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Abwegige Gedanken

Die Fremde ließ mich in Ruhe. Seltsamerweise war das aber genau das, was mich unruhig machte. Hatte mein energisches Gebrüll wirklich dazu geführt, dass sie die Lust verloren hatte, mich zu behelligen? Ich will nicht sagen, dass mir plötzlich etwas fehlte. Aber irgendwie war eine Rechnung offen geblieben. Zumindest hätte ich gern gewusst, wieso eine fremde Frau auf die Idee gekommen war, sich als meine Frau auszugeben und mich auf so unverschämte Weise zu kontaktieren. Es hätte ihr ja klar sein müssen, dass sich mit dieser Art teuflischen Charmes keine Beziehung herstellen lässt. Man macht zwar absolut auf sich aufmerksam, erzeugt aber nur Ablehnung. So doof kann eigentlich keine Frau sein.

Doch was ist die Alternative? Schon wenn ich die Frage stellte, wurde mir mulmig. Denn es keimte da ein Gedanke, dessen Entstehen ich eigentlich hätte unterbinden müssen. Der Gedanke, dass sich da tatsächlich so etwas wie meine Frau am anderen Ende der außerirdischen Leitung befinden könnte. Ein grundsätzlich völlig abwegiger Gedanke! Zweifellos!

Jedoch ein Gedanke mit Entfaltungsvermögen. Weil nämlich zur Zeit auf dieser Erde mit Hilfe der modernen elektronischen Technik Dinge möglich werden, die früher einfach undenkbar waren. Neuerdings zum Beispiel plant man, eine elektronische Verbindung zum menschlichen Gehirn zu schaffen. Noch wird an Schweinen experimentiert. Das Instrument, das - wie es heißt - Informationen zwischen menschlichen Neuronen und einem Smartphone übertragen können wird, hat einen Durchmesser von 23 Millimetern. Es muß in den Kopf implantiert und mittels feinster Drähte mit Nervenzellen verbunden werden. Wenn es funktioniert – und daran arbeitet die elektronische Forschung beharrlich -, kann es neurologische Signale lesen und auch senden. Ein Minicomputer mit sensationeller Perspektive also. Er wird für die Behandlung von Schmerzen, Sehstörungen und Hörverlust eingesetzt werden können, auch bei Schlaflosigkeit, Gehirnschäden oder bei Verletzungen des Rückenmarks. Mit Hilfe dieser Technologie wird es wahrscheinlich sogar möglich werden, verletztes Nervengewebe zu überbrücken und damit zu erreichen, dass behinderte Menschen wieder zu laufen vermögen. Und weil der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, träumen Wissenschaftler und Unternehmer bereits davon, mit Hilfe dieser Technologie ihre Gedanken auszutauschen, ohne sie aussprechen zu müssen. Auch hofft man, eines nicht allzu fernen Tages Gedanken unmittelbar auf Speicher zu übertragen oder auf Roboter, die man auf diese Weise steuert. Gruselig das alles.

Noch gruseliger ist die Vorstellung, dass künftig Autos autonom auf den Straßen verkehren. Auch hier sind Wissenschaft und Wirtschaft international im Wettbewerb. Damit alles seine Ordnung hat, wurde für das selbstfahrende Auto ein Levelsystem eingeführt. Beim ersten Level ist noch alles wie gehabt. Der Fahrer ist der Herr der Dinge und fährt sein Auto. Beim zweiten Level handelt es sich um sogenanntes teilautomatisiertes Fahren. Der Fahrer muss sein Fahrzeug zwar beherrschen, aber sein PKW kann manche Aufgaben zeitweilig selbst ausführen, zum Beispiel auf der Autobahn die Spur halten, bremsen und beschleunigen. Beim dritten Level, der Stufe der Hochautomatisierung, kann das Auto bestimmte Aufgaben für einen kurzen Zeitraum selbstständig und ohne Eingriff des Fahrers bewälti-gen. Der PKW überholt, ordnet sich wieder in die Spur ein, bremst, beschleunigt – je nachdem es die Verkehrssituation erfordert. Das wird wohl auf Autobahnen bald real werden. Der Fahrer kann dann zum Beispiel Zeitung lesen oder sich mit seinen Kindern auf dem Rücksitz beschäftigen. Das vierte Level, das vollautomatisierte Fahren, ist noch Zukunftsmusik. Der Fahrer wird die Führung seines Autos komplett abgeben können und zum Passagier werden. Das Fahrzeug bewältigt bestimmte Strecken, vornehmlich Autobahn und Parkhaus, völlig selbstständig. Das wohl Wichtigste bei diesem Level: Das System erkennt seine Grenzen, und zwar so rechtzeitig, dass es regelkonform einen sicheren Zustand erreichen kann. Beim fünften Level schließlich, beim autonomen Fahren, bewältigt die Technik im Auto alle Verkehrssituationen selbstständig. Himmel hilf, was da so alles auf uns zukommt.

Warum zum Teufel soll es nicht auch im Jenseits Fortschritte in der Forschung geben? Der Gedanke ist abwegig, ich weiß. Aber denkbar. Und ich dachte ihn damals. Und nachdem ich ihn gedacht hatte, war ich geneigt, die Anrufe der Fremden anders zu bewerten. Aber sie kamen nicht mehr. Die Irre schwieg. Und ich war es zufrieden.

Was indessen nicht verhinderte, dass ich hin und wieder dennoch darüber nachdachte. Und irgendwann schien es mir selbstverständlich, die Anruferin, sollte sie sich denn doch noch einmal melden, erst einmal ausreden zu lassen. Mit meiner verständlichen Empörung hatte ich bisher verhindert, mehr von dieser seltsamen Person zu erfahren. Offenbar hatte sie ein merkliches Mitteilungsbedürfnis. Warum sollte ich mir nicht einfach einmal anhören, was sie alles mitzuteilen hatte. Es war dies gewiss in der Summe ein erbärmliches Schauermärchen. Aber anhören könnte ich es mir schon. Aus Neugier. Warum auch immer. Jedenfalls nicht mehr brüsk ablehnen.

So begab es sich denn, dass ich auf einen Anruf der Fremden regelrecht wartete. Ich kam mir blöd vor, aber ich wartete. Ich fand mich saublöd, aber ich wartete. Ich hielt mich für superblöd, aber ich wartete. Mein Leben hatte einen anderen Zuschnitt bekommen.

Echte Wunder

Ich suchte Erbauung und Erholung in der Natur. Was ich auf Grund meines Alters schon aufgegeben hatte, setzte ich noch einmal auf die Tagesordnung. Ich mühte mich, meinen schönen Naturgarten wenigstens notdürftig zu betreuen. Was ob meiner körperlichen Hinfälligkeit ganz und gar nicht leicht fiel, auch täglich nur für kurze Zeit möglich war, mich dennoch erfreulich ablenkte.

Vor allem an meinem kleinen Fischteich wurde ich aktiv. Viel zu viel Fadenalgen hatten sich breit gemacht, sich obendrein innig mit der Wasserpest vermengt, deren Stengel bis zu 3 m lang werden können. Dadurch war der Raum für meine Fische arg eingeschränkt, vor allem für meine beiden Kois, die beide immerhin schon eine beachtliche Größe von mindestens einem halben Meter erreicht haben. Ich zerrte das Pflanzengemenge aus dem Teich, startete eine mühevolle Geduldsprobe, nämlich die Fadenalgen von der Wasserpest zu trennen und Letztere wieder in den Teich zurück zu geben. Die Fische dankten es mir, indem sie die frei werdenden Räume sofort inspizierten.

Auch die Seerose hatte eine Pflege nötig. Als ich eingriff, bat ich die Pflanze in gewissem Sinne um Vergebung, denn sie hatte nur getan, was ihr eigen war, nämlich sich auszubreiten. Eine in die Jahre gekommene Seerose beansprucht sehr viel Platz, weit mehr als ihr in meinem Teich zu Verfügung steht. Also entfernte ich viele Blätter, die unterm Wasser an langen Stielen hängen und als ein dichtes Gewirr den Fischen Platz wegnehmen.

Schließlich musste das höchst expansive Schilf reduziert werden. Was gar nicht so einfach ist. Die einzelnen Triebe sind im Teich fest im Wurzelwerk verankert, und sie herauszuziehen gelingt eigentlich nur, wenn sie im Frühjahr noch relativ lose sind. Sobald sie ihre normale Größe erreicht haben, kann man sie nur mit Gewalt herauszerren. Und dann hat man in der Regel auch allerhand Wurzel mit am Stengel. Ich war jedenfalls sehr schnell erschöpft und vertagte die Aktion.

Vielleicht hätte ich mir mehr Zeit nehmen sollen für geruhsame Schläfchen auf einer Liege im Grünen mit erbaulichem Blick auf Tannen, Fichten, Walnußbaum und Linde. Was wir vor Jahrzehnten gepflanzt haben, ist mittlerweile stattlich herangewachsen und ergibt eine zauberhafte Naturkulisse. Ich hätte sie viel mehr genießen sollen. Aber abgesehen davon, dass ich aus gesundheitlichen Gründen die Sonne meiden muss, hatte ich dazu im Moment ohnehin wenig Neigung. Mir fehlte einfach die innere Ruhe, die man braucht, um auf Müßiggang zu schalten. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, meine Homepage auf HTML5 umzubauen und bei Google auf einen Spitzenplatz zu bringen.

Als ich mich eines Tages bei angenehmem Wetter denn doch einmal auf eine Liege legte, um an der frischen Luft ein wenig zu ruhen, fand ich keinen Schlaf; denn ob nun gewollt oder nicht kreisten meine Gedanken im Nu erneut um diese mysteriöse Fremde. Es konnte einfach nicht sein, dass irgendwer aus solch gigantischer Entfernung, also zumindest vom Rande des Weltalls, ausgerechnet bei mir anrief. Alle Vernunft in mir sträubte sich gegen eine solche Wahrscheinlichkeit.

Schon stand ich auf und eilte zum Computer. Wie war das noch mit den Entfernungen im Weltall? Geht es da nicht um Lichtjahre? Also um die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt? Ich habe das wirklich nicht auf dem Schirm. Also Google gucken. Und siehe da: Es sind 9,46 Billionen Kilometer. Unvorstellbar! Solche Strecke ist einfach unmenschlich. Obzwar es der Mensch ist, der sie misst, mit welchen Mitteln auch immer.

Machte es angesichts solcher gigantischen Dimension überhaupt Sinn, der Sache noch weiter nachzugehen? Aber nun saß ich einmal am Computer. Wenn der Anruf, überlegte ich, im günstigsten Falle vom Rande des Weltalls käme, dannn würde das welche Entfernung bedeuten? Um eine befriedigende Anwort zu finden, müsste man wissen, wie groß das Weltall überhaupt ist. Also ging ich der Sache weiter nach. Bei Google antwortete ein Astrophysiker: "Wenn wir ein Maßband an das Universum legen könnten, dann würden wir heutzutage einen Radius von 46 Mrd. Lichtjahren messen." Das Universum ist mithin, laut Aussage dieses Wissenschaftlers, von einem Ende zum anderen über 90 Milliarden Lichtjahre groß. Und da es bekanntlich noch immer mit unglaublicher Geschwindkeit auseinanderfliegt, die Strecke also von Tag zu Tag größer wird, ist es im Grunde unerheblich, ob sich die Anruferin am Rande des Universums befindet oder irgendwo sonst im Jenseits.

Eines war mithin unumstößlich klar: Wo auch immer die Erde im Gemenge des Universums herumkurven mag, die Entfernungen für einen simplen Telefonanruf waren zweifelsfrei unüberwindbar. Die sonnenklare Schlußfolgerung verschaffte mir irgendwie Befriedigung.

Als ich schließlich wieder auf meiner Liege lag, konnte ich sehr entspannt dem amüsanten Gewimmel der Feldsperlinge zuschauen, die in einem kleinen Wasserbecken munter und fidel ein Bad nahmen. Achtungsvoll stellte ich fest, dass Vögel irgendwie auch Individien sind. Manche von ihnen bleiben am Rande des Beckens sitzen, nippen nur ein bisschen Wasser, andere stecken den Kopf hinein, wieder andere springen geradezu kopfüber hinein und planschen ausgiebig. Ein lustiges, ein munteres Völkchen. Ganz offensichtlich ganz und gar ohne jegliche Lebensprobleme.

Womit ich gedanklich denn auch schon wieder bei meinem Problem war. Mir fiel ein, dass heutzutage menschliche Geräte im Weltall unterwegs sind, die Daten über beträchtliche Entfernungen übertragen. Der Mensch ist einfach zur Tagesordnung übergegangen. Aber es ist im Grunde ein echtes Wunder, dass zum Beispiel mein Navi im Auto immer genau weiß, wo ich mich mit meinem PKW just aufhalte, welche Straße ich fahre, und dass es mir den unbekannten Weg weist, wenn ich ihm mitteile, wohin ich will. Dienstbare Satelliten, die um die Erde kreisen, machen es möglich. Dabei geht es hier freilich nur um Bruchteile der Entfernungen im Vergleich zu der Dimension, die mich umtreibt.

Anders ist das schon bei den Instrumenten, die ins Universum ge-schickt werden, um uns von fernen Himmelskörpern Daten zu übermitteln. Geradezu ein Demonstrationsbeispiel scheint mir die Sonde „Osiris Rex“, die den Asteroiden Bennu umkreist und sich für diesen Zweck rund 290 Millionen Kilometer von der Erde entfernt befindet, weshalb ihre Daten-Signale etwa 16 Minuten bis zur Erde brauchen. Was diese Sonde vermag, ist mehr als ein echtes Wunder. Sie nähert sich dem Asterioden bis auf wenige Meter, greift dann mit einem Arm nach dem Staub, der durch Druckluft aus der Sonde aufgewirbelt wird, geht dann in ihre Umlaufbahn zurück und beginnt, die ermittelten Daten der Erde mitzuteilen.

290 Millionen Kilometer ist schon eine gigantische Entfernung. 16 Minuten brauchen die Signale bis zur Erde. Wie lange würden Signale vom Rande des Weltalls bis zur Erde brauchen? Ich mochte nicht anfangen, dies auszurechnen. Die Recherche reichte mir, endgültig und unwiderruflich auszuschließen, dass die provokanten Anrufe aus dem Jenseits kommen. Bis zu dem Tag, an dem der nächste Anruf kam.

Klipp und klar

Als das Telefon eines Nachmittags schrillte, sondierte ich gerade am Computer die Tabelle der Bundesliga und griff nebenbei so einfach mal zum Hörer.

„Ja,“ sagte ich arglos.

„Dad, schön dich zu hören“, sagte die Stimme. Und ich war überrumpelt. Ich hatte geglaubt, für diesen Moment gerüstet zu sein, aber ich war es nicht. Ich war es nicht. Ich hatte keine Strategie, wie ich auf die neuerliche Ungeheuerlichkeit reagieren sollte. So ließ ich sie denn geschehen. Neugierig war ich ohnehin. Und warum nicht mit diesem verrückten Weib ein paar Worte wechseln. Immerhin fand ich zunächst zu einer brüsken Antwort.

„Sie sind nicht meine Frau!“ knurrte ich. „Sie können es nicht sein!“

„Das weiß ich nun wirklich besser.“

„Aha!“ sagte ich etwas verwirrt. „Und? Was soll das Ganze? Was wollen Sie von mir?“

„Wie geht es unseren Kindern?“ bekam ich zur Antwort.

„Ziehen Sie nicht auch noch meine Kinder in dieses absurde Theater“, rief ich empört.

„Dad, das ist bitter, dass Du mir misstraust. Ich verstehe es ja, es ist ungeheuerlich, aus irdischer Sicht wirklich ungeheuerlich. Aber erkennst Du nicht wenigstens meine Stimme?“

„Nein!“ sagte ich trotzig, obwohl ich unsicher war.

„Nein?“

„Nein!“ wiederholte ich.

„Ach, das wird an der Entfernung liegen“, reagierte die Stimme, „die Signale sind wohl so ein paar Tage unterwegs. Da verzerren sich wahr-scheinlich die Töne. Ich erkenne Deine Stimme gut. Du sprichst immer noch so ein bisschen sächsisch.“

Das traf mich ins Herz. Mein Leben lang war ich mein Sächsisch nicht ganz los geworden. Nun wurde es mir sogar aus dem Jenseits bescheinigt.

„Hören Sie auf mit dem Theater!“ brüllte ich, „geben Sie endlich zu, wer Sie sind! Bitte, wer auch immer Sie sind, ich lade Sie ein zu mir! Dann können wir Ihr Problem in Ruhe abklären.“ Ich hatte die Fassung verloren und ausgesprochen cholerisch etwas versprochen, was mir eigentlich nicht in den Sinn hätte kommen dürfen.

„Oh!“ reagierte die Stimme ungerührt. „Bei mir kommt gerade der Brecht vorbei. Er telefoniert auch. Hier ist die Telefonitis ausgebrochen. Entschuldige! Aber das geschieht nicht so oft, dass ein großer Dichter bei mir vorbeikommt. So viele gibt es ja nicht. Die sitzen meist zusammen und diskutieren. Die ganz Großen. Aischylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare, Goethe, Schiller und die alle. Auch der Müller.“ Und unvermittelt: „Weißt Du, am besten Du beruhigst Dich erst einmal. Ich melde mich wieder.“

Stille! Absolute Stille. Nicht einmal ein Rauschen in der Leitung. Mir aber schwindelte. Was war da jetzt passiert? Hatte ich mir nicht in den letzten Tagen absolut klipp und klar gemacht, dass diese Anrufe nie und nimmer aus dem Jenseits kommen konnten? Und nun?

Ich legte mich auf die Couch und starrte an die Decke. All meine Sinne forderten mich auf, diese elende Story aus meinem Leben zu bannen, endlich bewusst und souverän darüber hinwegzugehen, mich nicht immer wieder beeindrucken zu lassen. Aber ich hatte soeben leibhaft und lebendig telefoniert! Oder? Hatte ich geträumt? Nein, ich hatte mit einer realen Stimme gesprochen, woher auch immer sie erklungen sein mochte. Ich hatte mein Telefon in der Hand gehabt und mich mit einer menschlichen Stimme unterhalten. Und dabei absurde Dinge erfahren. Brecht lief da also herum und telefonierte! Eine Telefonitis sei ausgebrochen! Hieß das, dass alle Jenseitser mit ihren Angehörigen hier auf der Erde telefonieren? Und dass hier nicht eine Zeitung davon erfährt? Nicht einmal die „Bild“-Zeitung?

Ich sprang auf. Ich fürchtete, verrückt geworden zu sein. Wie ein eingesperrtes wildes Tier tigerte ich in meinem Haus herum. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich fingerte im Flur wirr an den dort abgelegten Tageszeitungen herum, ich rannte in die Abstellkammer, um den Staubsauger zu holen und ließ davon ab, ich hantierte in der Küche kopflos mit dem für die Spülmaschine bereit gestellten Geschirr, ich landete vor meinen Büchern und kramte herum. „Die Pest in London“ von Daniel Defoe fiel mir in die Hand. Ich hatte das Buch zwar schon ewig im Regal stehen, aber noch nie gelesen. Ich hockte mich nieder und blätterte darin herum.

„Und nun,“ las ich, „war allerdings die Arbeit des Wegschaffens der Toten mit Wagen so widerlich und gefährlich geworden, daß darüber geklagt wurde, die Träger trügen keine Sorge, solche Häuser auszuräumen, deren Bewohner sämtlich tot waren, sondern manche Leichen lägen unbeerdigt, bis die Nachbarhäuser durch den Geruch belästigt und folglich angesteckt würden…“ Ich klappte das Buch zu. Der Satz traf zwar überraschend irgendwie meine Gemütslage, aber er hielt mich davon ab, nun wirklich zu lesen. Mein Elend reichte mir vollkommen.

Trostlos schaute ich mich um. Ich kam mir vor wie die Pflanzen, die am Fenster standen und in einem erbärmlichen Zustand waren. Ich hatte sie total vernachlässigt die letzte Zeit. Die Blätter hingen vertrocknet herab, die Blüten hatten sich nicht einmal geöffnet. Wenn ich mich mit diesen Gewächsen verglich, dann, schien mir, war eigentlich gar kein so großer Unterschied. Mein Zustand war ebenso erbarmungswürdig wie der dieser Geschöpfe. Doch wer erbarmte sich meiner? Ich musste selbst zurechtkommen, musste mich aufraffen und mich der widerlichen Situation stellen.

Da schrillte das Telefon. Die Irre schon wieder! Das kann doch nicht sein! Ich ging nicht hin, blieb hocken, griff erneut zu dem Buch, las die letzten Zeilen: „Ein furchtbar Pestjahr hat’s in London Anno fünfundsechzig gegeben; verschlang’s doch hunderttausend Seelen, ich aber, ich blieb am Leben.“ Ja, am Leben! Am Leben! Mochte es die Jenseitser nun geben oder nicht, sie alle, die großen Dichter wie die kleinen Leute, würden sie tatsächlich als Gespenster irgendwo in den ewigen Jagdgründen wandeln, waren nicht mehr am Leben! Welche Genugtuung. Ich erhob mich und beschloß, meine Pflanzen ordentlich zu gießen.

Ich hatte das Telefon vergessen, hatte gar nicht mehr wahrgenommen, wie lange es lärmte. Nicht allzu lange, wie mir jetzt schien. Mit verhalten aufkommendem Tatendrang füllte ich die kleine Gießkanne und begann, meine verkümmerten Pflanzen zu wässern. Und kam nicht weit; denn das Telefon meldete sich erneut. Ich hielt ein. Irgendwie war ich jetzt in einer Verfassung, die ich für stabil genug hielt, mich diesem irren Frauenzimmer noch einmal zu stellen. Irgendwann würde der Dame dann schon einmal die Lust vergehen, von mir immer wieder angeblafft zu werden.

Entschlossen trat ich zum Telefon. „Ja!!“ sagte ich.

„Hallo!“ rief da jemand fröhlich.

„Bitte!“ reagierte ich ungeduldig.

„Ich bin die Simone! Prima, dass es Dich noch gibt!“

Was war denn das nun wieder? Noch eine Frau? War mir je eine Simone begegnet? Ich konnte mich auf die Schnelle nicht erinnern. Sollte ich auflegen? Ich entschied, erst einmal nicht unhöflich zu sein. Schließlich musste das nicht schon wieder ein Anruf vom Endes des Universums sein.

„Was wünschen Sie?“ fragte ich ungnädig.

„Entschuldige!“ bekam ich zur Antwort. „Wir kennen uns von der Schauspielschule.“

„Ah, ja, jetzt erinnere ich mich! Simone , joi! Was verschafft mir die Ehre?“

Die Simone , das war eine ziemlich kapriziöse Frau, zwar nicht von umwerfendem Liebreiz, eher spröde und etwas arrogant, aber kommunikationsfreudig und mehr oder weniger offenkundig auf Männer fixiert. Auch mich hatte sie einmal im Visier gehabt, aber ich hatte tapfer widerstanden. Daran musste ich natürlich sofort denken. Steckte sie etwa hinter diesen absurden Anrufen? Versuchte sie es nun sozusagen mit offenem Visier? Nach so langer Zeit? Neue bohrende Fragen.

„Ich habe ein Anliegen,“ sagte sie. „Mag Dir komisch vorkommen, aber Du bist nun mal am ehesten Kronzeuge.“

Mir schwante neue Unannehmlichkeit. Ich brauchte Ruhe, nicht neue Aufregung. Aber vielleicht Abwechslung.

„Worum geht es denn?“ fragte ich.

„Eine alte Geschichte, nichts fürs Telefon. Ich recherchiere über den Direktor von damals, den Vickert. Und Du hast damals möglicherweise etwas erfahren.“

„Ich bin kein Freund von alten Geschichten!“

„Wer ist das schon!“

„Und es ist nichts fürs Telefon? Ein Staatsgeheimnis?“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich bräuchte es für mein neues Buch. Da habe ich eine Episode, wo ich möglichst genau sein möchte.“

„Aha, nach schön. Was machen wir da?“

„Ich würde ganz gern mal bei Dir vorbeikommen. So eine Begegnung weckt Erinnerungen, die ich vielleicht auch gebrauchen könnte.“

Schon wieder keimte mein Verdacht auf. Ich rief mich alten Knochen zwar sofort zur Vernunft, doch der Verdacht blieb. Er war, bei Licht betrachtet, sogar sehr viel wahrscheinlicher als ein mit lebendigen Toten bevölkertes Jenseits.

„Ich kann Dir keinen besonderen Empfang bereiten, aber dann kommst Du eben mal vorbei. Bisschen Kaffee und Kuchen zum Nachmittag,“ sagte ich.

„Oh, der alte Süßholzraspler!“

„Ganz ohne Süßholz! Nur mit Zucker.“

„Kann ich ja bisschen Holz mitbringen.“

Damit war das Telefonat auf eine Spur gelangt, die mir ganz und gar nicht behagte und mein Misstrauen nährte. Aber ich wollte auch nicht mehr zurück, versprach ein Treffen ja doch mögliche Aufklärung der mysteriösen Anrufe. Würden sie nämlich danach nicht mehr stattfinden, würde das ziemlich zweifelsfrei bedeuten, dass diese Simone die Anruferin gewesen war und nun die Lust verloren hatte, mich zu behelligen.

„Ja, mach das!“ sagte ich herausfordernd. Weiß der Himmel, warum ich spontan auf einmal so entgegenkommend war.

Wir vereinbarten einen Termin.

399
477,84 ₽
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9783753190815
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