmerksam und hatte Humor. Er sah blendend aus und war ein zärtlicher Liebhaber. Sie wusste, dass er sie aufrichtig liebte und bei jeder Gelegenheit auf Händen trug. Eigentlich sollte sie mit einem solchen Mann an ihrer Seite überglücklich sein, denn es erging ihr weit besser als der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die meisten Menschen waren vollauf damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren und schlugen sich nicht mit einem komplizierten Liebesleben herum. Die Stadt war voll mit Frauen, die darauf warteten, dass ihre Männer endlich heimkehrten oder dass sie wenigstens Gewissheit über deren Schicksal erlangten. Niemand wusste genau, wie viele Ehemänner, Väter und Söhne auf den Schlachtfeldern Russlands für den Wahn vom Großdeutschen Reich ihr Leben gelassen hatten. Wie so oft in ihrem Leben hatte Hannah Glück im Unglück gehabt, dennoch brachte sie es fertig, mit dem Schicksal zu hadern und sich über ihre Gefühle im Unklaren zu sein.

Seit Wochen grübelte sie darüber nach, was sie für Scott empfand. An ihm lag es nicht, dass sie regelmäßig Phasen des Trübsinns durchlebte. Er gab sich große Mühe, ihr zu helfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch die Bilder in ihrem Kopf verfolgten sie auch, wenn sie mit ihm zusammen war. Sie schlichen sich in ihre Träume und schoben sich am Tag immer dann vor ihre Augen, wenn sie glaubte, die schrecklichen Ereignisse loslassen zu können: die Nacht bei der Kapelle, die Grube, Lubeck, der sie zwang, zu graben, bis sie auf die Leichen der Deserteure stieß und damit auf die Erkennungsmarke – den furchtbaren Beweis, dass ihre erste große Liebe Hans Simonek tot war. Vielleicht hätte sie ihn vergessen können, wenn sie sich ehrlich darum bemühte, aber sie wollte es nicht. Solange sie die Erinnerung an ihn wachhielt, lebte er in ihrem Herzen weiter. Und das war ihr Problem.

Die Straßenbahn rumpelte über die notdürftig ausgebesserten Schienen zum Sperrbezirk, den die Amerikaner eingerichtet hatten. Hannah zog die Fliegerjacke enger um ihre Schultern und hörte das Papier in der Innentasche knistern. Trotz ihrer düsteren Stimmung musste sie unwillkürlich lächeln. Fast schämte sie sich wegen ihrer trübseligen Laune, denn die vergangenen Tage waren mit freudigen und aufregenden Ereignissen angefüllt gewesen. Sie zog die CPL aus der Tasche und strich sie glatt. Die internationale Commercial Pilot Licence war auf ihren Namen ausgestellt und trug das Datum vom 7. März 1947 – ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Irgendwie hatte Scott es geschafft, die Flugprüfung auf genau diesen Tag zu legen. All ihre Träume hatten sich erfüllt. Sie besaß nun die Erlaubnis, Flugzeuge bis zur Größe einer Junkers 52 zu fliegen. Und damit nicht genug, sie war die einzige Frau, der diese Ehre im Nachkriegsdeutschland bisher zuteilgeworden war. Deutlich erinnerte sie sich an die im Sonnenlicht blitzende Douglas DC-2, an die strengen Blicke des Prüfers und ihre schweißnassen Hände in den ledernen Fliegerhandschuhen, als sie die Maschine getrimmt und die Motoren gestartet hatte. Scott hatte sie als Navigator begleitet.

Eine Stunde später besaß sie eine Pilotenlizenz. Das Mädchen, das in den Wolken nach Bildern gesucht hatte, war erwachsen geworden und erlebte, wie sein Traum Wirklichkeit wurde. Der einzige Wermutstropfen war die Tatsache, dass bislang kein Deutscher die Erlaubnis erhielt, ein Flugzeug zu besitzen oder gar zu fliegen. Nur ausländische Fluggesellschaften wie die Pan American World Airways durften die Flughäfen in Frankfurt und Berlin ansteuern. Wenn sie als Pilotin arbeiten wollte, musste sie darauf hoffen, eine Anstellung bei einer dieser Gesellschaften zu ergattern. Scott hatte bereits versucht, ihr schonend beizubringen, dass die Aussichten dafür schlecht standen. Trotzdem hatte er ihr die Ausbildung bei der US-Army ermöglicht. Noch war ihr nicht ganz klar, warum er das getan hatte, aber er dachte eben praktisch. Vielleicht hatte er bereits einen Plan, mit dem er sie überraschen wollte.

Scott Young arbeitete für den CIC, einen amerikanischen Geheimdienst, dessen Hauptaufgabe in Europa darin bestand, Kriegsverbrecher aufzuspüren. Hannah dachte daran, wie sie Scott im Klingelpütz, dem Kölner Gefängnis, kennengelernt hatte. Wäre sie ihm nicht begegnet, würde sie noch immer eine Haftstrafe wegen Schieberei, Dokumentenfälschung und Schwarzmarkthandel absitzen. Scott hatte sie es auch zu verdanken, dass sie die Gelegenheit erhielt, den Gutachterärzten der Aktion T4 und dem untergetauchten Personal der Tötungsanstalten nachzujagen.

Sie hatte fast zwei Jahre in verschiedenen Anstalten verbringen müssen und mit knapper Not überlebt, und sie kannte die Namen und Gesichter vieler Täter. Deshalb hatte Scott ihre Freilassung aus der Haft erwirkt. Seitdem half sie ihm, nach Ärzten und Pflegern der Mordanstalten zu fahnden. Den einen oder anderen hatten sie erwischt, viele waren jedoch auf freiem Fuß und machten unter falschen Namen bereits wieder Karriere.

Als Zivilangestellte der US-Army kam sie in den Genuss, die als Roundup bezeichnete Straßenbahnlinie 13 benutzen zu dürfen, die vom Bahnhof durch das Sperrgebiet zum Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte im I.G.-Farben-Haus führte. So brauchte sie nicht jeden Morgen zu Fuß den Weg durch die zerstörte Innenstadt zurückzulegen.

Hannah schob die Pilotenlizenz in ihre Jacke und blickte in Gedanken versunken hinaus. Vor den Fenstern zogen Schuttberge und ausgebombte Häuser vorbei. Frankfurt glich einem gigantischen Trümmerhaufen, in dem in Lumpen gehüllte Gestalten nach allem suchten, was ihr Überleben sicherte. Es würden Jahre vergehen, bis die Stadt zur alten Blüte zurückfand. Ob es überhaupt jemals gelingen würde?

Die Bahn drosselte das Tempo und stoppte an der Haltestelle Palmengarten. Die Türen öffneten sich, kalte Luft strömte ins Innere. Drei neue Fahrgäste stiegen ein.

Eine Frau mit hagerem Gesicht und verkniffenen Lippen ging durch den Mittelgang und setzte sich auf einen freien Platz. Hannah betrachtete sie flüchtig, ihre Gedanken weilten weit weg auf einer Wiese an einem Vorfrühlingstag des Jahres 1945. Sie schloss die Augen und sah Hans vor sich, die Grübchen, die sich an seinem Kinn bildeten, wenn er lachte, und seine Augen, die mit dem Himmel um das schönste Blau wetteiferten.

Hannah schüttelte die Erinnerungen ab, denn sie waren zu schmerzhaft. Sie bemerkte, dass die Frau ihren Hut abgenommen hatte. Eine eisige Klaue krallte sich um Hannahs Herz, eine lange verdrängte, alles verzehrende Furcht stieg in ihr hoch. Sie starrte gebannt auf das knochige Profil mit der Geiernase und dem Hexenkinn und wartete, bis die Frau ihr das Gesicht zuwandte. Hannah kannte sie. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, an diesem Morgen in der Straßenbahn einer Toten zu begegnen.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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523 стр. 6 иллюстраций
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9783839268742
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