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Horch und Guck

Als der Termin heranrückte, war ich aufgeregter als mir lieb war. Vor allem, weil es seit Simones Anruf keinen mehr aus dem sogenannten Jenseits gegeben hatte. Da schien ein Zusammenhang zu bestehen. Jedenfalls drängte sich solch Gedanke auf. Denn das Argument, irgendetwas über den ehemaligen Direktor der Schauspielschule erfahren zu wollen, war äußerst befremdlich und schien mir sehr weit hergeholt.

Simone war nur kurze Zeit an der Schule beschäftigt gewesen. Wir vermuteten damals, dass sie von Horch und Guck eingesetzt wurde, weil die Schule den Oberen nicht genau genug auf der Parteilinie gewesen war. Das wiederum konnte mit dem Direktor zusammenhängen, dem man offenbar irgendwarum misstraute. Was wollte Simone erkunden? Hoffte sie, nach Jahrzehnten von mir gewissere Auskunft zu bekommen?

Am Tage des voraussichtlich schwierigen Treffens war ausgesprochen schönes Sommerwetter und ich deckte den Tisch auf der Terrasse. Beim Bäcker hatte ich Streusel- und Quarkkuchen geholt, auch zwei Stück Erdbeertorte. Den Kaffee hatte ich besonders stark gemacht. In Erwartung des Gastes setzte ich mich an den Tisch und genoss in Ruhe den Blick in meinen schönen Garten. Da schrillte das Telefon.

Das geschah nun wirklich absolut ungelegen. Ich eilte zum Apparat und sah das leere Display. Nein, just solchen Anruf konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Und um alle Überraschung in den kommenden Minuten auszuschließen, zog ich vorsorglich den Stecker des Telefons aus der Buchse. Das Jenseits musste warten, schließlich war es eine ewige Einrichtung und hatte viel Zeit. Überrascht stellte ich fest, dass ich mit der leidigen Sache doch recht souverän umgegangen war, so als sei es selbstverständlich, von jenseits des Universums angerufen zu werden. Aber ich hatte keine Muse, über meine spontane Reaktion zu meditieren. Schon wieder schrillte eine Glocke. Diesmal die vom Gartentor.

Davor stand eine stattliche Frau. Ins Auge fiel sofort ein stramm gebündelter Dutt, der eine energische und vor allem selbstbewusste Persönlichkeit ahnen ließ. Und die Kleidung, ein schnittiger dunkelblauer Jeans-Anzug, verlieh dieser Persönlichkeit obendrein etwas Forsches, fast Militantes. Ich muss gestehen, dass mich Simones Erscheinung sofort beeindruckte. Das hing gewiss auch damit zusammen, dass ich seit Jahren kaum noch Kontakt mit irgendeiner fremden Frau gehabt hatte.

„Hallo!“ rief ich gewollt fröhlich und öffnete die Gartentür.

„Schön guten Tag, mein Lieber“, sagte Simone demonstrativ gut gelaunt und trat ein.

Ich konnte mir nicht versagen, mit einem Kompliment zu reagieren.

„Welch geheimnisvolle Überraschung!“

Ich wies den Weg zur Terrasse und ließ der höchst ungewöhnlichen Besucherin den Vortritt.

„Nichts Geheimnisvolles, ganz und gar nicht!“ erwiderte sie und ging lockeren Schrittes voran. Simone betrat die Terrasse, drehte sich um und begutachtete die Aussicht.

„Schön! Schön hast du es hier!“ Sie breitete die Arme aus und dehnte sich genießerich, so als habe sie lange in einem engen Auto gesessen. Dann zeigte sie mit ringgeschmücktem Finger: „Ein Teich?“

„So ein bißchen!“

„Schau ich mir später an, ich mag Fische. Sind doch welche drin?“

„Fische, Frösche, Kröten und allerlei Wasser-Getier.“

„Aha! Schön!“ Als habe sie mit dieser Bemerkung das Thema Teich abgehakt, wandte sie sich dem Tisch zu. Sie stutzte merklich, zeigte wieder mit dem Finger: „Nur für zwei?“

„Wie du siehst.“

„Du bist allein?“

„Ja.“

„Deine Frau..?

„Seit einigen Jahren…“ Obwohl die dunkle Sonnenbrille ihre Augen verbarg, sah ich deutlich, dass meine Besucherin überrascht war. Damit hatte sie offenbar nicht gerechnet. Traf das zu, erwog ich hastig, war meine Vermutung hinfällig, sie könnte die irre Anruferin sein. Andererseits konnte sie auch raffiniert spielen und so tun, als wüsste sie nicht Bescheid. Warum versteckte sie sich hinter einer so bombastischen Sonnenbrille? Meine Verunsicherung nahm zu.

„Das tut mir aber leid, wirklich sehr leid,“ sagte sie und schien unschlüssig, wie sie nun mit mir umgehen sollte. Offenbar entschied sie, einfach zur Tagesordnung überzugehen; denn sie nahm resolut Platz. „Muss ich mich erst einmal setzen.“

Und ich war unschlüssig, wie ich mit ihr umgehen sollte. Ich hatte mich auf den Besuch eingelassen, also musste ich das jetzt auch durchstehen. Auch ich nahm Platz.

„Es ist so entsetzlich unwiderruflich!“ sagte ich. Ich konnte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

„Hat sie lange gelitten?“

„Überhaupt nicht. Sie hat sich schlafen gelegt und ist nicht wieder aufgewacht.“

„Ein schöner Tod! Sagt man!“

„Sagt man.“

Plötzlich streckte sie ihre Arme aus, fasste nach meinen Händen und flüsterte offenbar um Trost bemüht: „Irgendwann ist jeder an der Reihe.“

„Ja,“ sagte ich ziemlich tonlos und bereute, mich auf diesen Besuch eingelassen zu haben. Er riss alte Wunden auf. Gewiss auch bei dem Problem, weshalb sie angeblich gekommen war. Ich beschloss zu versuchen, die Sache möglichst bald und schnell zu Ende zu bringen. So reizvoll solch ungewöhnlicher Besuch auch war, ich hatte kein Interesse daran, die Vergangenheit heraufzubeschwören; ich hatte Mühe genug, mit der Gegenwart fertig zu werden.

„Nun sag schon, was treibt dich hierher?“ fragte ich unvermittelt und goß ihr Kaffee ein. „Milch haben wir auch.“ Ich schob ihr die Büchse hin, im selben Moment überrascht über mich, dass ich es nicht für nötig befunden hatte, ein Milchkännchen zu füllen. Meine Reaktion war ungewollt etwas brüsk geraten, und meine Besucherin beirrt. Sie schob ihre Brille auf die Stirn und schaute mich an, stechendes Blickes, sekundenlang mit ihren dunklen Augen. Ihre Zunge spielte hinter den Lippen. Aber sie sprach nicht.

Seltsam irritierende Sekunden. Sie empfand wahrscheinlich erst in eben diesem Moment, wie ungewöhnlich ihr Besuch war. Auch dass sie mich zur Begrüßung geduzt hatte, war nicht unbedingt gewöhnlich. Gewiss, wir waren damals Kollege und Kollegin, hatten uns selbstverständlich geduzt. Aber seither war viel Zeit vergangen. Und jeder hatte seinen Pfad finden müssen. Unsere Wege waren weit auseinander gegangen. Sie hatte sehr schnell ihren Frieden gemacht mit den neuen Oberen, ich hingegen haderte herum. Noch immer. Und wahrscheinlich auch künftig.

Nach den Sekunden des Verharrens hatte sie sich offenkundig entschlossen, unmittelbar zum Kern ihres Anliegens überzugehen. Sie schob ihre Brille wieder auf die Nase, legte sich ein Stück Torte auf ihren Teller, nahm einen ersten Biss und sagte mit noch ziemlich vollem Mund:

„Also Folgendes: Ich habe ein Kapitel in meinem neuen Roman, in dem der Direktor der Schauspielschule vorkommt. Ich möchte möglichst dicht an der Wahrheit sein.“

„Worum geht es?“

„Um die Firma.“

„Ah, verstehe!“ Das populistische Mainstream-Thema dachte ich, schwieg aber und machte eine interessierte Miene. Wenn sie denn doch die mysteriöse Anruferin war, dann gab sie sich wahrhaftig viel Mühe, von ihrem eigentlichen Ansinnen abzulenken. Obwohl natürlich noch viel rätselhafter war, warum sie – so es zutraf - gegen mich solch infame Intrige inszenierte.

Sie benutzte mein „Verstehe!“ für eine kleine Kunstpause, trank genießerisch Kaffee und fuhr fort:

„Schlagzeilen lassen sich nicht mehr damit machen, heutzutage muss man rechts blinken. Aber mich interessiert es. Da gibt es nämlich, sagen wir mal, einen dunklen Punkt in seinem Leben. Er ist, das ergeben jedenfalls meine bisherigen Recherchen, für die Firma kurze Zeit in Frankfurt am Main tätig gewesen.“

„Nein!“

„Doch! War er manchmal tagelang weg von der Schule?“

„Gott, das ist so lange her, kann mich nicht erinnern.“ Das war nun wirklich starker Tobak!

„Gibt es wirklich keinerlei Hinweis, nicht einmal eine Vermutung? Es müsste doch aufgefallen sein. Man hätte gerätselt, warum er so oft krank ist. Zum Beispiel.“

„Du warst seine Assistentin. Du müsstest dich doch am ehesten daran erinnern können.“

„Es geht um die Zeit nach mir.“

„Ach so!“

Just wurde mir heiß und kalt. Ich erinnerte mich plötzlich, dass mich Vickert eines Tages in seinem Zimmer beiseite genommen und in ein Vertrauen gezogen hatte, das ich seither nie gebrochen habe. Sollte ich jetzt offen darüber sprechen?

„Du überlegst?“ riss mich Simone aus meinen Erinnerungen.

„Ja, da fällt mir eine Sache ein.“ Ich zögerte, dann sagte ich: „ Eine Sache, die ich bis jetzt eisern für mich behalten habe; denn er hat mir etwas anvertraut, was man damals nicht jedermann erzählt hätte.“

„Und?“ sagte sie aufmerkend und goss sich noch einmal Kaffee ein.

Ich zögerte noch immer, erwog, ob meine Aussage irgendwem noch heute Ärgernisse bereiten könnte. Das schloss ich aus, denn die Angelegenheit war aus gegenwärtiger Sicht belanglos. Nicht nur verjährt, sondern eigentlich völlig belanglos.

„Hm!“ räusperte ich mich und sagte: „Das ist alles so weit weg. Wir hatten irgendeine Besprechung, wenn ich mich richtig erinnere, standen an seinem Schreibtisch und verharrten, denn die Angelegenheit, um die es ging, hatten wir geklärt. Plötzlich zog er seinen Schreibtischkasten auf, griff nach einem kleinen Fotoalbum und sagte, das sei von der Sicherheit. Ich muss ein sehr verdutztes Gesicht gemacht haben; denn er ergänzte, sie wollten ihn zu einem Einsatz im Westen überreden. Ich konnte das auf keine Reihe kriegen. Er blätterte in dem Album, zeigte mir Fotos. Zu sehen waren Straßen und Häuser einer mir fremden Stadt, insbesondere ein Geschäft mit Schaufenstern. Angeblich, sagte er, sei er genau der Typ, den er in diesem Geschäft spielen sollte. Mir schien, dass seine Hände zitterten. Mir war sofort klar, dass ich hier so zurückhaltend wie möglich sein musste. Zum Glück bat er mich damals nicht um Rat. Er klappte das Album zu, legte es ab und sagte, und das hat sich mir wörtlich eingeprägt: ‚Die wollen mich weg haben hier.‘ Ich weiß nicht, was diese Befürchtung bei ihm verursachte. Es gab zwar oft Kritik an der Schule, das weißt du ja auch, aber dass man ihn durch besondere Beförderung von seinem Posten verjagen wollte, das, hm, das schien mir unwahrscheinlich.“

„Und, wie stand er dazu?“ fragte Simone knapp und zielgerichtet.

„Er meinte, er habe sich entschieden, er werde so etwas nicht machen. Er sei zwar Schauspieler, aber für die Bühne, nicht für einen Geheimdienst.“

„Das hat er dir gesagt, aber gespielt hat er trotzdem.“

„Meinst du?“

„Du lieferst mir ein wichtiges Detail in meinem Puzzle. Für mich steht damit fest, dass er tatsächlich von Fall zu Fall tätig war. Ich muss nur noch herauskriegen, worin diese Tätigkeit bestand. Hat er damals noch irgendwelche Angaben gemacht?“

„Nein, kann mich nicht erinnern.“

„Naja, du hast mir jedenfalls sehr geholfen. Ich bin auf der richtigen Fährte. Ich weiß zwar noch gar nicht, ob ich das alles so genau brauche, aber ich behaupte nun mal nicht gern etwas, was nicht stimmt. Bei aller Freiheit in der Literatur.“

Ich beschloss, ihre literarischen Absichten nicht noch weiter zu hinterfragen. Das wäre ganz und gar unersprießlich gewesen, hätte mir nur Zeit gekostet. Zumal ich das Gefühl nicht los wurde, dass Simone hier etwas wichtig machte, was im Grunde eine Banalität gewesen war. Ich konnte mich auch absolut nicht erinnern, dass sich Vickert damals öfter für einige Tage frei genommen hätte. So sagte ich denn gedehnt und gewissermaßen als Schlußwort: „Ja, die Wahrheit, ein kostbares Gut!“

Sie begriff sofort meinen Untertext, sagte pathetisch „Wir werden sie hüten!“ und erhob sich.

„Noch zum Teich?“ fragte ich, um einen zu abrupten Abschied zu verhindern.

„Erst einmal Dank für Speise und Trank. Auch für die Information. Hilft mir wirklich sehr. Den Teich schenken wir uns, ja?“

„Kein Problem.“

Sie verharrte noch einmal auf der Terrasse, schaute sich um und sagte: „Hast dich hier in eine richtige Idylle zurückgezogen. Schön!“ Dann ging sie los. An der Gartentür blieb sie stehen, drehte sich noch einmal zu mir um und fragte mich überraschend: „Hätt` ich fast vergessen: Darf ich dich zitieren?“

„Mich zitieren? Wieso?“

„Wenn deine Anmerkungen ein wichtiger Drehpunkt werden sollten.“

„Gott, wenn es sein muss. In meinem Alter kann es mir eigentlich schnuppe sein.“

„Nun kotteriere mal nicht mit deinem Alter“, meinte sie so gut gelaunt, wie sie gekommen war. „Lass es dir gut gehen! Servus!“, fügte sie an und stieg in ihr schmuckes Auto.

Ich schaute mit zwiespältigen Gefühlen hinterher. War die Story um Horch und Guck wirklich so wichtig? Oder war sie nur vorgeschoben, um an mich heranzukommen? Andererseits: Nahm ich mich etwa viel zu wichtig? Ich tröstete mich damit, dass ich zu solchen Überlegungen gewiss nie geraten wäre, hätte es diese Stalkerin nicht gegeben. Mithin: in punkto Simone war ich ganz und gar nicht weiter gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die mysteriöse Anruferin war, hatte sich zwar verringert, aber die Vermutung war nicht ausgeräumt.

Unvorstellbare Verhältnisse

Ich beschloss, die Begegnung mit der ehemaligen Kollegin sozusagen zu den Akten zu legen, zwar zur Akte ‚Jenseits‘, aber ganz weit hinten, oder unten, jedenfalls nicht zu alsbaldiger neuerlicher Bearbeitung. Wirklich aktuell, vor allem bewegender war, was diese angebliche Petra im letzten Telefonat gesagt hatte. Sie hatte behauptet, dass Brecht vorbei gekommen sei. Das war eine Bemerkung, die mich nicht losließ.

Schon die Umstände waren seltsam. Sie hatte mit mir telefoniert, also mit der Erde, also über eine unvorstellbare Entfernung, und dann war ihr auf einmal ein vorbeikommender Dichter wichtiger gewesen. Das kränkte mich. Angeblich lag ihr viel an dieser neuerdings möglichen Kommunikation mit mir. Doch ihr Verhalten passte nicht dazu.

Nun gut, ich bin nicht bemerkenswert für die Weltgeschichte, aber Brecht schon. Und im Jenseits sind höchstwahrscheinlich für uns Menschen unvorstellbare Verhältnisse. Auf Erden kommt wahrhaftig nicht so ohne weiteres ein prominenter, gar berühmter Dichter vorbei. Dort drüben jedoch scheint es ganz selbstverständlich zu sein.

Woraus sich aufregende Fragen ergaben: Spielen Phantasie und Dichtkunst außerhalb des Universums so etwas wie eine führende Rolle? Schon beeindruckend, dass sich die wahrhaft Großen wie Aischylos oder Goethe angeblich mit allen anderen Dichtern gemeinsam an einen Tisch setzen. So jedenfalls lassen sich Petras Andeutungen auslegen. Möglicherweise sind sogar die Poeten anderer Erden dabei. Sie alle finden sich offenbar im Jenseits ein, wenn sie ihre jeweilige irdische Zeit hinter sich gebracht haben, und sie verlieren sich dort nicht, geben sich nicht auf, sondern bleiben aktiv. Bilden sie gar ein poetisches Gremium unterschiedlicher Zivilisationen? Vereint zu ihrer eigentlichen Mission? Und worin könnte die bestehen?

So fing ich an, abstruses Zeug zu phantasieren. Und zwar Zeug, das sich um immer wirrere Fragen rankte. Was war aus dem Jenseits mit mir zu besprechen? Wenn ich es recht bedachte: Eigentlich nichts. Ich war ein Auslaufmodell, reif für die Gegend, aus der angeblich meine Frau anrief. Worin also könnte irgendein Sinn dieser Anrufe bestehen?

Schließlich wucherte eine absurd egozentrische Vermutung in meinem Hirn. Sollte Petra etwa den Auftrag haben, und zwar ausdrücklich von den Dichtern, zu mir einen Kontakt zu knüpfen? Weil die Poeten darüber nachdachten, wie sie aus dem Jenseits noch einmal eingreifen könnten? Weil sie hofften, unverdrossen und stur wie sie nun einmal waren, doch noch irgendwie ihre irdischen Ideale zu verwirklichen? Wollten sie sozusagen mit himmlischer Macht dafür sorgen, dass Menschenliebe nicht nur allerorten gepredigt, sondern endlich und überall auf Erden gelebt wird? Seltsame Vorstellungen, seltsame Fragen! Gestellt sozusagen unmittelbar vor der Tür zum Irrenhaus. Leser und Leserinnen werden verstehen, dass ich erhebliche Mühe hatte, in den Alltag zurück zu finden.

Ich versuchte, meine Hirngespinste bewusst mit positiven Gedanken zu überwinden. Es musste ja nicht unbedingt um so erhabene Absichten gehen. Es wäre erhaben genug, wenn die Anrufe wirklich aus dem Jenseits kämen und ich mit meiner Frau ab und an einen ungewöhnlichen und heimlichen Plausch führen könnte. Sie erzählt mir von ihren jenseitigen Erlebnissen, ich berichte aus meinem vertrackten Alltag. Wäre doch eine famose Abendunterhaltung. Allemal bewegender und höchstwahrscheinlich informativer als alle Fernsehprogramme zusammen genommen. Das Fatale, es gab keinen Anruf mehr.

So hätte ich denn meine Ruhe finden sollen, wieder das Gleichmaß eines alten Menschen, der keine Zukunft mehr vor sich hat, sondern halt nur noch so etwas wie das Jenseits. Womit jedoch beschäftigte ich mich? Mit dem Diesseits, mit dem Universum. Im Hinblick auf meine Probleme zwischen Jenseits und Diesseits waren vertiefte Kenntnisse gewiss nicht von Schaden.

Bisher hatte ich mich hartnäckig gesträubt anzuerkennen, was die fürs Weltall zuständigen Wissenschaftler behaupten. Dass es nämlich mit einem sogenannten „Urknall“ seinen Anfang genommen habe. Ich hielt das für einen irren Glauben. Geradezu hanebüchen war es meines Erachtens, einen Ton zum Ausgangspunkt für so ungeheure, dem Menschen nicht vorstellbare materielle Prozesse zu machen! Noch wirrer aber schien mir die Behauptung, das Weltall dehne sich seither rasend und unaufhaltsam aus. Sollten wir nicht eher glauben, dass das Universum unendlich ist, also weder Anfang noch Ende hat, weil ewig sich wandelnd, und zwar nicht im Sinne einer sich ausbreitenden Dimension hin zu einem Ende irgendwann, sondern im Sinne unendlich anhaltender Veränderung?

Mein fester Glaube in Sachen „Urknall“ geriet nur unmerklich ins Wanken, nachdem ich mich noch einmal und etwas gründlicher mit den unvorstellbaren Verhältnissen beschäftigte. Angefangen haben sie angeblich – wie bereits gesagt – mit dem „Urknall“, dem sogenannten„Big Bang“. Das ist die Benennung für einen vermeintlich einst explodierenden extrem dichten Haufen von Materie, woraus nicht nur unser Sonnensystem entstand, sondern alle Galaxien mit ihren Abermilliarden von Sternen. Geschehen sei die Explosion vor 13,7 Milliarden Jahren! Zu diesem delikaten Ergebnis kommt man aus der Berechnung der Geschwindigkeit des Auseinanderstrebens der Sterne. Was meine Skepsis nährte. Wenn es sich um solch unfassbar gigantische Zeiträume handelt, scheint es mir nach wie vor absurd, von Anfang und Ende zu reden. Solch Gerede – finde ich - kann nur einem menschlichen Hirn entspringen, das keine Ewigkeit duldet, sondern halt Anfang und Ende braucht.

Daher basteln Wissenschaftler, nachdem sie sich den bombastischen Anfang konstruiert haben, mittlerweile an drei Theorien vom Ende des Universums! Ich musste bei der Beschäftigung mit diesen Auffassungen an den alten Kardinal in Brechts „Leben des Galilei“ denken, der felsenfest daran glaubt, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei. Auch heute gehen alle Berechnungen über Anfang und Ende des Universums just von der Erde aus. Welche Vermessenheit angesichts der Dimensionen des Weltalls! Aber bitte. Der Mensch sieht sich im Mittelpunkt und benötigt Anfang und Ende.

Drei Theorien vom Ende also. Die erste, die vom „Big Crunch“, behaupte ich keck, wurde wahrscheinlich nur aufgestellt, um sie ob ihrer Unwahrscheinlichkeit gleich wieder verwerfen zu können. Wenn es einen Anfang gibt, so spekulierten Wissenschaftler, so muss es auch ein Ende geben, und dachten es sich als großen Kollaps, der eintrete, wenn das Universum seine maximale Ausdehnung erreicht habe. Der Kollaps, so vermutete man, könne darin bestehen, dass das Universum wieder zu einem einzigen extrem dichten Punkt zusammenstürzt. Die Wahrscheinlichkeit dieses Ablaufs, wird mittlerweile verkündet, liege bei nahezu null Prozent. Weil nämlich die Gesamtmasse der Materie im Universum nicht ausreiche, damit genügend Schwerkraft entsteht, um einen solchen Kollaps auszulösen. Nach Kenntnisnahme dieser Theorie, muss ich gestehen, sah ich mich in meiner Skepsis absolut bestätigt.

Was durch die zweite Theorie, „Big Freeze“ geheißen, noch verstärkt wurde. Wackerer Berechnung zufolge kommt es zum „Großen Einfrieren“ des Universums. Nach dieser Auffassung wird sich das Weltall, zwar allmählich verlangsamt, immer noch weiter ausdehnen, so dass künftige Astronomen keine anderen Galaxien mehr sehen können, weil sie sich mittlerweile zu weit auseinander befinden. Allerdings braucht es – so die Berechnung – noch mindestens 1000 Milliarden Jahre, bis das Weltall diesen Zustand des Erfrierens wegen zu großer Abstände der Galaxien erreicht hat. Mir wurde geradez schwindelig angesichts derartiger Phantastereien.

Die dritte Theorie ist noch abenteuerlicher. Sie orakelt über Vorgänge, die angeblich in 10 hoch 1100 Jahren stattfinden könnten, und nennt sie den „Big Rip“, also das „Große Zerreißen“. Bei dieser Theorie wird angenommen, dass der Ausdehnungsprozess des Universums auch auf die kleineren Strukturen übergeht, so daß zunächst Galaxien, Sterne und Planetensysteme zerrissen würden und als Folge dann auch die Moleküle und schließlich sogar jedes einzelne Atom. Das „Ausdehnen“ wird bei dieser Theorie einfach in „Zerreißen“ umbenannt. Es würden dann Jahrmilliarden vergangen sein, man muss sich eine Zahl von etwa 32000 Nullen vorstellen. Natürlich gestehen die Wissenschaftler, dass ein solches Szenario höchst unwahrscheinlich ist, aber sie denken halt schon einmal darüber nach.

Ich indessen war, nachdem ich mich kundiger gemacht hatte, noch weniger geneigt, der Sache mit der Ausdehnung des Weltalls Glauben zu schenken. Nichtsdestotrotz schien es mir nötig, die gigantischen Zeiträume und Entfernungen zu beachten, die hier ganz ohne Zweifel im Spiele waren. Und dass hieß halt klipp und klar, dass die mysteriösen Anrufe einfach nicht aus dem Jenseits kommen konnten. Bei allem Respekt vor den Leistungen moderner elektronischer Technik, aber das vermochte sie nicht zu leisten. Dessen war ich gewiss. Deshalb war ich entschlossener denn je, der Anruferin, so sie sich noch einmal melden würde, meine Meinung zu geigen und dann Schluß zu machen.

Wozu ich freilich keine Gelegenheit hatte, denn der Anruf blieb aus. Gut drei Wochen mochten vergangen sein, als ich anfing mich zu wundern, dass ich überhaupt keinen Anruf mehr bekam. Bis mir einfiel, dass ich das Telefon ja wegen Simone abgesteckt hatte.

399
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