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Heiliger Bimbam

Wie lange ich am Telefon gesessen habe, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich wieder einmal aberwitzige Spekulationen angestellt habe. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, mir diese seltsame Zeitungsmeldung noch einmal anzusehen. Hatte ich überhaupt gelesen, worüber ich so angestrengt nachdachte? Stand das tatsächlich schwarz auf weiß auf dem Papier? Und vor allem: War es wirklich nur eine kurze Notiz? Hätte es nicht eine Aufmachung auf der ersten Seite sein müssen? Schließlich war die Behauptung der Frau, bei der sie offenbar hartnäckig geblieben war, keine Kleinigkeit, eigentlich viel mehr als beispielsweise ein Unfall auf der Autobahn. Ich schlug die Zeitung noch einmal auf. Und es stand noch immer da, schwarz auf weiß, klein geschrieben ganz unten rechts in der Ecke:

„Ungewöhnliche Erkrankung. Eine Rentnerin aus dem sächsischen Kuhschnappel wurde ins Krankenhaus eingeliefert, weil sie immer wieder behauptete, von ihrem verstorbenen Mann aus dem Jenseits angerufen worden zu sein. Sie habe sich darüber sehr gefreut und mehrmals mit ihm gesprochen.“

Einmal mehr machte ich mir bewusst: Die Redaktion der Zeitung war über das Ereignis hinweg gegangen als sei es gewöhnlicher Alltag, hatte einen absolut grotesken, ja abnormen Vorgang zwar vorsorglich gemeldet, aber gleichzeitig zur Bedeutungslosigkeit bagatellisiert. Hatte sie eine Anweisung von oben? Oder hatte sie eigenständig so entschieden?

Auch nach Tagen stand kein weiterer Beitrag in der Zeitung. Echter Journalismus, fand ich, hätte längst für ein ausführliches Interview mit dieser Frau sorgen müssen. Das hätte die Zeitung von heute auf morgen weltbekannt gemacht. Aber sie scheuten offenbar das Risiko. Zu fatal wäre gewesen, wenn dann früher oder später unwiderlegbar herausgekommen wäre, dass diese Frau einfach gelogen hatte. Nur ich wusste, dass das nicht der Fall gewesen war. Sollte ich einen Leserbrief schreiben? Nein doch! Welch dummer Gedanke. Auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gehen. Es war überhaupt nicht zu erwarten, irgendein Verständnis zu finden. Im Gegenteil, ich hätte mit einem freundlichen Irrenarzt rechnen können.

Ich schlief wieder einmal sehr unruhig. Und als das Telefon weit nach Mitternacht klingelte, war ich just hellwach. Ich griff zum Hörer und sah, da war keine Nummer auf dem Display. Die Jenseitserin!

„Ja, bitte!“ sagte ich.

„Entschuldige!“ bat die Stimme, „ich hätte längst wieder anrufen müssen. Aber hier geht alles drunter und drüber.“

„Und hier ist Mitternacht!“

„Ach du lieber Himmel! Entschuldige, entschuldige! Ich ruf später wieder an!“

„Moment!“ rief ich entschlossen. Die Gelegenheit schien mir günstig, endgültig Klarheit zu schaffen. „Hören Sie! Wie war das mit unserer Hochzeit? Welche Gäste hatten wir?“

„Was ist los?“

„Ich frage Sie, wie das mit unserer Hochzeit war. Welche Gäste hatten wir?“

„Aber Dad! Das weißt du doch genau!“

„Natürlich! Aber ich will es von Ihnen wissen!“

„Dad, wir hatten keine Gäste!“

„Keine?“

„Nein doch! Wir mussten schnell zurück zu unserem Sohn. Der lag in Windeln in seinem Körbchen, und die Wirtin war bereit gewesen, ab und zu nachzusehen.“

Heiliger Bimbam! Das waren mehrere stimmige Details in einem Satz. Ich gab mich geschlagen. „Schatz“, hauchte ich ins Telefon, „du scheinst es wirklich zu sein.“

„Ich bin es!“

„Dass es so etwas gibt!“ murmelte ich, noch immer ungläubig, aber mich den Fakten beugend.

„Pass auf,“ sagte sie, „schlaf du dich jetzt erst einmal aus. Nur noch so viel: Ich freue mich auf dich! Habe viel zu erzählen. Gute Nacht!“

Stille! Das Jenseits schwieg. Und ich fand natürlich keine Ruhe. Ich hatte mit gewehrt, ja, ich hatte das Unmögliche nicht für möglich halten wollen, und musste zugeben, die Beweise waren unwiderlegbar, dass da am anderen Ende der Leitung meine Frau sprach, in welchem Zustand auch immer. Es könnte ihr wacher Geist sein. Das wäre noch eine Erklärung. Aber wahrscheinlich war es nicht. Es konnte nach menschlichem Ermessen einfach nicht wahrscheinlich sein.

An Schlaf war nicht zu denken. Es waren quälende Stunden. Völlig unausgeschlafen registrierte ich den erwachenden Tag. Ich trat ans Fenster, blickte verschlafen hinaus und sah, wie doch tatsächlich in eben diesem Moment ein Graureiher auf der Wiese landete. Er verharrte einen Moment, dann stolzierte er gravitätisch zum Teich. Sollte ich ihn gewähren lassen? War das alles noch von irgendeiner Bedeutung? Waren irdische Angelegenheiten überhaupt von Belang? Jetzt, zu einer Zeit, in der ich Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen hatte und mehr oder weniger bereit war, auch anzuerkennen, was ich da erlebte? Ich beschloss, Petra beim nächsten Mal sozusagen eine letzte klärende Frage zu stellen. Dann öffnete ich das Fenster und verscheuchte den Reiher.

Schon während des Frühstücks griff ich zur Zeitung. Irgendwann, fand ich, müsste sachlich und ausführlich über das supergroteske Phänomen „Rufe aus dem Jenseits“ berichtet werden. Aber die Redaktion hatte ganz andere Aufmerksamkeiten, ganz und gar nicht so grotesk wie mein Problem, aber grotesk genug für den gesunden Menschenverstand. Ausführlich wurde erörtert, ob es nicht endlich an der Zeit sei, das weibliche Geschlecht auch in der Sprache gleichberechtigt anzuerkennen. Die Tendenz war, und sogar die Herausgeber des Dudens hatten sich wohl schon angeschlossen, männliche Namen mit einem Sternchen am Ende zu versehen, um damit auszudrücken, dass auch Frauen damit gemeint seien. Welch Poblem! Sogar Parteien wälzten es hin und her. Ich kam nicht umhin zu konstatieren, dass die menschliche Gesellschaft ganz offensichtlich an einem Scheidepunkt angelangt scheint. Man macht neuerdings zur Sorge, was eigentlich eine nichtige Fragestellung ist, und vermag es so, den wahren Sorgen aus dem Wege zu gehen. Oh bitte, das Jenseits, ist es eine wahre Sorge? Noch ehe ich mir eine Antwort geben konnte, meldete es sich schon wieder.

„Ja!“, sagte ich.

„Stör ich?“ fragte sie.

„Nein, bin gerade fertig mit dem Frühstück.“

„Schön!“

„Habe nur noch eine Frage!“ sagte ich bestimmt.

„Dacht ich mir,“ meinte sie.

„Was machte unser Sohn, als wir nach unserer Hochzeit wieder bei ihm waren?“

„Du hast ihn trocken gelegt, und er hat dich in hohem Bogen angepinkelt.“

Was blieb mir nun? Ich zitterte nicht mehr! Petra hatte mich damals, und ich erinnerte mich gut, vergnügt an die Front geschickt. Und als ich meine Bewährungsprobe als Vater bestanden hatte, waren wir hurtig ins Bett gesprungen.

„Zufrieden?“ fragte sie jetzt.

„Ja,“ sagte ich und zitterte wieder.

„Und wie geht es dir?“

„Tja, du kennst ja meinen Zustand. Wird sich nicht mehr bessern. Ich schleppe mich so durch die Zeit.“

„Herz und Nieren.“

„Und Prostata.“

„Du lässt aber auch nichts aus.“

„Man gibt sich Mühe.“

„Weiß ich auch keinen Trost. Das Leben ist schon schön. Halt es fest, so lange du kannst.“

„Sehr schwierig ohne dich!“

„Musst du durch!“

„Ich muss dir noch den Kuss geben.“

„Welchen Kuss?“ fragte sie.

„Als du mich einen Tag vor deinem Tod im Krankenhaus besucht hast und zum Abschied sagtest ‚noch ein Kussel‘. Und ich dir den Kuss aus Sorge, ich könnte dich irgendwie anstecken, nur auf die Wange gegeben habe.“

„Ja, ich erinnere mich. Das war irgendwie symbolisch für unsere Beziehung. Immer herzlich, immer lieb, aber auch spröde und widersprüchlich.“

„Kannst du mir verzeihen?“

„Ja doch!“

Mir schossen Tränen in die Augen. „Danke!“ sagte ich gerührt und zwang mich, nicht sentimental zu werden. Das hätte ihr nicht behagt. In komplizierten Situationen in unserer Ehe, in der ich geneigt war, rührselig zu werden, hatte sie stets rational und sachlich reagiert und mich damit indirekt zurechtgewiesen. Sie mochte keine wehmütige Sentimentalität und konnte bezaubernd cool sein..

„Hör mal,“ fuhr sie jetzt fort. „Ehe wir über mich reden, sag mir bitte noch schnell, wie es unseren Kindern geht.“

„Sie sind gesund. Das ist mir das Wichtigste. Ansonsten läuft es im Moment ganz passabel. Martina ist zur Zeit in San Francisco und inszeniert „Alcina“ von „Händel“. Ihr Chef kommt am Schluß dazu, bastelt noch ein bisschen am Ergebnis herum und gibt es dann als seine Inszenierung aus. Und Martin ist mit seiner Puppentruppe für vier Wochen in Südkorea auf einem Festival in der Provinz. Sein Eumel ist da so etwas wie das Maskottchen des Festials. Es gefällt ihm sehr, sie haben Erfolg.“

„War er da nicht schon einmal?“

„Ja, er ist jetzt schon zum viertel Mal dort.“

„Verstehe das bitte, aber ich möchte sie nicht anrufen. Da sie meine Kinder sind, könnte ich das zwar, aber ich möchte sie nicht dieser psychischen Belastung aussetzen.“

„Das ist gut,“ sagte ich sofort.

„Fast alle hier telefonieren inzwischen mit ihren Verwandten. Und die, die keine mehr auf der Erde haben, sind traurig.“

„Ist ja irre!“

„Alles irre – aus menschlicher Sicht. Aber eigentlich ganz normal. Alle Toten landen im Jenseits und finden hier ihre geistige Existenz für die Ewigkeit.“

„Wie geht das denn?“

„Frag mich das nicht. Ich weiß es nicht. Aus allen Jahrhunderten geistern hier ehemalige Menschen herum. Eine illustre Gesellschaft. Geist und Seele sind in einer Hülle, die unserer irdischen Gestalt gleichkommt. Körperlose Wesen, sichtbar, aber nicht greifbar. Unser Dasein besteht aus Denken, und da jeder sein Wissen und seine Erfahrung mitbringt, kannst du dir vielleicht vorstellen, was hier los ist. Nicht trinken, essen, schlafen – nur denken.

„Mir schwirrt der Kopf.“

„Soll ich erst einmal aufhören.“

„Aus allen Jahrhunderten?“

„Ja. Aber die Jahrhunderte bleiben meist unter sich. Man hat sich gegenseitig wenig zu sagen. Die meisten Turbulenzen gibt es in den letzten drei Jahrhunderten. So mit Goethe geht es los. Meist lange Debatten über die Ohnmacht des Humanismus. Um Gott oder Götter geht es auch oft. Das letzte Jahrhundert ist ein absoluter Aufreger.“

„Was meinst du mit Aufreger?“

„Da gibt es am meisten zu debattieren, weil alles noch so frisch ist. Das ist ja so: Die große Mehrheit der Jenseitser will ihre Ruhe haben. Sie meinen, sollen die da auf der Erde mal machen, wir haben es hinter uns. Sie dösen vor sich hin und scheinen ewig zu schlafen, obwohl sie gar nicht pennen. Aber die großen Geister, so wie Shakespeare oder Marx zum Bei-spiel, die regen sich immer wieder auf über die sagenhaften Zustände auf der Erde und unternehmen alles, um noch einmal Einfluss zu gewinnen. Durch die Spitzentechnologie auf der Erde wird das nach Jahrtausenden auf einmal möglich. Aber sie selbst können nicht mehr telefonieren, denn sie haben keine Angehörigen mehr auf der Erde. Irgendwas mit den Genen scheint da eine Rolle zu spielen. Nun suchen sie nach Möglichkeiten, die Menschen dennoch zu erreichen und sie aus ihrer Lethargie aufzuscheuchen. Sie bauen auf die, die noch Verwandte auf der Erde haben, die etwas unternehmen könnten.“

„Das klingt ja nach Verschwörung!“

„Du sagst es!“

„Faszinierend! Und sag mal: Sind nicht überall auch Leute von anderen Erden dazwischen?“

„Selbstverständlich. Es gibt viele Erden.“

„Und was wollen deren Bewohner?“

„Keine Ahnung. Kümmert mich auch nicht. Der Zugriff auf die Erde ist schon spannend genug.“

„Zugriff?“

„Noch ist es nur Absicht.“

„Mann, Mann! Jetzt reicht es erst einmal. Schade, dass ich dich nicht anrufen kann.“

„Macht nichts! Lass es dir gut gehen. Ich melde mich wieder. Tschüss!“

Wie im Fieber

Jeder Leser und gewiss auch jede Leserin wird zugeben, dass ich mich lange gegen das Unfassbare gewehrt habe. Mir war etwas widerfahren, was noch nie einem Menschen widerfahren ist. Angeblich hatte ich einen heißen Draht ins Jenseits, an dessen Ende obendrein und groteskerweise meine verstobene Frau sein sollte. Das konnte nicht stimmen, das konnte es nicht geben. Und ich wehrte mich. Nun habe ich mich schließlich denn doch darauf eingelassen. Zwar hegte ich tief in meinem Innern noch immer erhebliche Zweifel, vermutete dies oder jenes, ohne dass ich mir einen Reim hätte darauf machen können, doch letztlich - wie es dem Menschen auf Erden halt beschieden ist - hatte ich mich in mein Schicksal gefügt. Und lebte fortan wie im Fieber.

Am meisten erregte mich die Vermutung, meine Frau könnte nicht nur aus eigenem Interesse anrufen, sondern von einer fremden Macht dazu angehalten werden. Wenn alle Menschen ins Jenseits kommen, dann ja auch alle irdischen Schurken. Und welche Möglichkeiten sich denen dort eröffnen, hat meine liebe Petra wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen. Sie sucht offenbar die Nähe der großen Geister. Einen Blick für Schurken hat sie nicht. Hitler würde sie natürlich erkennen, höchstwahrscheinlich auch andere Kriegsverbrecher, wie zum Beispiel USA-Präsident Lyndon B. Johnson, den Giftkrieger gegen Vietnm. Aber Terroristen wie zum Beispiel Bin Laden und diese Kaliber?

Das Problem ist, mutmaßte ich: Die Unredlichen, die Gauner, die notorischen Lügner und Kriegstreiber aller Zeiten gehören nicht zur Sorte dösender Jenseitser, sondern sinnen unentwegt auf erneuten Einfluss - im Jenseits wie auf der Erde. Könnte Petra unter deren Einfluss stehen, ohne es zu ahnen? Zugegeben, ich ging bei meinen Überlegungen von irdischen Verhältnissen und Erfahrungen aus. Das Jenseits ist höchstwahrscheinlich auch in dieser Hinsicht ganz anders gestrickt. Ich hoffte, dass der Zugriff auf die Erde, von dem Petra sprach, dem Wohl und Gedeihen der Menschen dienen werde. Wenn die Redlichen aus allen Jahrhunderten sich zusammenschließen würden, dann hätte das Gute vielleicht eine Chance. Trotz aller Entfernung.

Wie gesagt, ich lebte im Fieber, dürstete geradezu danach, von Petra Auskunft zu bekommen. Leider hatte sie es mit ihren Anrufen nicht so eilig. Tagelang saß ich in der Nähe des Telefons, doch es schwieg. Und auch in den Nächten fand ich wieder keine Ruhe. Meine Erregung eskalierte durch eine Meldung aus den USA. Da hieß es aus angeblich gut informierten Regierungskreisen, bei den neuerdings hier und da aufgetretenen befremdlichen Erkrankungen, bei denen Bürger behaupten, Kontakt mit dem Jenseits zu haben, handle es sich um ein Virus, das offenbar aus China eingeschleppt worden sei. Allerdings bestünde ganz und gar keine Gewissheit. Das stand ohne Kommentar in meiner Zeitung. Ich wusste sofort, dass die Amerikaner mit ihrer Beschuldigung in die Irre gingen. Und ich wusste zugleich, dass der Zugriff auf die Erde, von der meine Frau gesprochen hatte, offenkundig bereits in vollem Gange war.

Als Petra endlich wieder anrief und ich sie fragte, meinte sie, das seien alles zunächst rein private Anrufe. Es sei noch viel zu diskutieren und abzuklären. Man wolle sich so einig wie möglich sein. Und da alle mitreden, Kompetente und Inkompetente, sei es sehr schwer, Übereinstimmung zu finden. Am weitesten seien sie bei den Themen sozialer Fortschritt und Abrüstung, das Thema Demokratie oder Tyrannis sei sehr zäh, das Thema Religion schier unerschöpflich und wahrscheinlich unlösbar und das Thema Erderwärmung noch nicht einmal auf irgendeiner Tagesordnung.

Das waren unvermutet höchst interessante Auskünfte. Petra hatte mir ganz nebenbei eine Menge Stoff zum Nachdenken serviert. Ich hakte allerdings nicht nach, sondern ging erst einmal zu dem Thema über, das mich aktuell beunruhigte, nämlich die Möglichkeit, dass meine liebe Frau irgendwelchen jenseitigen Schurken sozusagen die Drecksarbeit machen könnte. Sie lachte ihr herzhaftes Lachen und sagte:

„Mein Lieber, deine irdische Sorge ist zwar verständlich, aber völlig überflüssig. Mit Hitler lasse ich mich nicht ein, so sehr der sich auch bemühen mag, geläutert daher zu kommen.“

„Es muss ja nun wirklich nicht gleich Hitler sein!“

„An wen denkst du?“

„Na, es gibt doch genug Schurken!“

„Nun sag schon!“

„Na, sagen wir mal Pinochet oder Pol Pot.“

„Ach, du lieber Himmel.“

„Entschuldige, entschuldige vielmals. Ich merke schon, bin auf der falschen Spur.“

„Mein lieber Mann, du bist außerhalb jeder Spur. Du musst wissen, dass solche Herren, wie du sie eben genannt hast, auch hier keinerlei Kredit haben. Sie geistern zwar auch herum, aber niemand lässt sich mit ihnen ein. Gerade mal Hitler hat es geschafft, von Roosevelt, Churchill und Stalin gehört zu werden. Aber Leute wie Pinochet oder Pol Pot müssen damit rechnen, dass ihnen eines Tages hier der Prozess gemacht wird. Die Hauptankläger der Nürnberger Prozesse sind sich da ziemlich einig. Es gibt aber auch Jenseitser, die der Auffassung sind, dass hier nicht nachgeholt werden kann, was auf der Erde versäumt wurde. Für sie ist das Jenseits der Ort der Versöhnung. Und das funktioniert bisher eigentlich ganz ordentlich. Du musst bedenken, dass die Erde im Weltall nur ein Fliegendreck ist und eigentlich uninteressant. Erst neuerdings, seit China, findet sie wieder Aufmerksamkeit. Aber darüber später einmal! Ich muss Schluß machen.“

„Moment, Moment!“ rief ich neugierig geworden, „mischen sich nicht auch Geister früherer Jahrhunderte ein?“

„Natürlich, mehr oder weniger. Im Grunde aber haben sie alle mit ihrer Zeit zu tun, mit ihren Vergehen und Verbrechen. Waren die Kreuzzüge eine Errungenschaft? War die Ausrottung der Indianer nötig? Waren die Kolonialkriege etwas Positives? Haben die Römer die germanische Zivilisation zerstört? Fragen über Fragen. Alle Diskutanten geben aus ihrer Sicht plausible Erklärungen und Rechtfertigungen ab, oft völlig konträr. Aber sie brüllen sich nicht nieder, sie hören sich andere Meinungen an und respektieren sie.“

„Also geht es - sozusagen Gott sei Dank - nicht nur um Verbrechen, sondern auch um Vernunft und Fortschritt.“

„Vom Menschen erfundene Kategorien! Wahrscheinlich zu kurz gegriffen.“

„Reden Marx und Engels auch mit?“

„Natürlich! Auch Hegel, Nietzsche und die alle. Mann, ich muss Schluß machen. Tschüss! Bis demnächst, mein Lieber.“

Aus. Stille. Ich fand es schon recht rätselhaft, dass Petra ihre Anrufe so abrupt abzubrechen pflegte. Ihre Gedanken gingen, wie mir schien, irgendwie kunterbunt durcheinander. Und ihre Seele war also auch noch existent. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher wurden mir die Anrufe wieder. Aber ich hatte wahrhaftig soeben mit einer menschlichen Stimme telefoniert, so haasträubend unfassbare Dinge sie mir auch gesagt haben mochte.

Die Sieger des Zweiten Weltkrieges hatten sich also mit Hitler versöhnt. So konnte man das auslegen. Weil seine Kriegsverbrechen im Jenseits belanglos waren. Weil ja die Erde ohnehin nur ein Fliegendreck ist. Warum dann aber dieses plötzliche Interesse? Wegen China? Immerhin ein Milliarden-Volk, und auf dem wirtschaftlichen Vormarsch an die Weltspitze. Überhaupt auf vielen Gebieten schon führend auf der Erde. Gerade hatte ich gelesen, dass in China 80 Prozent der Haushalte glasfaserverkabelt sind, in Deutschland gerade einmal 3,3 Prozent. So etwas beeindruckt offenbar auch im Jenseits. In China kommt solch Neuerung wahrscheinlich deshalb so schnell voran, weil sie vom Staat einfach durchgeführt und vor allem auch bezahlt wird.

Ich erinnerte mich, dass ich gar nicht begeistert war, als neulich ein Werber am Gartentor stand und stolz verkündete, mein Haus würde alsbald glasfaserverkabelt, ich müsste nur noch zustimmen. Im Moment sei es kostenlos für mich, danach würde es sehr teuer. Beim genaueren Beschäftigen mit dem Angebot stellte sich heraus, dass nach Verlegung des Kabels in mein Haus alle bislang existierenden und vor allem funktionienden Anschlüsse hinfällig wären und die gesamte Anlage neu eingerichtet werden müsste – selbstverständlich auf meine Kosten. Es fiel mir nicht schwer abzusagen. Indessen, ist solch Zögern gar die Ursache dafür, dass dies und jenes bei uns nicht so schnell vorankommt, wie es könnte?

Welch belanglose Frage im Grunde! Immerhin konnte sie mein anhaltendes Fieber ein wenig mindern. Doch just, als ich glaubte, mein seelisches Gleichgewicht einigermaßen wieder gewonnen zu haben, geriet ein wissenschaftlicher Artikel über den Kosmos in meine Hände, dessen Lektüre mich erneut total konsternierte.

Zunächst einmal wurde mir erneut bewusst, um welch gigantische Dimensionen es sich beim Weltall handelt, und zwar um Entfernungen, die - ich musste es mir wieder eingestehen - jeden Kontakt mit irgendwelchem Jenseits nach menschlichem Ermessen völlig ausschließen. Unsere Sonne - stand da zu lesen - ist nur einer von rund 200 Milliarden Sternen allein in der Milchstraße! Wobei diese 200 Milliarden Sterne in ihren Bewegungen innerhalb der Milchstraße von einer Kraft zusammengehalten werden, die noch immer völlig unbekannt ist! Man nennt sie im Unterschied zur aus Sternen und Planeten bestehenden „Normalen Materie“ die „Dunkle Materie“. Wobei der Anteil dieser beiden Materien an der Gesamtmaterie unterschiedlich ist. Die normale Materie, also die, die wir kennen, macht etwa ein Fünftel aus, und die dunkle Materie, die wir nicht kennen, vier Fünftel. Normale und dunkle Materie zusammen ergeben aber nur 31 Prozent des Kosmos! Die übrigen 61 Prozent kennen wir ebenfalls nicht! Sie sind das mysteriöse Phänomen, dass die Galaxien im Weltraum angeblich seit rund sechs Milliarden Jahren expandieren, und zwar beschleunigt, verursacht durch eine Energie, die wir – wie gesagt – nicht kennen und schlicht und einfach „Dunkle Energie“ nennen. Zählt man simpel zusammen, was wir vom Weltall bislang einigermaßen kennen, sind das just rund 6,5 Prozent!

Jedem normalen Menschenverstand schwirrt angesichts dieser Tatbestände der Kopf. Das Unfassbare des Diesseits, es ist der helle Wahnsinn. Denn die Milchstraße ist ja nur eine Galaxie! Es gibt aber – so jedenfalls die Schätzungen der aktuellen Wissenschaft - mindestens eine Billion, also tausend Milliarden. In einzelnen Himmelsregionen werden von den Astronomen sogar ganze Haufen von Galaxien beboachtet, in denen sich jeweils einige Tausend Galaxien befinden.

Ist da überhaupt noch Platz für ein Jenseits? Ich finde schon! Solange die Wissenschaft eine stetige Expansion des Weltalls behauptet, muss auch Platz dafür sein. Irgendwo am Rande meinetwegen. Oder sind vielleicht dunkle Materie und dunkle Energie zusammen genommen so etwas wie das durch Geister belebte Jenseits? Solange wir nicht genauer Bescheid wissen, sind Spekulationen erlaubt.

Und ich in meiner absolut mysteriösen Lebenssituation war äußerst anfällig für Spekulationen. Ich klammerte mich regelrecht daran. Wenn ich mich kritisch danach befragte, warum ich wider allen Wissens letztlich immer wieder auf die Anrufe eingegangen war, dann wurde mir bewusst: Es war die tief in meine Seele eingedrungene und anhaltende Verzweiflung über den Tod meiner Frau. Ich kam einfach nicht darüber hinweg. Und als Petra eines Nachts endlich wieder anrief, ich mit ihr sprechen konnte, atmete ich auf. Was sollte mir all das Wissen über das Weltall, wenn meine ganz persönliche Erfahrung dem widersprach!

„Ja!“ sagte ich erwartungsvoll. Und sie überfiel mich mit neuen Ungeheuerlichkeiten.

„Du“, rief sie, „stell dir vor, jetzt eben sind Jesus und Mohammed zusammengetroffen. Sie reden miteinander.“

Mir verschlug es die Sprache. Noch eben hatte ich geschlafen, nicht sehr tief, aber immerhin. Nun sollte ich mir plötzlich etwas vorstellen, das, wenn überhaupt, wirklich nur im Jenseits stattfinden konnte.

„Aha!“ sagte ich ziemlich hilflos.

„Mensch, Mann!“ rief sie, „das ist selbst für uns außergewöhnlich. Du musst wissen, der Jesus stammt ja von der Maxima. Das ist der größte Himmelskörper, den es gibt. Wohl so drei, vier Mal größer als die Erde. Offenbar Bedingungen wie auf der Erde, aber sozial und technisch viel weiter entwickelt. Wir haben schon lange telefonischen Kontakt. Ja, und der Jesus, der ist doch damals mit einem Raumschiff von der Maxima in der Wüste bei Bethlehem gelandet. Sie haben ihn abgesetzt, weil er auskundschaften sollte, wie es um die Erde steht.“

„Moment, Moment!“ rief ich. „Nicht alles auf einmal. Du überforderst mich! Hier ist Nacht, weißt du, eben habe ich noch geschlafen. Ich bin nur ein Mensch mit normaler Fassungsgabe.“

„Ach je!“ sagte sie, „dann ruf ich später wieder an. Ich muss sowieso verfolgen, wie das hier ausgeht mit den beiden. Tschüss!“

Stille. Aus. Resigniert stellte ich fest, dass ich für diese Anforderungen einfach nicht gerüstet war. Und überhaupt! Musste ich mir das antun? Sollte ich meine vielleicht letzten Tage und hoffentlich Monate auf diesem Planeten nicht geruhsamer verbringen? Wie auch immer, am Schlaf war nicht mehr zu denken.

Ich zog mir eine Jacke über und setzte mich an den Fernsehapparat. Ich wollte mich ablenken. Vielleicht mit Fußball oder mit einem Porno. Kaum hatte ich eingeschaltet und angefangen zu zappen, wurde der Bildschirm blau und per Text mitgeteilt, dass jetzt eine EPG-Aktualisierung stattfindet und die Systemdaten aktualisiert werden. Ich wartete verblüfft, doch die Aktualisierung zog sich hin und ich verlor die Geduld. Missmutig kroch ich wieder ins Bett. Der Versuch, mich irdisch abzulenken, war misslungen. Wohl oder übel kurvten die Gedanken nun um die Informationen, die ich soeben aus dem Jenseits erhalten hatte.

Ich grübelte. Wie war das angeblich? Jesus und Mohammed hatten sich getroffen. Gottes angeblicher Sohn mit einem, der viel später seinen eigenen Gott erfunden hatte, den Allah. Schon wieder stand ich auf und schlurfte an den Computer. Ich wollte mich kundiger machen. Aber ich schaltete nicht ein. Plötzlich hatte ich ein ganz anderes Bedürfnis. Ich ging zum Kühlschrank und entnahm die Flasche französischen Cognac, die ich dort deponiert hatte. Ich betrank mich, Schluck für Schluck, in vollem Bewußtsein. Ein superdämlicher Einfall, aber erlösend aus diesem schier unentrinnbaren Irrsinn. Schließlich torkelte ich zum Bett und ließ mich hineinfallen.

Gegen Mittag des nächsten Tages erwachte ich wieder. Mir brummte der Schädel. Und mir wurde klar, dass das so mit mir nicht weiter gehen konnte. Als ich aufstehen wollte, spürte ich, dass ich noch immer betrunken war. Ich ließ mich zurück ins Bett fallen. Ein verlorener, armseliger Mensch. Aber nun fand ich nicht wieder in den Schlaf. Mir knurrte der Magen. So raffte ich mich auf und schlich in die Küche, um ein Brötchen zu essen. Doch es schmeckte mir nicht. Mir war übel. Entschlußlos hockte ich auf meinem Stuhl, starrte zum Fenster hinaus und sah Post im Briefkasten. Gewiss wieder solch aufdringliche Werbung für ein Nahrungsergänzungsmittel oder eine fällige Rechnung.

Viel schlimmer! Ein Brief vom Finanzamt. Am liebsten hätte ich ihn gleich in die Papiertonne geworfen, wie ich es mit lästiger Werbung zu machen pflege. Aber amtliche Post verlangt Beachtung. Also nahm ich den Brief mit ins Haus und öffnete ihn. Was mich seit einigen Jahren immer wieder maßlos aufgeregt hatte, stand da erneut schwarz auf weiß: Man verlangte von mir eine Summe Geld zurück, die, grob hoch gerechnet, etwa eine Monatsrente ausmachte. Mir wurde übel, übler noch als vergangene Nacht, angesichts solch perfider staatlicher Wegelagerei. Die jährliche Aufbesserung der Rente, stets lauthals verkündet, wird stillschweigend per Einkommenssteuer ein Jahr später wieder zurückgeholt. Die Rentner finanzieren de facto zu einem gewissen Teil die Milliarden- und Millionengräber der Regierenden, den Irrsinn in Afghanistan, den Berliner Flughafen, den Stuttgarter Untergrundbahnhof, das Berliner Stadtschloß. Ich kochte vor Wut. Und ich sann über Protest nach.

Gibt es überhaupt eine Möglichkeit dagegen aufzubegehren? Für den einzelnen Bürger nicht. Er muß sich fügen. Pasta! Hin und wieder weist ein Journalist auf die rechtliche Unzulänglichkeit der Einkommenssteuer für Rentner hin. Aber auch er ist allein, bekommt wahrscheinlich sogar Ärger mit seiner Redaktion. Weit und breit keine Organisaion, keine Partei, die für die Rentner nachhaltig auf die Barrikade geht.

Und für einen Moment blitzte in mir der Gedanke auf, eine Partei zu gründen. Ganz und gar keine Spaßpartei, sondern eine Vereinigung von aufrechten Bürgern, die konsequent gegen das Unrecht in der Gesellschaft ankämpfen. Es würde nicht viel Mühe machen, weiteres Unrecht zu finden. Es liegt gleichsam auf der Straße, muss nur benannt und angeprangert werden. Und zwar nicht mit irgendeinem Artikel in der Zeitung oder in den sozialen Medien, sondern standhaft in den zuständigen Gremien. Würden sich genug Bürger finden, die mitmachen?

Als ich bei dieser Frage angelangt war, wurde ich endgültig wieder völlig nüchtern. Ich erinnerte mich an ein Erlebnis in jungen Jahren, das mir eine Lektion gewesen war. Die Jugendzeitung „Start“ hatte einen Leserbrief von mir veröffentlicht, in dem ich mich mit aktuellen Jugendproblemen auseinandersetzte. Ich weiß heute nicht mehr, worum es eigentlich ging. Aber ich bekam damals von einem jungen Mann aus Berlin einen Brief mit der Einladung, ihn zu besuchen und mit einer Gruppe junger Leute über Wege in die Zukunft zu diskutieren. Das war in der Aufbruchstimmung unmittelbar nach 1945 gar nicht ungewöhnlich und ich entschloß mich, nach Berlin zu fahren.

Der junge Mann, Lothar hieß er wohl, empfing mich im total zerstörten Lehrter Bahnhof. Wir stiegen die Treppe hoch zur S-Bahn und fuhren gen Westen und mir fiel auf, dass die Stadt, je weiter wir kamen, desto weniger zerstört war. In Zehlendorf schließlich befand ich mich in einem wohlerhaltenen sauberen Städtchen. Im Häuschen von Lothars Eltern gab es eine Dachkammer für mich, und dort versammelte sich am Nachmittag die Gruppe. Und damit kam damals die erste Ernüchterung.

Die Gruppe bestand gerade einmal aus vier Personen, nämlich aus Lothar, dessen Freundin und dessen Freund und aus meiner Wenigkeit. Ich hatte mit so zehn, zwanzig jungen Leuten gerechnet, die der Drang nach Erneuerung Deutschlands umtrieb. Nun also vier unternehmungslustige Köpfe. Ich war nicht minder gespannt auf das, was mich in der kleinen Runde erwarten würde. Nach kurzer herzlicher Begrüßung mit Neugier auf das neue Mitglied aus der Zone, wozu eine Flasche Wein geöffnet wurde, entspann sich eine muntere Debatte über Gott und die Welt. Dabei ging es uns weniger um Gott, sondern mehr um die Verbesserung der Welt, die es nach dem verheerenden Krieg bitter nötig hatte. Als wir nach den Mitteln fragten, mit denen ein allgemeiner deutscher Gesundungsprozess in Gang gebracht werden könnte, erschien uns die Wahrheit elementar geeignet - das jederzeitige standhafte Vertreten der Wahrheit, und zwar durch Mitglieder einer „Partei der Wahrheit“, die wir noch am Nachmittag zu gründen beschlossen. Zur eigentlichen Gründung kam es jedoch nicht, weil Lothar für uns Theaterkarten besorgt hatte und die Zeit drängte. Wir entschieden, die Gründung ohne Hast ganz seriös am nächsten Vormittag vorzunehmen.

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