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KIRCHENBLATT FÜR DIE REFORMIERTE SCHWEIZ

Die Vertreter der dialektischen Theologie hatten im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz ihr eigenes Organ, dasjenige mit dem längsten Atem. Die wesentlich von Basel aus geprägte Richtung (Karl Barth, Eduard Thurneysen) hatte mit Gottlob Wieser, Pfarrer in Riehen-Bettingen, fast über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg denselben Redaktor (1936–1969). Die 1844 gegründete Zeitschrift erschien im Zweiwochenrhythmus bis 1986, in wechselnden Verlagen und Verlagsorten; bis mindestens 1975 war das Kirchenblatt auch wesentlich unter Basler Einfluss.

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BASLER KIRCHENBOTE

Der Basler Kirchenbote, 1934 erstmals erschienen, verband die Nachrichten aus den einzelnen Kirchgemeinden mit einem allen Ausgaben gemeinsamen, zwei- bis achtseitigen Redaktionsteil. Ab 1950 wurden die verschiedenen Ausgaben der Kirchengemeinden zu einem einzigen Dachblatt der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt zusammengefasst. Der Kirchenbote verstand sich weiterhin in erster Linie als Informationsorgan der Kirchgemeinden, daneben fanden sich aber auch mehr oder weniger richtungsneutrale redaktionelle Texte. Um seine Abonnentenzahlen musste sich der Kirchenbote im Gegensatz zu den anderen Zeitschriften keine Sorgen machen – das Blatt wurde und wird auch heute noch, begleitet von Spendenaufrufen, kostenlos sämtlichen Haushalten mit Mitgliedern der evangelisch-reformierten Kirche zugestellt.

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EVANGELISCHE VOLKSZEITUNG

Die Evangelische Volkszeitung, das Organ der Evangelischen Volkspartei der Schweiz, wurde 1920 gegründet. Die Evangelische Volkspartei wollte mit ihrer zuerst monatlich, ab 1922 wöchentlich erscheinenden Zeitschrift «in die praktische politische Tätigkeit der christlichen Kreise Grundsätzlichkeit, Geschlossenheit und Zusammenhang bringen»,103 selbstredend auch in die eigene Politik der Evangelischen Volkspartei. Dieses Blatt diente beispielhaft der Selbstvergewisserung einer politischen Partei, wenn die Redaktion zur Einführung schreibt, «schwerer als andere Parteien werden wir in vielen Dingen zu einhelligen Entschlüssen kommen [...]. Dringend notwendig ist also Abklärung und Austausch unserer Ansichten [...].»104 Das Blatt erschien bis 1953.

Auflagenzahlen publizierten die protestantischen Zeitschriften in der Regel keine. Einen Hinweis zur Verbreitung geben die oben erwähnten Abonnentenzahlen des Kirchenfreunds und des Christlichen Volksfreunds zum Zeitpunkt der Aufgabe der Zeitschrift. Zieht man weitere indirekte Informationen in Betracht, wie zum Beispiel die Kosten der Zeitschrift,105 Spendenaufrufe an die Leserinnen und Leser oder andere mehr oder weniger verborgene Hinweise zur (meist) schwindenden Leserschaft, dürfte die Zahl der Abonnements je zwischen 1500 und höchstens 5000 betragen haben.106 Eine Ausnahme davon bildet der Kirchenbote, der dank der Besonderheit seiner Zustellungsweise in sämtliche Haushaltungen in einer Auflage von rund 44 000 (1935) bis 50 000 (1942) verbreitet wurde.107 Eine Hochrechnung eher spielerischen Charakters zeigt, dass nur ein kleiner Teil der evangelisch-reformierten Haushaltungen zusätzlich zum Kirchenboten eine zweite kirchliche Zeitschrift abonniert hatte: Nimmt man für die fünf kirchlichen Zeitschriften (ohne Kirchenbote) eine durchschnittliche Auflagenzahl von 3000 an, ergibt sich eine Gesamtauflage von 15 000. Verschiedene Haushaltungen bezogen wohl mehr als eine Zeitschrift im Abonnement, viele dagegen wohl keine, deshalb verteilen sich die 15 000 Zeitschriften nicht auf dieselbe Anzahl Haushaltungen, sondern eher auf zwei Drittel davon. Somit erreichten die kirchlichen Zeitschriften höchstens rund ein Viertel bis ein Fünftel der evangelisch-reformierten Gemeinde Basels. Alle erwähnten Zeitschriften sind im Übrigen an der Universitätsbibliothek Basel archiviert und einsehbar.

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TAGESPRESSE

Je nach Thema werden auch Presseerzeugnisse ausserhalb der kirchennahen Herkunft als Quellen herbeigezogen. Immer vorausgesetzt, diese haben sich zu den innerhalb des kirchlichen Zirkels geführten Debatten vertieft geäussert (das heisst nicht nur in Form einer Randnotiz). Bei den punktuell verwendeten Zeitungen handelt es sich um die Neue Zürcher Zeitung NZZ, die in Basel erscheinende, aber auch überregional Wirkung entfaltende National-Zeitung sowie die Wochenzeitung Weltwoche. In aller Regel wurden die aus diesen Zeitungen verwendeten Artikel von Pfarrern oder Theologen verfasst.

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VEREINSAKTEN

Im dritten Teil der Untersuchung werden die Strukturen des Vereinswesens im Basel-städtischen Protestantismus aufgearbeitet. Hier steht die sogenannte «entlastete Kirchlichkeit» im Zentrum.108 Neben der Kirchlichkeit der engagierten «Kerngemeinde» und der distanzierten Kirchlichkeit der Kasualfrommen existierten Formen der Teilhabe an der kirchlichen Institution, die es erlaubten, Mitglied der Kirche zu sein, ohne starkem sozialen Konformitätsdruck oder autoritärer Disziplinierung zu unterliegen. Die Bildung eines breit gefächerten religiösen Vereinswesens, die Expansion des kirchlichen Zeitschriftenmarkts und die Entstehung eines organisatorisch selbständigen Sozialprotestantismus der diakonischen Vereine und Verbände ermöglichte es dem Einzelnen, sich durch selbst bestimmte «Ersatz-Leistungen» am kirchlichen Leben zu beteiligen – er war dadurch vom Konformitätsdruck der Kirche entlastet.

Entscheidende Indizien für ein protestantisches Milieu sind nach Blaschke und Kuhlemann die Bedeutung und Struktur des protestantischen Vereinswesens.109 Zur Bedeutung des protestantischen Vereinswesens und des Verbandsprotestantismus in Deutschland hat Jochen-Christoph Kaiser wegweisende Studien veröffentlicht. Nach Kaiser trat in Deutschland mit den protestantischen Vereinsgründungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine bewusste Politisierung des Protestantismus an die Stelle der kultivierten Überparteilichkeit des Kirchlichen; eine eigentliche protestantische Milieubildung habe sich erst in der Weimarer Republik vollzogen.110

Neben strukturellen Fragen, die sich zu diesen Vereinen stellen, wie jene nach ihrer Anzahl, deren Zwecksetzungen, nach Entstehungs- und Auflösungsgründen und nach den wichtigsten Akteuren, sind auch tiefer gehende Fragen zu stellen. So ist das Verhältnis von Verbandsprotestantismus und Säkularisierung noch ungeklärt.111 Zu fragen ist auch, ob es den protestantischen Vereinen gelang, den Prozess der Entkirchlichung zu verzögern, und ob die Vereine über das eigene Mitgliederpotenzial hinaus Wirkung entfalten konnten. Ein besonderes Problem im Rahmen der Frage nach sozialen und kulturellen Deutungsmustern ist die Differenzierung des Protestantismus in einen liberalen und einen konservativen Flügel. Insofern genügt eine konfessionelle Differenzierung nicht. Sie muss vielmehr, gerade im Protestantismus, begleitet sein von Reflexionen über die unterschiedlichen Aspekte von individueller und institutioneller Kirchlichkeit, das heisst sie muss die verschiedenen Gruppen, die sich im Basler Protestantismus unter dem Dach einer «Volkskirche» zusammenfanden, vor Augen haben. Interessant ist weiter die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Vereinswesen und Milieu in Basel.

Zum Zweck seiner Untersuchung wird das Vereinsund Verbandswesen von den jeweiligen Forschenden in unterschiedlicher Art und Weise systematisiert. Günter Brakelmann differenziert die Protestanten auf der Ebene der Kirchgemeinde in drei Gruppen: traditionelle, kirchlich-theologisch und politisch Konservative; Gemeindegruppen, die zum Beispiel auf die Herausforderung der «sozialen Frage» mit innovativen Reformvorschlägen antworten; Kleinstgruppen und Persönlichkeiten, die eine öffentliche Wirkung ausübten.112 Jochen-Christoph Kaiser unterscheidet zeitliche Phasen in der Entwicklung des Vereinswesens und die im Lauf der Zeit zunehmende Spezialisierung der Vereinszwecke.113 Der Ursprung der Vereinstypisierung nach Kaiser liegt im heterogenen deutschen Protestantismus beziehungsweise in den Schwierigkeiten der deutschen Forschung, die Protestanten einem einzelnen, geschlossenen und eng definierbaren Milieu zuzuordnen.114 Kaiser unterscheidet die konfessionellen Vereine nach ihrer Zwecksetzung in die Typen a–h: a) missionarische Verbände; b) karitative Verbände; c) kirchenpolitisch tätige protestantische Verbände; d) Vereine für Sozialreform auf konfessioneller Grundlage; e) Berufsverbände; f) wissenschaftlich(-theologische) Vereine; g) «Naturstände» (Frauenund Jugendverbände); h) Bildungsvereine.115

Eine noch differenziertere Typisierung unternimmt Brigitte Gysin für die christlichen Vereine im «frommen Basel».116 Sie unterscheidet die Hauptzwecke nach religiös (a), sozial (b), Bildung (c) und wohltätig-religiös (d), teilt diese weiter nach untergeordneten Zwecken auf, die dann wiederum auf einer weiteren Ebene nach ihren Zielgruppen unterschieden werden.

Nach der These von Thomas Nipperdey haben die Kirchen bei der Entstehung des Verbandswesens keine Vorreiterrolle gespielt – sie hängten sich an die Verbandsentwicklung gewissermassen an, «in der sie ein zentrales Element der modernen Bürgerlichkeit zur Mobilisierung des Kirchenvolks gegen die Säkularisierung und zur Wiederverchristlichung der Gesellschaft sahen».117 Ob nun die Evangelischreformierte Kirche selbst das Vereinsprinzip übernahm und für ihre Zwecke instrumentalisierte, oder ob es die einzelnen Kirchenmitglieder als «Christen und zugleich Bürger» waren, wird vielleicht im Folgenden beantwortet werden können. Kaiser postuliert, die kirchlichen Vereinsgründungen bei den Protestanten basierten primär auf der Initiative von einzelnen Pfarrern, «die im Kirchenregiment entweder keine Rolle spielten» – er führt hier das Beispiel von Johann Hinrich Wichern an – «oder aufgrund des Pfarrerüberschusses gar nie in ein geistliches Amt gelangten».118 Auf jeden Fall stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Kirche und den christlichen Vereinen. Wenn die christlichen Vereinsgründungen keinen bewussten Akt der Kirche darstellten, sondern der Initiative von einzelnen Pfarrern oder Laien überlassen wurde, stellen sich Fragen zur Kontrolle und Konkurrenz der kirchennahen Vereine. Die neuen Gruppierungen konnten sich zu «nebenkirchlichen Institutionen mit eigenem Selbstbewusstsein»119 entwickeln. Die katholische Kirche löste diese Frage durch das Prinzip der Verkirchlichung der Vereine von Anfang an, während den evangelischen Landeskirchen dazu die Autorität fehlte. Wie die Verhältnisse diesbezüglich in Basel waren, wird die Untersuchung zeigen.

In diesem Sinne können die Vereinsakten über Ziele und Zwecke dieser kirchennahen Organisationen Auskunft geben. Sie zeigen weiter, mit welchen Mitteln diese Ziele erreicht werden wollten, ob die Vereinsmitglieder mit ihren Absichten erfolgreich waren oder nicht. Aus den Vereinsakten lässt sich weiter herauslesen, welche Rolle die Pfarrer in den Vereinen gespielt haben. Handelten sie im Auftrag ihrer Kirche, prägten sie die Vereinsausrichtung im Sinne ihrer Institution, oder waren sie frei in der Art und Weise der Mitgestaltung? Weiter kann Auskunft darüber gewonnen werden, wie die Vereinskonjunkturen über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg verliefen. Auch für die Forschungsarbeit mit einem mentalitätsgeschichtlichen Blickwinkel stellen die Vereinsakten eine ideale Quelle dar und versprechen gewinnbringende Aussagen.

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QUELLENLAGE

Zum Vereinswesen im Raum Basel im 19. Jahrhundert haben Brigitte Gysin und Sara Janner unverzichtbare Forschungsarbeit geleistet.120 Für die vorliegende Untersuchung, die im Übrigen nicht zum Ziel hat, das kirchliche Vereinsleben lückenlos zu erfassen und zu kategorisieren, kann auf diese Resultate zurückgegriffen werden. Unter der Rubrik «Religiöse Vereine und Anstalten» verzeichnet das Adressbuch der Stadt Basel sämtliche kirchlichen und kirchennahen Vereine.121 Das seit 1874 im Jahresrhythmus erscheinende Adressbuch erlaubt es, die Entwicklung der religiösen Vereine bis in die Gegenwart kontinuierlich zu verfolgen. Die alphabetisch geordneten Einträge sind in der Regel mit dem Gründungsdatum des Vereins versehen, den Namen und Adressen des Präsidenten, des Aktuars beziehungsweise des Sekretärs oder des Kassiers, sowie Ort, Zeit und Rhythmus der jeweiligen Treffen. Der Führer durch Basels Wohlfahrtseinrichtungen, herausgegeben von der Zentralkommission für Armenpflege und soziale Fürsorge in Basel sowie der in unregelmässigen Zeitabständen von der Verwaltung der Evangelisch-reformierten Kirche verfasste Kirchliche Wegweiser ergänzen das Adressbuch in verschiedener Hinsicht.122 Während ersterer die Einträge zu den Fürsorgeeinrichtungen mit einem kurzen Beschrieb zum Vereinszweck ergänzt, berücksichtigt letzterer die kirchlichen Strukturen (unter anderem die Kirchgemeinden).

Die Akten dieser Vereine – Jahresberichte, Protokolle, Kassabücher et cetera – sind allerdings nur zu Teilen im Staatsarchiv Basel-Stadt aufbewahrt und damit öffentlich zugänglich. Zur Mehrheit befinden oder befanden sich die Vereinsakten wohl in Privatbesitz, allenfalls im Archiv der Evangelisch-reformierten Kirche Basel oder sind verloren gegangen.

Für alle Teile der Untersuchung kann es sinnvoll sein, zusätzliche Quellengrundlagen herbeizuziehen. So insbesondere bei Fragestellungen, die die Kirchenleitung direkt betreffen, oder bei Themen mit politischer Relevanz. So kann auf die Jahresberichte der reformierten Kirchgemeinden zugegriffen werden, welche im schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel einsehbar sind. Die Jahresberichte der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Basel-Stadt legen im Umfang von jeweils 100 bis 120 Seiten Rechenschaft über das Kirchenjahr ab, sowohl in finanzieller und statistischer Hinsicht, wie auch über sämtliche Tätigkeiten ausserhalb der Gottesdienste; so sind darin zum Beispiel auch Angaben zur kirchlichen Arbeitslosenhilfe oder zu politischen Vorstössen enthalten. Die Jahresberichte der Kirche und die kirchlichen Zeitschriften sind vor allem auch deshalb aufschlussreich, weil sich in ihnen die über Jahrzehnte hinweg formulierten, sich verändernden mentalen Zustände über eine lange Dauer nachverfolgen lassen.

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DISKURSTHEORIE/-GESCHICHTE

Die Frage nach den materiellen Trägern der Quellentexte, den Zeitschriften, steht in engem Zusammenhang mit der Analysemethode, in diesem Fall der Diskursanalyse. Roger Chartier hat darauf hingewiesen, dass bereits die Form des Schriftträgers etwas aussagt über das Publikum, das erreicht, und die Wirkung, die erzielt werden wollte. Er hat vorgeschlagen, die Entstehung von Sinn durch die Praktiken der Buchproduktion und der Lektüre zu untersuchen.123 Die Medialität von Diskursen zu berücksichtigen, bedeutet, dass der Sinn und die «Wahrheit» von Texten vom Trägermedium abhängig sind und dass diese Tatsache in der Analyse mitzudenken ist. Autoren und Verleger stellen sich immer bestimmte Leserinnen und Leser vor. Die möglichen Rezeptionsweisen werden deshalb schon vor der Konfrontation des Lesers mit dem Text vorgespurt und beeinflusst, etwa durch die typografische Gestaltung, den Umfang, die Preisgestaltung oder die Vertriebsweise.124

Dass mit der Diskursanalyse im vorliegenden zweiten Teil der Arbeit die Sprache ins Zentrum der historischen Analyse rückt, hat mehrere Gründe: Erstens ist der Protestantismus mehr als alle anderen Glaubensrichtungen eine Konfession des Wortes. Der Textualität des Protestantismus kommt hohe Bedeutung zu. Zweitens kann Sprache auch «als analysierbares Medium von Mentalität» angesehen werden, als «konkrete Äusserung und Zeichensystem, das hinter den Meinungen und Verhaltensweisen liegt.»125 Drittens ist die Sprachanalyse eine Möglichkeit, dem «naiven Verstehen», dem Glauben und Meinen, der klassischen Hermeneutik also, die Erklärung und Analyse voranzustellen.126

Vor der eingehenden Erläuterung dieser drei Punkte ist es hilfreich, zuerst die im Folgenden verwendeten Begriffskonzepte von «Diskurs» und «Diskursanalyse» herzuleiten. Dass diese Begriffe in der vorliegenden Arbeit nicht vermieden werden können, wie das ihre mittlerweile beliebige Verwendung in Wissenschaft und Literatur nahelegen könnte, hat mit dem Mangel an Alternativen zu tun.127 Zwar deckt man im Deutschen mit «Text», «Diskussion» oder «Debatte» einen Grossteil der Bedeutungen des Wortes «Diskurs» ab, aber eine Diskursanalyse ist mehr als die Darstellung eines Redegefechts, «die Lektüre und Interpretation eines Textes oder die Rekonstruktion einer Debatte».128 Damit sei zur Klärung auch gleich gesagt und vorweggenommen, dass in der vorliegenden Arbeit der Terminus «Diskurs» nicht im Sinne von Text, Diskussion oder Debatte verwendet wird, sondern nur im Zusammenhang mit einer im Folgenden noch genauer zu definierenden institutionalisierten Redeweise im Sinn und in der weiterentwickelten Tradition von Michel Foucault.

Gareth Stedman Jones hat in seinem Buch zur Chartistenbewegung in England, Languages of Class, den Begriff «Diskursanalyse» der Einfachheit halber durch «Sprachanalyse» ersetzt, um den missverständlichen und (zu) häufig gebrauchten Terminus zu vermeiden.129 Der Preis dafür ist allerdings «eine verwirrende Wagheit.»130 Wenn mangels begrifflicher Klärung und Definition alles nur noch Sprache ist, kann die Diskursanalyse keine über die traditionelle Ideengeschichte hinaus reichende Erkenntnis mehr leisten.

«Diskurs» besinnt sich in der Tat auf die zentrale Bedeutung der Sprache für die (Geschichts-)Wissenschaft. Nimmt man mit den Vertretern der historischen Diskursanalyse an, dass die Wirklichkeit im Wesentlichen durch die Sprache vermittelt wird, muss sich die Geschichtswissenschaft konsequenterweise vornehmlich dem sprachlichen Niederschlag der Erfahrungen der Menschen nähern. Für die Geschichtswissenschaft, die, abgesehen von der Kunstgeschichte und der «oral history», in ihrer Arbeit zum allergrössten Teil verschriftlichte Äusserungen ins Zentrum stellt, ist es die Sprache, die die Wirklichkeit konstituiert: «Die sinnhafte, die soziale Realität ist eine unmittelbare oder eine in Sedimenten abgelagerte mittelbare Wirkung der von Sprechern verwendeten sprachlichen oder allgemeiner der semiotischen Strukturen [...].»131 Die Tatsache, dass die von Historikern behauptete Wirklichkeit eine konstruierte ist, wie das bereits Reinhart Koselleck vor 30 Jahren knapp bemerkt hat, stand (neben anderen, zum Beispiel methodischen Gründen) einer breiten Akzeptanz der Diskursanalyse wohl lange Zeit im Weg.132 Philipp Sarasin spricht hier von einem auf einem Selbstmissverständnis basierenden Abwehrreflex der Zunft.133

Dabei handelt es sich bei der Diskursanalyse nicht etwa um eine Geschichte der Sprache. Weil Geschichte immer in Form von Zeichensystemen vermittelt (und damit konstruiert) wird, macht sie vielmehr die Sinnhaftigkeit dieser Konstruktion zum Gegenstand der Untersuchung. Die Diskursanalyse fragt schlicht: Wie entsteht der Sinn?134 Auf den dazugehörigen Kontext verzichtet die Diskursanalyse aber keineswegs, denn «sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen werden immer in konkreten gesellschaftlichen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen vollzogen. Die zu untersuchenden Texte sind immer in einen bestimmten Kontext eingebettet.»135 Damit hat auch die klassische Hermeneutik weiterhin ihre Berechtigung – ohne kontextuelle Untersuchung, wer zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort und in welcher Form welche Aussagen macht, kann kein Textkorpus zusammengestellt werden.136 Die Diskursanalyse rekonstruiert, wie ein Text seine Bedeutung(en) erzeugt, ohne bereits zu wissen, was der Autor eigentlich sagen wollte. Ihr Gewinn gegenüber der klassischen Hermeneutik liegt darin, «das forschungspraktische Apriori, Texte nicht hermeneutisch auf der Basis von Traditionszusammenhängen und ‹Vorurteilen› zu verstehen». Stattdessen analysiert sie «die Struktur ihrer Signifikanten» und ermöglicht es, auch in «scheinbar eindeutigen Texten Subtexte und möglicherweise gegenläufigen Sinn zu vermuten».137 Mit Gareth Stedman Jones wird also die These vertreten, «dass eine von a-priorischen Auffassungen befreite Interpretation der Sprache und der Politik es ermöglicht, eine weit engere und genauere Beziehung zwischen Ideologie und Handeln aufzuzeigen», als dies mit herkömmlichen Verfahren möglich wäre.138 Man kann auch sagen, dass das naive Verstehen, «das dort Kontinuitäten schafft, wo es darum ginge, die Brüche wahrzunehmen»,139 den Kern der diskurstheoretischen Kritik an der Geschichtswissenschaft darstellt.

Heute sind mindestens zwei konkurrierende Konzepte des Diskursbegriffs im Umlauf. Auf der einen Seite steht der Diskursbegriff, der von Jürgen Habermas in den 1970er-Jahren geprägt worden ist und seither vor allem im deutschen Sprachraum Verbreitung fand. Habermas versteht unter Diskurs das rationale, herrschaftsfreie Gespräch zwischen aufgeklärten und gleichberechtigten Subjekten, bei dem allein die besseren Argumente entscheiden und einen Konsens herbeiführen.140 Habermas’ Akzent liegt auf der Ethik des Diskurses und der Konsensbildung. Diesem philosophischen Konzept gegenüber steht das sozialwissenschaftliche von Michel Foucault, das vor allem von ihm, basierend auf den Vorarbeiten der französischen Annales-Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch, in den 1960er-Jahren geprägt worden ist.141 Als Diskurse bezeichnet er nicht nur Texte, die man hermeneutisch ergründen kann, sondern institutionalisierte Redeweisen, deren Regeln und Mechanismen zu ermitteln beziehungsweise ermittelbar sind. Er zielt auf konkrete empirische Untersuchungen, während bei Habermas ein Ideal im Zentrum steht, das keine empirische Forschung eröffnet.142

Diskursanalyse kann auch als «Hermeneutik zweiter Ordnung» bezeichnet werden.143 Der Vorteil der historischen Diskursanalyse liegt darin, dass Probleme der Hermeneutik, des «Verstehens» von Texten, durch die Konzentration auf die Positivität von Aussagen umgangen werden können. Grundvoraussetzung für einen Diskurs ist eine kommunikative Situation. Er regelt die Möglichkeiten von Aussagen zu einem bestimmten Gegenstand. Der kritische Impuls der Diskursgeschichte besteht darin zu zeigen, wie «Wahrheiten» jeweils historisch vorgebracht und in gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Zusammenhängen wirksam wurden.144 Dabei gilt es immer, auf die «Möglichkeitsbedingungen» zu achten, wie dies Roland Barthes formuliert hat.145 Das heisst, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer sozialen Gruppe nur ganz bestimmte Aussagen gemacht werden konnten, das Gesagte also gewissen Regeln und Grenzen unterworfen war.146 Landwehr spricht von «Aussagefeldern, welche regulieren, was gedacht, gesagt und getan werden kann».147 Die Durchsetzung von Deutungen erschliesst sich nach Landwehr «[...] trotz aller institutionellen und personellen Komponenten – vor allem aus der Binnenlogik und damit aus der Verlaufsgeschichte eines Diskurses».148

Diese Definition führt zu einem zentralen Problem der historischen Diskursanalyse, der Rolle des Subjekts. Hier gilt es, das Diskursverständnis von Foucault genauer zu erläutern, um es anschliessend für das Feld der Historie handhabbar zu machen. Nach Foucault sind Diskurse «institutionalisierte bzw. institutionalisierbare Redeweisen, deren Regeln und Funktionsmechanismen gleichsam positiv zu ermitteln sind».149 Foucault geht es also um die Positivität des Diskurses. Er fragt nicht danach, was mit dem Gesagten eigentlich gemeint gewesen sei, sondern ihn interessiert die Tatsache der Existenz von Aussagen, warum ausgerechnet sie und keine anderen zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle auftauchen. Diskurs kann man demnach als Differenz bezeichnen zwischen dem, was jemand zu einer bestimmten Zeit nach den Regeln der Grammatik und Logik korrekterweise sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt worden ist.150 In der Folge lehnt er auch die Frage nach der Person, die «hinter der Aussage steht», ab: «Die Frage ist also nicht, wer spricht, sondern von wo aus gesprochen wird.»151 Hier kann man dem Foucaultschen Konzept der Diskursanalyse berechtigterweise vorwerfen, sie erhebe den Diskurs zum eigentlichen Subjekt der Geschichte und marginalisiere damit die historischen Akteure bis zur Unkenntlichkeit. So meinte beispielsweise Thomas Mergel, dass die «umfassende ‹Textifizierung› menschlichen Handelns und sozialer Wirklichkeiten [...] auf eine Anonymisierung der Geschichte im Sinne des Wirkens dunkler Mächte und auf die Abschaffung des Subjekts in seiner sozialen Wirklichkeit» hinauslaufe. «Handelnde Menschen kommen in einer Geschichte als ‹Text› nicht vor; die Worte haben ihre Aufgabe übernommen.»152 Einen Ausweg aus dieser zwar stringenten, aber nicht ohne Korrektur in die Praxis des Historikers umzusetzende Theorie eröffnet Philipp Sarasin, der als Alternative zur Aufgabe des Subjekts zwei Möglichkeiten sieht, dieses zu denken: «[...] man glaubt an seine Fähigkeit, in einem nicht-trivialen Sinne bewusst zu sprechen oder zu handeln sowie sich über die letzten Motive seines Handelns Klarheit zu verschaffen – und betrachtet daher seine Handlungen und Äusserungen durchweg als Strategien. [...] Oder schliesslich, man verfügt über eine Theorie des dezentrierten Subjekts, die zumindest zur Vorsicht gemahnen bzw. perspektivisch zeigt, dass Menschen eben gerade nicht und nie restlos auf ihre rational rekonstruierbaren Interessen und Wertideen reduzierbar sind.»153 Damit kann man zeigen, dass Subjekte sich dennoch, trotz ihrer Dezentriertheit durch die Diskurse, als eigenständige Realität erfassen lassen. Doch um diese Realität zu erkennen, müssen die Diskurse zuerst analysiert werden.154 Historische Diskursanalyse, wie sie hier verstanden wird, untersucht demnach die Wahrnehmung von Wirklichkeit, oder mit Achim Landwehr: «[...] die Sachverhalte, die zu einer bestimmten Zeit in ihrer sprachlichen und gesellschaftlichen Vermittlung – und eine andere Art der Aneignung von Welt ist nicht denkbar – als gegeben anerkannt werden.»155 Die zentralen Fragen nach den Aussagen des Diskurses lassen sich über den Weg der rhetorischen Figuren, stilistischen Mittel und Argumentationsmuster stellen: «Welche [...] Struktur offenbaren die Aussagen? Welches Wissen wird vorausgesetzt? Welche Kategorisierungen, Kausalitäten, Wertehierarchien lassen die Aussagen erkennen? Welches Wissen wird in den Aussagen unterdrückt, nicht berücksichtigt? In welchen Zusammenhängen tauchen die Aussagen auf? Welche sich widerstreitenden Aussagen lassen sich in verschiedenen Texten beobachten? Wer versucht mit welchen sprachlichen Mitteln bestimmte Aussagen zu platzieren?»156 Wie es methodisch möglich wird, Antworten zu diesen Fragen aus dem Text herauszupräparieren, soll im Folgenden gezeigt werden.

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