Читать книгу: «Der Vorfall», страница 4

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Die Anruferin weiß zuviel

Das erste, was sie sagte, war „Dad, was ist denn los bei dir?“ Der Anruf kam prompt, nachdem ich meinen Telefonanschluß wieder hergestellt hatte. Und es fiel mir schwer, nun gleich abrupt dagegen zu halten, die Betrügerin zu beschimpfen und aufzulegen.

„Was soll los sein? Nichts ist los!“ antwortete ich und spürte, wie ich wider Willen zitterte. Diese Fragerin war entwaffnend raffiniert. Und überhaupt. Der ganze Widersinn der Anrufe, die irdisch sein mussten, kam wieder über mich. Ich war auf merkwürdige Weise entschlußlos. Schon kam die nächste Herausforderung.

„Ich habe hier kein richtiges Zeitgefühl, hier gibt es nämlich keine Uhren, aber ich habe es mehrmals versucht, also muss Zeit vergangen sein,“ sagte sie.

„Reden Sie nicht solchen Stuß!“ reagierte ich und fügte hinzu: „Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe! Ich bin ein alter Mann und kann solche Belästigung nicht gebrauchen.“

„Dad, ich verstehe dich ja,“ klang es sanft aus dem Lautsprecher, „aber ich bin so glücklich, dich zu hören, du kannst es dir nicht vorstellen!“

Die Frau am anderen Ende der Leitung wurde immer dreister. Welch unerhörte Aufdringlichkeit ganz ohne auch nur irgendeinen Sinn! Weshalb und wozu versuchte hier eine fremde Frau, sich als meine Frau auszugeben?

„Nun hören Sie mal gut zu,“ sagte ich aufgebracht, „jetzt geben Sie endlich zu, wer Sie sind! Oder ich sehe mich gezwungen, die Polizei einzuschalten.“ Meine Stimme bebte.

„Dad, so ein Quatsch!“ entgegnete die Stimme. „Mich kann keine Polizei erreichen.“

„Oh doch, das kann sie“, versuchte ich, der dreisten Person Angst einzujagen.“

Aber die war absolut unbeeindruckt. Im Gegenteil. Sie ging in die Offensive, mit Waffen, denen ich nichts entgegen setzen konnte.

„Kannst du dich noch an Zakopane erinnern?“ fragte sie.

„An Zakopane?“

„ Wie wir da am Berg am Stahlseil hingen und nicht weiter kamen?“

„Ja!“ sagte ich und zitterte heftiger als damals im Urlaub. Ich erinnerte mich sehr wohl. Wir hatten mit den Kindern auf den Berg hinauf gewollt, waren ahnungslos losgegangen und jämmerlich hängen geblieben. Der schmale Pfad endete und man musste sich an einem Stahlseil festhalten. Nur der Sohn hangelte sich unbeeindruckt weiter, wie junge Leute eben sind. Ich aber hing neben Frau und Tochter am Seil und hatte Angst wie nie zuvor in meinem Leben.

„Siehst du,“ sagte sie, „wir hatten damals Angst und sind umgekehrt.“

„Stimmt!“ meinte ich überwältigt und schwitzte aus allen Poren. Woher wusste diese Frau derartige Details aus meiner Ehe?

„Oder damals in Polen, erinnerst du dich, als wir auf die Schneekoppe wollten und in einen Wolkenbruch gerieten und jämmerlich durchnässten?“

„Ja!“ sagte ich und verlor allen Boden unter den Füßen. Auch das stimmte. Ich konnte nicht nein sagen.

„Oder wie wir damals auf unserer Kreuzfahrt am Nordkap versäumten, ein paar urige Trolle zu kaufen und dann ganz trauig waren, dass es im südlichen Norwegen nicht so urige Trolle gab?“

„Ja!“ sagte ich.

„Oder wie du Herzrasen hattest auf Teneriffa und wir dann nach dem Besuch bei einem deutschen Arzt, der dich kurierte, feststellten, dass mein Handy weg war?“

Mir wurde schwarz vor den Augen „Hören Sie auf!“ schrie ich mit letzter Kraft und drückte die Austaste. Ich konnte und wollte nicht wahrhaben, was ich soeben erlebt hatte. Ich brauchte Luft, ich brauchte Zeit, irgendwie zu mir zu kommen. Diese Person war meine Petra! Es konnte nicht anders sein. Woher sollte eine fremde Frau diese Details aus unserer Ehe wissen? Gut, es könnte sein, dass wir irgendwann bei einem Besuch oder einem Zusammentreffen mit Bekannten dies oder jenes erzählt hatten. Aber doch nicht so viele Einzelheiten aus unterschiedlicher Zeit.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich damals wie gelähmt gesessen habe. Ich weiß nur noch, dass mein Herz wild klopfte und ich um meine künstliche Herzklappe fürchtete. Wie sollte das jetzt weiter gehen? Und es würde weiter gehen, dessen war ich gewiss. Diese Frau würde nicht locker lassen, schon weil es möglicherweise wirklich meine Frau war. Sie hatte im Leben nie locker gelassen, wenn es galt, eine komplizierte Arbeit zu leisten und zu Ende zu bringen. Langsam reifte eine Idee.

Sollte sie wieder anrufen, beschloss ich, müsste sie mir meine Fragen beantworten, und zwar zu Details aus unserer Ehe, die nun wirklich nur wir beide kannten. Zum Beispiel hatte unsere Hochzeit sozusagen eine besondere Note gehabt. Wir waren nämlich verspätet zum Standesamt gekommen, die Beamtin hatte ihren Dienst schon beendet, war aber noch im Haus. Als wir eintrafen, war sie im Begriff, ihr Büro zu verlassen. Wir baten sie um Verständnis. Der Bus war ausgefallen, und so schnell war eine Taxi nicht gekommen. Die Beamtin hatte Mitleid mit uns. Als sie uns hereingelassen und wir Platz genommen hatten, machten wir ihr das Angebot, sie könne sich bei uns kurz fassen. Wir sahen, wie sie bereute, sich auf uns eingelassen zu haben. Und prompt war das Zeremoniell auch schon zu Ende. Und in der Eile dann hatten wir versäumt, uns unsere Eheringe überzustreifen. Zu diesen Details wollte ich die Fremde befragen. Noch war sie für mich eine Fremde.

Und sie hatte angeblich keine Zeit, oder, andersherum, sie hatte zu viel Zeit. Weil nämlich im Jenseits gar keine Zeit gemessen wird. Es ist sozusagen immer Zeit. Merkwürdige Verhältnisse. Sie hatten zur Folge, dass kein Anruf mehr kam. Und ich unruhig wurde. Ich wollte Gewissheit, und fand keine Gelegenheit, sie mir zu verschaffen. Was machte diese Person in all der Zeit? Was konnte man überhaupt im Jenseits so anstellen? Ich ertappte mich erneut bei höchst abstrusen Fragen.

Nach all den wirren Abwägungen fand ich denn doch wieder zu einer gewissen inneren Ruhe. Mittlerweile erschien mir dieses Jenseits-Telefonat voller unfassbarer Mitteilungen wie ein sagenhaft aberwitziger Albtraum. Und mein gesunder Menschenverstand, von dem ich schon immer viel gehalten hatte, sagte mir von Tag zu Tag eindringlicher, dass es sich um eine abgründige irdische Schweinerei handeln musste. So stimmig und wahr die einzelnen Ehe-Erinnerungen auch waren, ich konnte nicht fassen, dass sie tatsächlich von meiner toten Frau ausgesprochen worden sein sollten. In meinem bescheidenen menschlichen Hirn war dafür kein Platz.

Die innere Ruhe, stellte ich alsbald fest, war trügerisch. Ich befand mich in einem Zustand, der eigentlich ärztliche Hilfe nötig gehabt hätte. Aber schon den Gedanken daran schloss ich sofort aus. Denn in der geistigen Verfasssung, in der ich war, war ich reif, wenn nicht gar überreif fürs Irrenhaus. Das musste ich unbedingt verhindern. Zu solcher Überlegung und zu solchem Entschluß war ich immerhin noch fähig.

Kuhschnappel

Die Zeit verstrich und mein Zustand besserte sich nicht. Wie ein Geschenk des Himmels empfand ich daher einen Anruf, der mich zunächst noch mehr in Unruhe versetzte. Das Telefon hatte geklingelt und ich hatte aufgeatmet. Endlich würde ich die Gelegenheit haben, Klarheit in Sachen Jenseits zu schaffen. Doch schon am Display hatte ich gesehen, dass am anderen Ende nicht diese Fremde war.

„Hallo“, sagte ich.

„Hallo, Herr Professor,“ tönte da eine angenehme Stimme.

„Ja?“ meinte ich vorsichtig, aber schon wieder mit abstrusen Gedanken im Kopf. Wer mochte das sein? Wieder eine Frau, das hatte ich gehört. Aber welche? Und mit welchen Hintergedanken?

„Ich bin Bärbel Runge, eine ehemalige Studentin von Ihnen.“

„Aha!“ sagte ich irritiert. Dachte da wirklich eine ehemalige Studentin an mich? Was wollte sie von mir?

„Es geht um Ihre Methode! Ich will über Vor- und Nachteile von Inszenierungspraktiken promovieren. Angefangen bei Ekhof bis zu Stanislawski und Brecht. Vielleicht auch aus jüngerer Geschichte, Langhoff, Stein oder Müller. Ich weiß noch nicht. Ihre Ansichten wären mir sehr wichtig.“

„Kompliment!“ musste ich da erst einmal feststellen, „da haben Sie sich ja eine heroische Aufgabe gestellt.“

„Danke!“ meinte sie und knüpfte an, „ja, ich bin nämlich zur Wissenschaft abgewandert, aber vom Schauspielen nicht losgekommen.“

„Wenn ich Ihnen helfen kann.“

„Das könnten Sie. Ich habe bisher gefunden, dass Ihre Auffassung, wie mir scheint, am brauchbarsten für ein originäres Theaterspiel ist.“

„Danke!“ sagte ich.

„Aber ich habe natürlich Fragen. Ob ich das eine oder andere richtig verstanden habe, ob ich nicht Dinge hinein interpretiere, die Ihrer Theorie widersprechen würden.“

„So schlimm wird es nicht sein,“ meinte ich. Die Praktiker kümmern sich ohnehin nicht darum, wollte ich hinzufügen, unterließ es aber, um ihr nicht Mut und Elan zu nehmen. Meine Erfahrung war, dass selbst an Schulen nicht nach einer allgemein gültigen, weil richtigen Methode ausgebildet wird, sondern an jeder Schule der jeweilige Guru herrscht, und zwar mit seinen mehr oder weniger gut funktionierenden subjektiven, wenn nicht gar subjektivistischen Ansichten und Praktiken.

„Ja, wäre schön!“ antwortete Frau Runge und fügte hinzu, „es wäre wunderbar und würde meiner Arbeit voran helfen, wenn ich mich einmal mit Ihnen unterhalten könnnte. Ich bitte darum.“

Einen Damenbesuch konnte ich im Moment wahrhaftig nicht gebrauchen. Andererseits wäre er wahrscheinlich eine wohltuende Abwechslung. Obendrein zu einem Thema, das mir natürlich nach wie vor am Herzen lag. Ich zögerte mit der Antwort.

„Sind Sie noch da?“ hörte ich.

„Ja“, sagte ich, „ich überlege nur gerade, wie ich Sie in meinem Terminplan unterbringen könnte.“ Das war zwar gelogen; denn ich hatte so gut wie keine Termine, verschaffte mir aber Gelegenheit, die ganze Sache flux noch einmal abzuwägen. Und ich kam zu dem Schluß, mich auf ein Gespräch einzulassen.

„Ich kann mich ganz nach Ihnen richten,“ reagierte sie, „ich wohne zwar in München, bin jetzt aber in Berlin. Und Sie wohnen ja wohl irgendwo am Rande im Speckgürtel.“

Das war nun freilich eine verdächtige Anmerkung. Die Frau hatte offenbar Erkundungen angestellt. Interessierte sie sich gar nicht für Theorie, sondern für Praxis, und zwar für persönliche Annäherung? Ich spürte zwar sofort, dass ich schon wieder einigermaßen irre spekulierte, aber der Verdacht war aufgekommen, und so schnell ließ er sich auch nicht wieder ausräumen. Schließlich war irgendwelche profane irdische Annäherung immer noch wahrscheinlicher als ein Flirt mit dem Jenseits.

„Machen Sie einen Vorschlag,“ forderte ich Sie auf, „am besten vielleicht an einem frühen Nachmittag.“

Nach einem kurzen Hin und Her einigten wir uns auf einen Termin. Ich grüßte noch einmal, versprach neugierige Erwartung und legte auf. Was hatte ich mir da eingebrockt? Eine Studentin Runge war mir nur sehr schwach in Erinnerung. Sie war durchweg unauffällig geblieben, hatte weder verquere noch produktive Diskussionen provoziert. Und als Schauspielerin würde sie, das war schon während des Studiums abzusehen, zum Fußvolk gehören, zu jenen nötigen Unentwegten, die Tag für Tag auf der Bühne rackern und nur selten wirklich Anerkennung erfahren.

Zwangsläufig verbrachte ich von Stund an wieder höchst unruhige Tage. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass die Münchnerin etwas mit der Anruferin zu tun haben könnte, äußerst gering war, litt ich unter der Ungewissheit. Die plötzlich und unerwartet noch einmal geradezu unheimlich eskalierte.

Ausgerechnet an dem Tag, an dem das Gespräch mit der ehemaligen Studentin stattfinden sollte, stieß ich beim morgendlichen Zeitungslesen auf eine Notiz, die mir von jetzt auf gleich allen Boden unter den Füßen wegzog. An diskreter Stelle wurde dort mit wenigen Zeilen berichtet, dass man eine Frau aus dem sächsischen Kuhschnappel ins Krankenhaus gebracht habe, weil sie immer wieder behauptet habe, von ihrem Mann aus dem Jenseits angerufen worden zu sein. Der Arzt habe schließlich keine andere Entscheidung treffen können, da die Frau hartnäckig bei ihrer Behauptung geblieben sei. Ganz offensichtlich hatte ein einfaches Gemüt die nervliche Belastung nicht aushalten können und hatte sich einer Nachbarin anvertraut. Und die wiederum hatten keine andere Wahl gehabt, als den Arzt zu rufen. Denn Anrufe aus dem Jenseits, die konnte es einfach nicht geben.

Für mich aber stand seit diesem Morgen fest, dass es tatsächlich Anrufe gab. Vermutlich sogar viel mehr, als bislang öffentlich benannt. Unter Umständen wurde von den Behörden sogar alles unternommen, um Informationen über die mysteriösen Vorgänge nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Denn die Obrigkeit hatten letztlich kein Mittel, die Verbreitung der Kunde zu verhindern, noch gar den Kontakt mit dem Jenseits zu unterbinden.

Nach dieser ungeheuerlichen Information schien mir mein weiterer Umgang mit der Anruferin auf einmal ziemlich klar. Es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich nahm mir vor, beim nächsten Telefonat zwar meine Fragen noch zu stellen, sozusagen in einem letzten Gefecht, ansonsten aber möglichst gesund und aufnahmefähig auf die zweifellos historische Herausforderung einzugehen.

Mich überkam überraschend eine erwartungsvolle Zufriedenheit. Zweifel daran, dass die Zeitungsmeldung ein Art Aprilscherz gewesen sein könnte oder eine Fake-News, kamen mir nicht. Im Gegenteil, ich fand es auf einmal positiv aufregend, offenbar zu den Auserwählten zu gehören, zu denen das Jenseits Kontakt aufnahm. Wahrscheinlich war von dort so etwas wie eine ideologische Offensive gestartet worden. Die Errrungenschaften modernster Technik machten es möglich.

Ich war mithin am Tage des Gespräches mit Frau Runge äußerst unkonzentriert. Eigentlich hätte ich ihr absagen müssen, denn ich hatte wirklich ganz andere Dinge im Kopf, musste und wollte meine Sicht aufs Jenseits und jene Frau, die meine Frau sein wollte, neu sortieren. So plante ich ein möglichst kurzes Gespräch mit Frau Runge; ging daher auch nicht zum Bäcker, sondern stellte demonstrativ nur zwei Gläser und eine Flasche Stilles Wasser auf den Tisch. Das Wetter war leidlich, die Temperatur im Rahmen – Gemütlichkeit würde nicht aufkommen. Und wenn, müsste ich dagegen steuern.

Frau Runge, stellte ich sofort fest, war eine schöne Frau! So auffallend attraktiv hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Als ich ihr mein Gartentor öffnete, überkam mich sofort eine stille Sehnsucht. Ich hatte mein Leben lang immer wieder überrascht registriert, dass mein Wahrnehmungssystem in Sachen Weiblichkeit von aufregender Sensibilität war. Es konnte mir widerfahren, dass ich auf der Straße eine Frau sah und sofort erotische Regungen hatte, ein Verlangen und Begehren, das lästig sein konnte, weil es stets Wünsche provozierte, die nicht erfüllbar waren. Mit dem Alter war dieser erotische Mechanismus gewissermaßen eingerostet, aber jetzt schien er wieder mobil zu sein und drängte erst einmal alle übrige Welt in den Hintergrund.

Die Besucherin hatte mein Aufmerken offenbar registriert. Ich sah heimliche Genugtuung und wachsende Zuversicht.

„Guten Tag, junge Frau,“ sagte ich.

„Ich grüße Sie und bedanke mich sehr!“ sagte sie ergeben und trat ein. Ich geleitete sie zur Terrasse. Vor mir her lief federnden Schrittes ein Weib in den besten Jahren. Ihr kurzes Kleid gab den Blick frei auf ihre energischen Waden, die mir partout etwas zu mächtig geraten schienen. Ich amüsierte mich über meine noch immer funktionierende Neigung, Vorzüge und Nachteile des anderen Geschlechts spontan zu analysieren und schöne Anblicke mehr oder weniger zu genießen. Schon waren wir auf der Terrasse angekommen und mein Gast nahm resolut Platz, packte hurtig ein Notebook vor sich hin und schaute mich erwartungsvoll an.

„Oh, gleich zur Sache!“ sagte ich respektvoll und durchaus zugleich darum bemüht, die Besuchszeit knapp zu halten. Der kurze kleine Trip in erotische Gefilde war ohnehin vorbei. Wie sie nun so saß, schien sie mir denn doch etwas zu korpulent geraten. In der Wissenschaft war sie ohne Zweifel besser aufgehoben als auf der Bühne.

„Ja,“ sagte sie gedehnt und fragte, „kann ich gleich zu meiner wichtigsten Frage kommen? Sie brennt mir auf der Zunge.“

„Aber bitte,“ entgegnete ich und setzte mich. „Vorher aber ein bisschen Wasser, falls die Frage etwas umfangreich sein sollte“, fügte ich augenzwinkernd hinzu und goss ihr Wasser ins Glas.

„Danke, sehr aufmerksam“, reagierte sie und nahm einen Schluck. Dann holte sie betont theatralisch Luft und fragte: „Kann es sein, dass Sie Ihre Methode eigentlich nicht zu Ende gedacht haben?“

Ich war überrascht, denn sie traf voll ins Schwarze.

„Ja!“ sagte ich ehrlich, wie ich nun einmal bin.

Bestätigt durch meine Antwort holte sie erneut tief Luft und fuhr fort. „Sie projizieren Hegels Negation der Negation auf die Schauspielkunst, bleiben aber bei der Hälfte stehen. Sie untersuchen die erste Negation, die von der Improvisation zur Fixation, wie sie diese Phase zu Recht nennen. Aber Sie untersuchen nicht die zweite Phase, die von der Fixation zur Improvisation auf höherer Ebene, die ja möglicherweise und überhaupt die wichtigste ist.“

„Stimmt!“ meinte ich beeindruckt. Sie hatte tatsächlich einen wunden Punkt getroffen. Ich hatte, als ich damals schrieb, Neuland betreten, nämlich eine bislang nicht übliche Sicht aufs Schauspielen als Arbeit. Diese Arbeit, stellte ich fest, hatte sich in der Geschichte des Bühnenspiels von der Improvisation, dem antiken Mimus, der ursprünglich ohne geschriebenen Text ablief, hin entwickelt zu fixiertem Spiel. Weil nämlich einst der aufgeschriebene, also nicht mehr spontan auf der Bühne erfundene Text mit lebendiger Handlung versehen werden musste. Die Untersuchung dieser höchst komplexen Problematik hatte meine ganze Aufmerksamkeit erfordert und ich war einfach nicht dazu gekommen, meine eigene Überlegung bis zu Ende zu denken. Also zu untersuchen, was geschieht, wenn der Schauspieler sein letztlich eingeübtes und festgelegtes Handeln Abend für Abend wiederholen muss. Er fängt dann bewusst oder auch unbewusst an, sich im Rahmen des Festgelegten frei zu bewegen, also auf höherer artifizieller Ebene zu improvisieren, und zwar nun Details und Feinheiten seines Bühnenhandelns solo oder mit Partnern. Frau Runge hatte da in der Tat meine Untersuchungen weiter gedacht. Und ich war gern bereit, ihr das zu bestätigen. Was ihr selbstverständlich sehr genehm war. Euphorisiert tippte sie sich irgendetwas in ihren Leptop. Ohne meine Zustimmung dankend zu kommentieren fuhr sie fort:

„Mein Problem ist jetzt, diese von uns gefundende Grundstruktur des Arbeitsprozesses in Bezug auf den Regisseur zu untersuchen. Die Frage ist: Analysiere ich erst einmal die Arbeitsweise jedes einzelnen Regisseurs und prüfe erst dann, ob sie übereinstimmt mit der von Ihnen gefundenen und von mir übernommenen Maxime, oder lege ich diese Maxime a priori wie eine Art Schablone darüber.“

„So ungefähr“, meinte ich.

„Und etwas eindeutiger?“ fragte sie.

„Fällt mir schwer. Wenn ich überlege, wie ich vorgehen würde, dann muss ich sagen, dass ich erst einmal versuchen würde, die Arbeisweise jedes einzelnen Regisseurs zu untersuchen. Und dann würde ich die Ergebnisse mit meinen Erkundungen vergleichen. Fatal wäre es, wenn sich kaum Übereinstimmung ergeben würde. Was ich freilich nicht annehme.“

„Ich neige auch zu diesem Herangehen,“ sagte sie.

In dem Moment schrillte das Telefon. Ich entschuldigte mich, ging ins Haus, nahm den Hörer und sah sofort am Display, dass es die Jenseitserin sein musste.

„Keine Zeit im Moment, rufen Sie später noch einmal an,“ rief ich ins Mikrophon und legte auf. Meine Besucherin hatte meine brüske Reaktion natürlich gehört und empfing mich mit großen Augen.

„Ich störe doch hoffentlich nicht?“ stellte sie fest.

„Keineswegs,“ antwortete ich karg und setzte mich wieder. Aber der Faden unseres Diskurses war gerissen.

„Ja,“ meinte sie nach kurzer Zwangspause, „eigentlich habe ich ja erfahren, was mir am Herzen lag und was ich erhofft hatte. Habe ich dann nur noch eine, zugegeben, unbescheidene Frage.“

„Bitte!“

„Könnte ich Ihnen mein Manuskript zu gegebener Zeit einmal vorlegen?“

Mit dieser Frage brachte sie mich in arge Verlegenheit. Ich hatte im Moment und wahrscheinlich auch in naher Zukunft überhaupt keine Lust, mich mit eine Dissertation zu beschäftigen. Andererseits war die Aussicht, dass sich eine junge Wissenschaftlerin ausgiebig und gewogen mit meinem wissenschaftlichen Werk befassen würde, äußerst angenehm. Ich konnte nicht nein sagen, wich dennoch erst einmal aus.

„Wenn es mich dann noch gibt,“ antwortete ich.

„Herr Professor, natürlich gibt es Sie dann noch!“

„Einverstanden,“ meinte ich.

„Dann bedanke ich mich sehr, sehr herzlich und verabschiede mich. Bleiben Sie gesund.“

Meine Besucherin erhob sich resolut, und ich unternahm nichts, was ihren Aufenthalt verlängert hätte. Nach kurzem Zeremoniell an der Gartentür bestieg sie ihr Auto und fuhr davon.

Und ich setzte mich ans Telefon und dachte an Kuhschnappel.

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