Читать книгу: «Innenansichten eines Niedergangs», страница 2

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KAPITEL I
VORAUSSETZUNGEN


1

BEGRIFFE

1 – 1

MENTALITÄTEN IN DER KIRCHEN- UND RELIGIONSGESCHICHTE

1 – 2

IDEOLOGIE, LEBENSWELT, MILIEU

1 – 3

PROTESTANTISMUS UND MILIEU

1 – 4

RELIGION

1 – 4 – 1

KIRCHE UND RELIGION

1 – 5

SÄKULARISIERUNG, DECHRISTIANISIERUNG, ENTKIRCHLICHUNG


2

QUELLEN

2 – 1

KIRCHLICHE ZEITSCHRIFTEN

2 – 1 – 1

SCHWEIZERISCHES PROTESTANTENBLATT

2 – 1 – 2

DER KIRCHENFREUND

2 – 1 – 3

CHRISTLICHER VOLKSBOTE/CHRISTLICHER VOLKSFREUND

2 – 1 – 4

KIRCHENBLATT FÜR DIE REFORMIERTE SCHWEIZ

2 – 1 – 5

BASLER KIRCHENBOTE

2 – 1 – 6

EVANGELISCHE VOLKSZEITUNG

2 – 2

TAGESPRESSE

2 – 3

VEREINSAKTEN

2 – 3 – 1

QUELLENLAGE


3

METHODEN

3 – 1

DISKURSTHEORIE/-GESCHICHTE

3 – 1 – 1

METHODISCHES VORGEHEN

3 – 2

STRUKTUR- UND AKTEURSGESCHICHTE


« ES IST BESTÜRZEND ZU SEHEN, WO DER PULS WIRKLICH SCHLÄGT UND NACH NEUER FÜHLUNG MIT DEM LEBEN DER KIRCHE VERLANGT: AUF DEM ‹MARKT› DER MASSENMEDIEN, AN DEN FERIENORTEN DER STADTFLÜCHTIGEN STÄDTER, ABER AUCH IN DEN IMMER GRÖSSER WERDENDEN QUARTIEREN DER EINSAMEN. 1 »

1

1 – 1

MENTALITÄTEN IN DER KIRCHEN- UND RELIGIONSGESCHICHTE

Seit den 1980er-Jahren findet vor allem in Deutschland eine andauernde Diskussion über die akzeptierten Aufgaben und Möglichkeiten der Mentalitätsgeschichte statt. Der von Ulrich Raulff herausgegebene Sammelband «Mentalitäten-Geschichte» wirkt seit 1987 als Standortbestimmung und Referenzpunkt zum Konzept der Mentalitätsgeschichte, die versammelten Aufsätze widerspiegelten die Bandbreite der Forschung, sowohl geografisch als auch thematisch.2 Das Diktum von Peter Burke, wonach «Mentalitätengeschichte den begrifflichen Raum ausfüllt, der zwischen einer eng ausgelegten Ideengeschichte auf der einen und der Sozialgeschichte auf der anderen Seite klafft», legt das Schwergewicht auf die Biegsamkeit des Konzepts.3 Ist sie nun eher einem ideen- oder eher einem sozialgeschichtlichen Ansatz verpflichtet? Oder stellt die Mentalitätsgeschichte gar ein eigenes unverzichtbares Theorieinstrument dar?4 Johann M. Müller entwertete in einer Kritik an der Methode diese Vielfalt und Flexibilität als Beliebigkeit.5 Was nicht feststeht, ist flexibel und kann, je nach Bedürfnis, an- und eingepasst werden – für Jacques Le Goff machte gerade diese Unbestimmtheit den Reiz der Mentalitätsgeschichte aus, sie sei «précisément dans son imprécision».6

Bislang hielten sich Autoren, welche mit der Mentalitätsgeschichte arbeiteten, in der Regel nicht allzu lange mit theoretischen Fragen auf, sondern erprobten ihre ganz unterschiedlichen Konzepte gleich in der Praxis. Ausnahmen davon sind Arbeiten von Peter Dinzelbacher, Volker Sellin, Peter Schöttler und in jüngster Zeit auch jene Frank-Michael Kuhlemanns.7

Lange mangelte es an einer klaren Abgrenzung von konkurrierenden und sich überschneidenden Ansätzen wie «Intellectual History», «Ideengeschichte» oder «Psycho-Historie», und es gibt nach wie vor kein feststehendes Konzept einer Mentalitätsgeschichte. Mangels theoretischer Vorarbeiten, wurde und wird der Mentalitätsbegriff häufig in einer metaphorischen Form verwendet, zum Beispiel als «geistig-seelische Disposition», «Lebensrichtung»,8 «spezifische, umweltgebundene Ausrichtung des Denkens und Fühlens»,9 «Prägung» oder «gruppentypische Vorstellungsgeflechte».10 Inzwischen wird der Begriff und das mit ihm einhergehende Konzept einer Revision unterzogen, die vor allem eine Präzisierung ist. Es wird versucht, den diffusen Begriff zu einer systematisierten Form zu führen und ihm ein tragfähiges theoretisches Fundament zu verleihen. Insbesondere Frank-Michael Kuhlemann fordert eine reflektiertere Verwendung der Begriffe und fördert gleichzeitig mit einer tiefer gehenden Differenzierung die Möglichkeiten zur Nutzung des Konzepts Mentalitätsgeschichte. Er propagiert die Unterscheidung zwischen einem funktionalen und einem substanziellen Mentalitätsbegriff einerseits und zwischen Makro- und Mikromentalität andererseits.11 Die Mentalität im formalen oder funktionellen Sinn stelle eine Art «Transmissionsriemen» dar, zwischen einer gegebenen Lebenswelt und einer sich daraus ergebenden spezifischen Lebenshaltung, die etwa durch Erziehung oder Sozialisation bestimmt wird. Dagegen bedeutet der substanzielle Begriff (der «materiale Inhalt») nach Kuhlemann «Deutungen und Positionsbeschreibungen, kulturelle Muster, politische und weltanschauliche Einstellungen, bei denen die Grenzziehung zur Ideologie problematisch ist».12 Dieser analytische Kunstgriff ist allerdings vor allem für sozialisationstheoretisch fundierte Untersuchungen im Bereich des Bildungs- und Erziehungswesens sowie, im Falle der religiösen Mentalitätsbildung, für die zahlreichen Sozialisationsinstanzen innerhalb der konfessionellen Milieus wie Sonntagsschulen, Kinderchöre, Jungfrauenvereine oder Jugendverbände sinnvoll. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der Zusammenhang zwischen sozialisatorischen Bedingungen und den späteren Einstellungen von Menschen nur hypothetisch begründet werden kann. Quellen geben in der Regel nur über die Wirkung von Dispositionen, nicht aber über die Disposition selber Auskunft, letztere erhält man nur über eine Interpretationsleistung.13 Betont man hingegen schwergewichtig den substanziellen Mentalitätsbegriff, kann man, «über die begrenzte Perspektive psychologisierender Ansätze hinaus», sinnvoll über Mentalität reden.14

Makromentalität im Kuhlemannschen Sinne bezieht sich beispielsweise «auf nationale oder religiöse Unterschiede innerhalb einer Epoche», Mikromentalitäten dagegen können zum Beispiel zusätzliche Differenzierungen im Protestantismus (reformiert, «positiv» etc.) beschreiben.15

Einen etwas griffigeren Definitionsvorschlag bietet Rolf Schieder: «Mentalitäten sind Dispositionen einer Kollektivität, die dafür sorgen, dass die Wirklichkeitsdeutungen dieser Kollektivität selbstverständlich erscheinen und ihr Verhalten als sinnvoll erlebt wird.»16 Unter Dispositionen versteht Schieder im Rückgriff auf Theodor Geiger «Wahrnehmungsraster, mit deren Hilfe der Mensch seine Welt ordnet».17 Mentalitäten können deshalb nicht unmittelbar (gegenständlich) wahrgenommen, sondern nur rekonstruiert werden.

1 – 2

IDEOLOGIE, LEBENSWELT, MILIEU

Zur Bestimmung eines sinnvollen und vor allem nutzbaren Mentalitätsbegriffs gehört die Frage nach der geeigneten Methode. Begriffliche Unbestimmtheiten und Theoriedefizite sind der historischen Analyse nicht förderlich. Insofern ist der Ansatz der französischen Geschichtsschreibung zu kritisieren, die unter dem Mantel einer «athmosphère mentale» als einer Art «gesellschaftlichem Klebstoff» vieles miteinander verknüpfte und voneinander abhängig machte, das eigentlich zu differenzieren wäre und so dem Vorwurf der konzeptuellen Vagheit der Mentalitätsgeschichte Vorschub leistete.18 Gleichzeitig ist die heutige Form der Mentalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum wissenschaftsgeschichtlich stark mit den Vorarbeiten der französischen Geschichtsforschung seit der Annales-Schule verbunden.19 Inzwischen hat sich die französische Mentalitätsgeschichte stark differenziert: Seit den 1960er-Jahren sind unter ihrem Vorzeichen etwa Arbeiten zur Geschichte der Kindheit, zur Französischen Revolution oder zur Kulturgeschichte des Geruchs entstanden.20

Während nun nach der französischen Auffassung von Mentalitätsgeschichte auch tiefer greifende politische Ereignisse keine direkten, auf jeden Fall keine schnellen Auswirkungen auf die Wahrnehmung, Deutung und Bewertung der erlebten Wirklichkeit haben, stellt sich zum Beispiel Detlef Pollack gegen dieses Verständnis. Mentalitäten seien keine «sozialen Letztgrössen»,21 die jede gesellschaftliche Veränderung überdauern – sie müssten in Beziehung gesetzt werden zu den sozialen und politischen Bedingungen, und das Wechselspiel zwischen Mentalitätsund Ereignisgeschichte müsse berücksichtigt werden. Dennoch: Die politische Geschichtsschreibung pflegt ihren Nachdruck auf epochale Zeiten zu legen, eine stärker an mentalen Prägungen orientierte Geschichtswissenschaft fragt nach den Gründen, warum sich Menschen, Nationen oder gesellschaftliche Gruppen so und nicht anders verhielten.22 Diese historische Betrachtungsweise wehrt sich gegen die problematische Zerlegung der Zeitgeschichte in kleine und kleinste Abschnitte und kann dadurch Kontinuitäten religiös-konfessioneller Grundüberzeugungen deutlich machen, was insbesondere in der kirchlichen Zeitgeschichte seine Bedeutung hat.

Besonders mit Blick auf die «religiöse Prägung» finde man die sogenannten «Gefängnisse der langen Dauer».23 Insofern ist die Konzentration auf die Mentalitätsgeschichte für die kirchliche Zeitgeschichte von erheblicher Bedeutung. An diesem Punkt setzten die kritischen Einwände und das Unbehagen am Konzept der «Mentalitätsgeschichte» an, wie sie unter anderem Peter Burke und Volker Sellin diskutiert haben.24 Es bestehe die Gefahr, so ein Vorwurf, die Mentalitäten zu vergegenständlichen und sie als «Gefängnisse» zu betrachten, aus denen die Individuen nicht auszubrechen vermögen. Weiter besteht der Hang zu einer Homogenisierung der Meinungen durch die Mentalitätshistoriker; eine solche Homogenisierung ist aber nicht Bestandteil des mentalitätshistorischen Ansatzes. Mentalitätsthemen sind keinesfalls die gemeinsame Übereinstimmung beteiligter Diskutanten in allen möglichen Fragen, sondern bedeuten gemeinsame «points of reference».25

Die manifesten Schwierigkeiten in der Abgrenzung von Lebenswelt, Ideologie und Mentalität, die bereits Theodor Geiger, Volker Sellin oder Michel Vovelle beschäftigt haben, lassen sich überwinden, indem man den Begriff der Ideologie, also das «bewusste Denken», in das Begriffskonzept Mentalität integriert. Sofern Ideen, Ideologien und Theorien zur «Lebenswelt» der zu untersuchenden Gruppe gehören, können sie «als handlungsleitende Maximen die Mentalität durchaus beeinflussen, ohne selber Mentalität zu sein.»26 Kuhlemann befürwortet die Aufhebung der künstlichen Barriere zwischen einer weit verstandenen Sozialgeschichte der Ideen und einer ebenso offenen Mentalitätsgeschichte, sofern das entscheidende Kriterium der Mentalität, der «lebensweltliche Bezug», berücksichtigt wird. Sozialgeschichte der Ideen bedeutet folglich in dieser Definition die Verbindung der Ideenwelt mit dem sozialen Handeln.27 Sellin schliesslich bezeichnet die Lebenswelt als eine «vortheoretische Sphäre, in die Phänomene nach ihrer Lebensbedeutung erfahren und unmittelbar beurteilt werden [...]».28

Die Religions- und Kirchengeschichte mit den Mitteln der Mentalitätsgeschichte zu analysieren, bietet sich an: Ihre Bezüge zur Mentalität scheinen sehr eng zu sein. Ebenso wie die Religiosität widerspiegelt auch die Mentalität fest verankerte Glaubensüberzeugungen und selbstverständliche Handlungsanleitungen zur Lebensführung, zu Positionsbeschreibungen oder kulturellen Mustern. Der Zusammenhang zwischen einer Idee und ihrer Trägergruppe, «die ihr Verhalten danach ausrichtet», muss nach Lepsius hinreichend stark sein, um durchreflektierte Ideen zu einem Mentalitätsthema werden zu lassen.29 Im Falle der Religion ergibt sich «die existenzielle Verankerung der Idee durch ihre Internalisierung und ihre Sanktionierung durch die Gläubigen von selbst».30 «Vielleicht», so vermutet Ulrich Raulff folgerichtig, «ist das ‹Mentale› selbst nur eine moderne Metapher für jene primäre Stellung zur Welt, die im christlichen Vokabular ‹Glauben› heisst.»31

Die Religionsforschung hat sich allerdings lange Zeit vor allem auf die grossen Theologen und ihre Theologien konzentriert und weniger auf die breite Bevölkerung und kollektive religiöse Einstellungen. Mit Ausnahme von Karl-Wilhelm Dahms Studie zur sozialen Position und politischen Mentalität evangelischer Pfarrer in der Zwischenkriegszeit aus dem Jahr 196532 sind im deutschen Sprachraum erst seit Mitte der 1980er-Jahre mentalitätsgeschichtliche Studien zu religiösen Gesellschaften entstanden.33 Das von Frank-Michael Kuhlemann zusammen mit Olaf Blaschke erarbeitete Konzept eines konzentrischen Modells von Mentalitäten und Milieus, mit den Pfarrern als Meinungsmacher in der Mitte, den sie umgebenden Kirchenparteien, den lokalen Vereinen und dem übergreifenden Verbandsprotestantismus, kann für die vorliegende Forschungsarbeit sehr hilfreich sein.34 Mentalitätsgeschichte wird hier in Anlehnung an Peter Burke und Frank-Michael Kuhlemann durch vier charakteristische Merkmale definiert: Erstens durch ihre Betonung der kollektiven anstelle der individuellen Einstellungen, zweitens durch den Nachdruck auf unausgesprochene und unbewusste Annahmen, drittens durch ihr Interesse nicht nur für den Inhalt von Meinungen, sondern auch für deren Struktur, für Kategorien, Metaphern und Symbole, das heisst dafür, wie die Leute denken, und nicht nur dafür, was sie denken.35 Viertens können schliesslich auch Ideen, Ideologien und Theorien eine Mentalität beeinflussen, sofern sie zur Lebenswelt der zu untersuchenden Gruppe gehören; sie müssen Teil der «Logik der Handlungsstruktur» und der «Sinnkonstruktion» sein, um auf die Mentalität Einfluss zu nehmen.36 Die Verknüpfung von Mentalität und Lebenswelt kann in der sozial- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Religionsforschung durch Einbezug der konfessionellen Milieus hergestellt werden, insbesondere durch die Kirche und die kirchlichen Vereine.37

Einige analytische Stolpersteine stellen sich dennoch. Bei der Untersuchung mentaler Kommunikationsräume, wie es die konfessionellen Zeitungen und Zeitschriften, die Jahresberichte und Vereinsakten sind, muss beachtet werden, dass sich die Mentalität der sich äussernden Gruppe nur rhetorisch verfremdet zeigt. Das für die Mentalität postulierte, geäusserte Unbewusste wird mit rhetorischen Sprachmitteln und persönlichen Stilisierungen gebrochen, insbesondere auch in den Auseinandersetzungen des kirchenpolitischen Tagesgeschehens. Unter anderem im Bewusstsein dieser rhetorischen Besonderheiten und mit dem Willen, die Sprache ins Zentrum der Untersuchung zu rücken und diese gewinnbringend zu analysieren, ist die historische Diskursanalyse entwickelt worden. Sie findet konsequenterweise auch in der vorliegenden Untersuchung ihre Verwendung.

Weiter gilt es zu beachten, dass die Mentalität, nach der in den Zeitschriftenartikeln gesucht wird, diejenige einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht ist: die Mentalität der Pfarrer, der Kirchenvorstände und der Theologen. Insofern handelt es sich um eine Elite, deren Verhalten nicht automatisch repräsentativ ist für eine umfassende evangelisch-protestantische Mentalität. Damit am Ende von der möglicherweise vorhandenen protestantischen Mentalität gesprochen werden kann, ist es notwendig, auch die andere protestantische Gesellschaftsschicht in die Untersuchung miteinzubeziehen – die Gruppe der Kirchgänger, Zeitschriftenleser und Vereinsmitglieder. Diese Voraussetzung wird in der vorliegenden Arbeit soweit erfüllt, wie die Analyse der protestantischen Vereinsakten Aussagen zu den Laienmitgliedern möglich machen.

1 – 3

PROTESTANTISMUS UND MILIEU

Nachdem der einschlägige Forschungsstand zur Geschichte des Protestantismus lange Zeit personen- und theologiegeschichtlich orientiert war, findet sich in der jüngeren sozialgeschichtlichen Protestantismusforschung die Einsicht, dass sich nicht nur im Katholizismus, sondern auch im Protestantismus Milieustrukturen herausgebildet haben. Basierend auf dem wegweisenden Aufsatz von M. Rainer Lepsius über die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, der die Unterscheidung von vier sozialmoralischen Milieus herausarbeitet (katholisch, bürgerlich-protestantisch, konservativ und sozialistisch), wird im deutschen Sprachraum seit den 1980er-Jahren verstärkt zum protestantischen Milieu geforscht.38

Die Frage nach der Existenz eines oder mehrerer protestantischer Milieus hat insbesondere für die Regionalgeschichte eminente Bedeutung. Liesse sich im überwiegend protestantischen Basel ein Milieu nachweisen, dessen Mitglieder sich durch ihre Kirchenbindung, ihre Mitgliedschaft in einem evangelisch-reformierten Verein, ihre Prägung durch das protestantische Deutungssystem und ihr damit verbundenes soziales, kulturelles und politisches Verhalten charakterisierten, präsentierte sich nicht nur die Sozialgeschichte der Stadt unter einem veränderten Licht – dem Milieu spricht Kuhlemann die Eigenschaft eines für die politische Mobilisierung wichtigen soziokulturellen Reservoirs zu. Die soziale Gestaltungskraft des Protestantismus in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, seine mögliche Marginalisierung in den Umbruchsjahren ab 1960, liessen sich neu beurteilen. Möglicherweise liessen sich verschiedene regionale «Mikro- und Mesomilieus»39 zu einem überregionalen, nationalen protestantischen «Makromilieu» bündeln oder, analog zu dem von Altermatt umschriebenen Durchschnittskatholik, ein «Durchschnittsprotestant» zeichnen.40

Einig ist sich die Forschung darüber, dass neben dem Katholizismus auch im Protestantismus milieuartige Strukturen existiert haben. Über die Homogenität dieser Strukturen, ihre Anzahl und allfällige Abgrenzungen zueinander bestehen hingegen unterschiedliche Auffassungen. Während Günter Brakelmann in seiner Untersuchung drei Typen von «milieuprotestantischer Kirchlichkeit» ausmacht, die sich weitgehend aufgrund ihrer sozialpolitischen Anschauungen und ihres damit korrespondierenden unterschiedlichen Wahlverhaltens manifestieren, sieht Thomas Nipperdey in seiner Darstellung zur Religionsentwicklung im Kaiserreich eine Tendenz zur nationalen Vereinheitlichung des Protestantismus im Sinne eines «innerkirchlichen Pluralismus».41 Dieser Auffassung widerspricht Gangolf Hübinger deutlich. Er zeichnet eine scharfe Fraktionierung des Protestantismus in Konservative und Liberale nach und vertritt die These einer «innerprotestantischen Versäulung» bis zu den «Ekelschranken», wie sie sonst nur zwischen Katholiken und Protestanten zu finden waren, und nach der es «selbst in existenziellen Situationen und protestantischen Verbänden keine Kommunikation und erst recht keine Zusammenarbeit» gegeben haben soll.42 Frank-Michael Kuhlemann wiederum kommt in seiner Untersuchung zum protestantischen Milieu in Baden zum Schluss, dass sich dort zwar zwei protestantische Teilmilieus zum Teil scharf voneinander abgegrenzt haben, die verbindenden Elemente innerhalb des Protestantismus aber so stark waren, dass von einem übergeordneten protestantischen Milieu gesprochen werden kann.43 Der These einer zunehmenden Polarisierung des Protestantismus bis hin zu den «Ekelschranken» widerspricht Kuhlemann.44

Die Herausgeber der hier zitierten Studie «Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen» schlagen das Konzept «Milieu» unter anderem deshalb vor, um den Problemen, die mit der Anwendung der Modernisierungstheorie auf die Religions- und Kirchengeschichte entstehen, aus dem Weg zu gehen beziehungsweise sie zu lösen. Mit der Idee der konstanten Modernisierung, einer steten linearen Entwicklung der Gesellschaft hin zu mehr Rationalität und ihrer konstruierten Dichotomie zwischen Tradition und Moderne, lassen sich religiöse und kirchliche Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert nur ungenügend erklären.45 Blaschke und Kuhlemann folgen Lepsius’ Definition des «sozialmoralischen Milieus» als «soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden».46 Sie beziehen den Begriff indessen «primär auf die gesellschaftlich-kulturelle und weniger auf die politische Sphäre».47 Wie bei Lepsius, verstehen sie die Formierung von Milieus als Reaktion auf die Moderne, aber wenn Kuhlemann konzediert, dass die Milieubildung «der entscheidende gesellschaftliche Strukturprozess des Protestantismus im Wandel von einer religiös dominierten Staats- und Gesellschaftsordnung zur Provinzialität der Religion in der Moderne [sei]»,48 so dreht er mit dieser These das Konzept von Lepsius ins Gegenteil: Bei Letzterem war der Niedergang der Milieus Beweis für die Modernisierung der Gesellschaft, bei Kuhlemann ist die Existenz von Milieus der Beweis für die Modernisierung.49

Damit sei angedeutet, dass auch der Gebrauch des Milieukonzepts nicht alle Schwierigkeiten einer modernisierungstheoretisch untermauerten Religionsgeschichte umschiffen kann. Nicht ohne Grund ist das Milieukonzept in jüngster Zeit in die Kritik geraten. Insbesondere die Lepsiussche Interpretation der Milieuauflösung durch fortschreitende Industrialisierung, wachsende Mobilität und soziale Differenzierung trägt die heute aktuelle Kritik am Milieuansatz bereits in sich.50 So weist Benjamin Ziemann auf die «konzeptionelle Ratlosigkeit» des Milieukonzepts hin, im Hinblick auf den «unwiderruflichen Abschied vom Milieu seit 1970 ...».51 In der Tat bietet das Milieukonzept nach seiner Anwendung auf die Zeit des Niedergangs der Vereine nach 1945 keine fruchtbare Perspektive mehr für die Erforschung der Transformation der Religion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.52 Die «übergrosse Aufmerksamkeit», welche die Milieuhistoriker den qualitativen Parametern schenken, ist für Ziemann ein weiteres Problem dieses Forschungsansatzes, «weil diese Daten selbst ein Produkt des [...] Milieus sind», das mit statistischen Erhebungen seine Selbstbeschreibung zu untermauern suchte, umso mehr, als die kirchliche Statistik ein Produkt der Milieuträger ist und wohl von diesen auch benutzt wurde, «mit künstlich aufgebauschten Zahlen ein potemkinsches Dorf der Frömmigkeit in ihrer Gemeinde zu errichten».53

Der Nachweis eines protestantischen Milieus im Raum Basel würde vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nicht überraschen, ist aber nicht das primäre Ziel dieser Forschungsarbeit. Natürlich kann auch die Untersuchung eines Milieus im Niedergang ertragreich sein. Die im Verhältnis zur Erforschung des Vereins- und Milieukatholizismus grossen Defizite in der sozial- und kulturhistorischen Erschliessung der zahlreichen protestantischen Vereine sowie des breiten religiösen Zeitschriften- und Literaturmarktes haben dazu geführt, dass die Debatte über Dechristianisierung und Entkirchlichung einem allzu engen, Institutionen-zentrierten Konzept der Kirche verpflichtet geblieben ist. Hier bietet der Milieuansatz weiterhin eine wichtige und wünschenswerte Alternative.

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9783039198832
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